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DER HAUCH DES EISES IST GEWICHEN

aus DER SPIEGEL 18/1964

(siehe Titelbild)

In Ludwig Erhards Amtsmiene hat sich der Unmut über eine Böses planende Umwelt mit spitzen Winkeln eingetragen, die sein rundes, glattes Sonntagskind-Gesicht zunehmend zerfurchen und ihm zuweilen einen Zug der Verbissenheit verleihen, als ob er einer Welt voller Teufel trutzen müßte.

Der Bundeskanzler gehört zu jenen nur scheinbar dickhäutigen und dickfelligen Pykniker-Typen, die anerkennnung brauchen. Kritik und Ablehnung erhöhen bei ihnen Puls und Blutdruck und erzeugen ein Angstgefühl, das nur durch einige Tropfen vom Herz-Gold des Lobes zu kurieren ist.

Schon die kühle Brise, die Erhard ab und zu ins Gesicht bläst, seit er die Kommandobrücke im Palais Schaumburg betreten hat, reicht aus, um sein

seelisches Gleichgewicht zu stören. Und da die rettende Medizin auch von seinen besorgten Pflegern nicht immer gleich beschafft werden kann, greift er manchmal zu einem probaten Hausmittel. Adenauer half in solchen Fällen die Menschenverachtung; Erhard hat die Erinnerung an seine großen Taten in der Vergangenheit auf Flaschen gezogen. Immer wenn ein Sturm der Kritik die schwache Flamme seines Optimismus auszulöschen droht, entkorkt er eine Flasche Erhard-Spätlese, Originalabfüllung, Jahrgang 1948, und läßt den Inhalt, süß wie Likör, über seine Zunge rinnen.

Bei jedem öffentlichen Auftritt Erhards in letzter Zeit, sei es im Bundestag oder auf Wahlkundgebungen, wiederholte sich dieser Vorgang. Seine Gesichtszüge entspannen sich dann, die Wangen blähen sich rosig und rund; und der kleine Mund dehnt sich in breitem Behagen.

Weniger missionarisch und selbstpreisend klingt es, wenn er statt über den Wirtschaftsminister vom Bundeskanzler Erhard spricht, von seinen Taten in den letzten 200 Tagen auf jenem Sessel, den er sich mehr erduldet als erkämpft hat. Zu der Kritik des SPD-Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler, seine vier bisherigen Europa-Reisen seien ergebnislos geblieben, bemerkte er nur: »Das ist doch dumm! Man kann dazu wirklich nichts anderes sagen.«

Und auf die Frage, wie weit er den von ihm propagierten neuen Stil bereits durchgesetzt habe, erwiderte er: »Ich kreiere keinen neuen Stil wie eine neue Mode, sondern ich bin ich selbst; ich lebe so, wie es meiner Art gemäß ist. Das ist der beste Stil. Aber ich darf sagen, daß es jetzt im Kabinett kollegialer zugeht und daß es mehr Diskussion gibt.«

Daß es bereits stilbildend ist, wenn Erhard »schlechthin« (eines seiner Lieblingsworte) er selbst ist, kann kaum bezweifelt werden. Seit Ludwig Erhard im Palais Schaumburg regiert, hat sich die Art des Hauses beträchtlich verändert. Es hat seine Unnahbarkeit verloren; die Bannmeile der Furcht und des Schrekkens, die zu Adenauers und Globkes Zeiten um dieses Haus lag, ist verschwunden.

Ungenannt bleiben wollende Staatssekretäre und Minister, zu denen wohl auch der frühere Wirtschaftsminister Erhard gehören würde, falls er darüber heute spräche, versichern, daß sie damals immer ein »Gefühl der Beklemmung« zu überwinden hatten, wenn sie das Palais betraten, daß sie »den Atem vorher anhielten« oder einen »Hauch von Eiseskälte« verspürten.

Als Adenauer und Globke auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen, glich das weiße Haus am Rhein - vor hundert Jahren von dem als Millionär in die Heimat zurückgekehrten Deutschamerikaner William Löschigk in einem Mischstil zwischen Koloniallandhaus und Rheinschloß erbaut - einer uneinnehmbaren feindlichen Festung, aus der auf jeden Nähertretenden, der nicht mit einer weißen Fahne kam, ohne Anruf scharf geschossen wurde.

Heute mutet es eher wie ein zum Teil geschleiftes Fort an, in dessen innerstem Bezirk die wenigen Mannen der Brigade Erhard wachsam an der Zugbrücke stehen, jeden einlassen, der sich ohne erkennbare unfreundliche Absichten nähert, aber stets bereit, die Verbindung zur Außenwelt zu trennen, wenn die Vorhut einer feindlichen Übermacht in Sicht kommt. Der neue Festungskommandant hat, seiner »Art gemäß«, die bisherige Strategie des Präventivschlages abgeschafft und durch die Defensive ersetzt.

Aber nicht nur die Beziehungen zur Bonner Umwelt sind entschärft, auch die Richtlinien-Ausgabe geht in humaneren Formen vor sich. Man dürfe sich freilich nicht vorstellen, daß unter Adenauer zwanzig. Sklaven im Kabinettssaal gesessen hätten, warnt Staatssekretär Karl-Günther von Hase, der häufig an den Kabinettssitzungen teilnimmt, und Justizminister Ewald Bucher sekundiert ihm, Adenauer habe die Kabinettssitzungen nie diktatorisch geleitet oder seinen Ministern ungeduldig das Wort abgeschnitten.

Indessen behandelte Adenauer seine Minister manchmal wie ein Prinzipal seine Lehrlinge. In den letzten Monaten seiner Amtszeit häuften sich die Geplänkel zwischen ihm und Außenminister Schröder. Hatte Schröder einmal nicht zugehört, sondern uninteressiert Akten gelesen, giftete Adenauer: »Sie hätten nicht in Ihren Akten lesen sollen, während ich sprach, Herr Schröder.«

Konrad Adenauer begann fast jede Kabinettssitzung mit einer längeren Suada über den Ernst der Lage, seine Freundschaft zu de Gaulle und die Notwendigkeit der deutsch-französischen Aussöhnung. Wegen ihres gleichbleibenden Inhalts nannte Justizminister Bucher diese Monologe die »Wasserstandsmeldungen«.

Kein Minister wagte jedoch, den Bundeskanzler zu unterbrechen.

Mit Adenauers Prolog und der anschließenden allgemeinen Aussprache gingen fast immer ein bis zwei Stunden verloren. Dabei war zweifellos auch Taktik, denn die Minister waren inzwischen so ermüdet und auf ein pünktliches Ende der Sitzung erpicht, daß sie nichts dagegen hatten, wenn Adenauer die Punkte der. Tagesordnung schnell und nach kurzer Aussprache abwickelte.

Spürte Adenauer, daß er bei einer Vorlage mit seiner Meinung nicht durchdrang, dann setzte er sich nicht der Gefahr aus, vom Kabinett überstimmt zu werden. Er ließ das Thema elegant verschwinden wie ein Zauberer das Kaninchen im Zylinder; um es bei günstigerer Gelegenheit und nach besserer Vorbereitung wieder hervorzuholen.

Ludwig Erhard ist solcher Tricks völlig unfähig. Deshalb macht er aus der Not eine Tugend und einen neuen Stil, den Stil der Wahrhaftigkeit, den er mit hohem moralischem Anspruch und Worten des Abscheus für alles Vorhergegangene gegen den »Stil« Adenauers absetzt. Und den er auch praktiziert. Als unter dem- demokratischen Lack des Vertriebenenministers Hans - Krüger braune Orginalfarbe sichtbar wurde, zögerte Erhard nicht, auf die weitere Mitarbeit des Kabinettskollegen zu verzichten.

Seinem Gefühl für Anstand und Fairneß entspricht es, mit seinen Ministern zu diskutieren. Er läßt sich von ihnen überzeugen und ändert auch während der Beratung seine Meinung. Die FDP-Minister betrachtet er nicht wie Adenauer als lästige, gerade noch geduldete Gäste; denen man, wenn man könnte, den Stuhl vor die Tür setzen würde.

Adenauer pflegte bei allen zwischen den Koalitionspartnern strittigen Themen, wie dem Sozialpaket oder dein Röhrenembargo, Vorbesprechungen mit den CDU/CSU-Ministern abzuhalten und dabei sogar die Rollen für die Diskussion im Kabinett zu verteilen, um den Widerstand der FDP so schnell wie möglich zu brechen.

Unter Erhard gibt es solche Fraktionsbildungen im Kabinett nicht. Er grollt der FDP zwar manchmal, aber er überfährt sie nicht. Seine Ehrlichkeit, aber auch sein geringeres Maß an Autokratie hat die FDP-Minister aus einem Zwiespalt befreit, der unter Adenauer ihre Persönlichkeit zu verbiegen drohte. Sie waren zwar gegen Adenauer, gegen seine Politik und gegen seinen Stil, wagten es aber aus Furcht vor seiner Autorität und List und aus Ehrfurcht vor seinem Alter in seiner Gegenwart nicht laut zu sagen.

In Erhards gemütvollerem Tabakskollegium - die Aufhebung des Rauchverbots interessiert außer Erhard aber nur die Raucher Schwarz, Dahlgrün, Heck und Bücher - darf sich jeder ungehemmt entfalten. Minister, die früher schon viel redeten, wie Verkehrsminister Seebohm und Wohnungsbauminister Lücke, ergreifen nun noch häufiger das Wort, und halten es noch länger fest. Selbst Staatssekretäre, die in Vertretung ihrer Minister an den Sitzungen teilnehmen, sprechen jetzt ungefragt, was bei Adenauer nur selten vorkam.

Adenauer-Anhänger wie Sonderminister Krone leiten daraus den Vorwurf ab, unter Erhard verliefen die Kabinettssitzungen planlos und dauerten länger. Erhards Freunde halten entgegen, daß jetzt zwar jeder Tagesordnungspunkt eingehender diskutiert, insgesamt aber Zeit gespart werde, weil Erhard auf lange Monologe verzichte und sich auf eine knappe Information des Kabinetts zu Beginn jeder Sitzung beschränke. Den Vorwurf der Planlosigkeit wollen sie nur bei Themen gelten lassen, die Erhard wenig interessieren. Da zeige er sich auch weniger gut vorbereitet als Adenauer.

Daß es unter Erhard insgesamt weniger aufreibend und langweiliger zugeht, finden aber Freund und Feind. Das Kabinett gleicht nun einem Karpfenteich, in dem den Hechten das Räubern verboten ist, während Adenauer die Jagd auf Karpfen stets anführte. Nur Schröder, Höcherl und Bucher erlauben sich manchmal noch, »etwas Betrieb reinzubringen«, wie es ein Minister formulierte. Erhard liebt es dagegen nicht, andere hochzunehmen oder über ihre persönlichen Schwächen zu witzeln. Statt dessen hat er die Geburtstage seiner Minister auf dem Terminkalender stehen und vergißt nicht zu gratulieren. Bei Adenauer waren solche menschlichen Aufmerksamkeiten immer nur Zufall.

Einen winzigen Zug hat Erhard allerdings mit Adenauer gemeinsam: die Vorliebe für einen geregelten Tagesablauf. Erhard fällt dessen Einhaltung aber viel schwerer als seinem Vorgänger. Adenauer ging spät zu Bett und stand bereits morgens um sechs wieder auf, weil er nicht mehr schlafen konnte. Bis er um halb zehn ins Palais Schaumburg kam, hatte er bereits einen Berg Akten aufgearbeitet. Auf Erhard übt das Kopfkissen dagegen eine »magische Anziehung« aus. Er legt sich in der Regel zwischen zehn und elf ins Bett, versucht dann noch zu lesen, schläft aber meistens gleich ein und würde bis spät in den Morgen schlafen, wenn er sich nicht um halb acht wecken ließe.

Das Schlafbedürfnis erklärt auch seine

Vorliebe für Reisen mit dem Zug. Statt früh aufzustehen und zum Flugzeug zu hetzen, nimmt er lieber am Abend vorher einen Schlafwagen, ruht ungestört vom Rattern der Räder und dem Krach auf den Bahnhöfen, und wacht am nächsten Morgen am Bestimmungsort ausgeruht auf.

Wenn er morgens um neun im Palais Schaumburg erscheint, hat er aber noch keineswegs den Schlaf aus den Gliedern geschüttelt. In den ersten Morgenstunden gilt er bei seinen Mitarbeitern als grantig und wenig ansprechbar. Zu seiner Verstimmung kann aber auch die Lektüre der Zeitungen beigetragen haben, die ihm mit dem Nachrichten-Spiegel des Bundespresseamtes an den Frühstückstisch geliefert werden. Im Gegensatz zu Adenauer, der nicht gerne Zeitung las und stets Max Halbes Spruch zitierte, daß man sich nicht über Zeitungen ärgern und morgen eine neue kaufen solle, wenn sie einem heute nicht gefalle, vertieft sich Erhard sehr aufmerksam in die großen Tageszeitungen, nimmt sie ernst - und ärgert sich, wie einst Kennedy.

Er fühlt sich von jeder Kritik an seiner Politik und seinem Stil empfindlich getroffen. Dabei regt er sich über eine elegant formulierte Zurechtweisung in einer hochgestochenen Zeitschrift mit kleiner Auflage weniger auf als über einen unfreundlichen Leserbrief in der Bild«-Zeitung. Er meint dann gleich, sein Bildnis solle wieder verunziert werden, nachdem er es gerade von dem Schmutz gereinigt hat, den der Bilderschänder Adenauer mit pathologischer Boshaftigkeit darauf geworfen hatte.

Während der morgendlichen Auftauzeit von neun bis zehn bekommt den Bundeskanzler kein Besucher zu Gesicht. Diese Stunde ist Gesprächen mit den engsten Mitarbeitern reserviert. Erhard empfängt sie nicht gemeinsam zu einer »Morgenandacht«, sondern bittet jeden einzeln in sein Arbeitszimmer.

An diesem Zimmer hat er wenig verändert. Er sitzt an demselben Platz wie Adenauer, nur an einem anderen Schreibtisch. Adenauer hatte sich nach seinen Plänen von einem Rhöndorfer Tischler einen Schreibtisch mit Geheimfächern anfertigen lassen und das zum übrigen Mobiliar (nicht ganz stilechtes Chippendale) passende Schreibmöbel in den Keller verbannt.

Da Adenauer sein privates schlankbeiniges Regierungspult ins Bundeshaus mitgenommen hat, ließ Erhard das leicht verschrammte Stilmöbel wieder aufstellen. Es steht an der breitesten Stelle des langgestreckten Arbeitszimmers, das sich am unteren Ende zu einem sechseckigen Erker weitet. Die meistens aufgeräumte Schreibtischplatte zieren Souvenirs aus den Vereinigten Staaten: der goldene Zigarrenkasten, den ihm Kennedy mit einer Widmung zugedacht hatte und den ihm nach Kennedys Ermordung Präsident Johnson überreichte. Bei seinem Besuch auf Johnsons Ranch in Texas erhielt Erhard passend zum Kasten eine goldene Uhr und eine goldene Schreibgarnitur.

Von den zwei Füllhaltern ist einer mit blauer Tinte gefüllt, für Unterschriften, und einer mit grüner, der Farbe, mit der allein Kanzler und Minister Bemerkungen auf Akten schreiben dürfen.

Von seinem Sessel aus, dessen grau, braun und grün durchwirkter Bezugsstoff bereits leicht zerschlissen wirkt, fällt der Blick des Bundeskanzlers auf einen großen Gummibaum, der schon zu Adenauers Zeiten das oberste Ende des Raumes zierte, und auf die Sitzgruppe, einer Couch und vier Sesseln, die mit demselben Stoff wie der Schreibtischsessel bezogen sind. Ebenfalls von seinem Vorgänger hat Erhard die beiden kostbaren Perserteppiche übernommen, die der damalige Ministerialdirektor Globke bei der Einrichtung des Palais Schaumburg besonders günstig erworben hatte. Auf dem besten Stück sind in leuchtenden Farben Jagdszenen dargestellt.

Als einzigen eigenen Zimmerschmuck hat Erhard einen holländischen Kabinettschrank (Renaissance) aus Palisanderholz mitgebracht, den er vor 14 Jahren für 2000 Mark kaufte und heute für das Zehnfache veräußern könnte. Geöffnet darf der Schrank allerdings, nicht werden, weit sonst das kostbare Furnier reißt. Ebenfalls holländischen Ursprungs sind die beiden Landschaftsgemälde im Arbeitszimmer, Leibgaben eines Kölner Museums. Auch sie sind noch von Globke ausgesucht worden.

Entsetzt würde Globke wohl sein, wenn er wüßte, mit welch leichter Hand Erhard die Andenken-Photos auf der Truhe hinter seinem Schreibtisch auswechselt. Einen festen Platz haben dort nur Erhards Doktorvater Franz Oppenheimer und Blockadebrecher Lucius D. Clay. Die handsignierten Photos Adenauers, des Papstes und des britischen Premiers Douglas-Home, die kürzlich noch das Zimmer zierten, sind, wenn auch nur vorübergehend, ersetzt durch Photos, die den schwedischen Ministerpräsidenten Tage Erlander und Erhard mit Präsident Johnson zeigen.

Ein an das Arbeitszimmer anschließender Ruheraum mit Radio und Fernsehtruhe und ein Waschraum mit Toilette - dezent durch eine Tapetentür erreichbar - vervollständigen den Bereich des Bundeskanzlers. Erhard benutzt indessen den Ruheraum kaum. Mittags fährt er pünktlich gegen eins in sein Einfamilienhaus auf dem Venusberg, um das von Hausgehilfin Maria angerichtete Mittagessen gemeinsam mit seiner Frau einzunehmen. Zu seinen Lieblingsgerichten gehört übrigens keineswegs Pichelsteiner Fleisch, wie immer wieder behauptet wird. Besonders gern ißt er trockenen Schinken und gebackenes Hirn. Nach dem Essen läßt er sich dann in einem abgeschabten Ledersessel nieder und liest die Mappe mit Presseausschnitten, die ihm jeden Tag vom Bundespresseamt geliefert wird. Einen Mittagsschlaf hält er, nie.

Nachmittags um drei setzt er das Regierungsprogramm fort. Im Unterschied zu Adenauer dirigiert er das Haus nicht nur von den drei Telephonen, die auf einem Aktenbock neben seinem Schreibtisch stehen; ein schwarzes, an das zehn Teilnehmer angeschlossen sind; darunter seine engsten Mitarbeiter, die Minister Schröder und von Hassel sowie Staatssekretär Carstens; ein weißes für die Kabinettskonferenzschaltung und ein graues für Gespräche über die Amtsleitung. Er geht auch in die Zimmer seiner Mitarbeiter, erscheint etwa in der Tür seines persönlichen Referenten Dankmar Seibt und fragt, Besucher im Zimmer des Referenten nicht bemerkend: »Herr Seibt, wie sind meine Termine nun?«

Der Terminkalender ist für Seibt, der Erhard in gleicher Funktion schon im Wirtschaftsministerium diente, ein nervtötendes Puzzle-Spiel, denn Erhard empfängt mehr Besucher als Adenauer, der sich häufig nur auf die protokollarisch unabweisbaren Besucher beschränkte. Dafür liest er weniger Akten als sein Vorgänger, der, aus eigener Erfahrung als, Kölner Oberbürgermeister und durch seinen Bürovorsteher Globke angetrieben, die Regierungsgeschäfte nach dem alten preußischen Grundsatz führte, daß nichts gilt, was nicht auf dem Papier steht. Adenauer ließ keine der kurzgefaßten Notizen aus, die ihm seine Referenten zu jedem Gesetzentwurf und jeder Kabinettsvorlage anfertigten.

Auch Erhard bekommt solche Überblicke, liest sie aber nicht immer, da er flüchtiges, diagonales Lesen verabscheut. Dazu wäre er aber gezwungen, wenn er täglich neben allem anderen noch die rund hundert Seiten lesen. würde, die ihm als Telegramme, Akten und Notizen auf den Schreibtisch gelegt werden. Was er liest, nimmt er allerdings schnell und gründlich auf und behält es jahrelang im Gedächtnis. Bei komplizierteren Themen bevorzugt, er auch das Gespräch, weil er gern zwischendurch Fragen stellt. Über die Notstandsgesetze ließ er sich von fünf Experten anderthalb Stunden lang Vortrag Ludwig, Erhard fährt in der Regel eine Stunde früher nach Hause als sein Vorgänger Adenauer, der selten vor acht aus dem Palais Schaumburg ging. Aber statt oder für Erhard hält sein Staatssekretär Ludger Westrick bis acht und länger Wache. Westrick hat sich gleich im ersten Stock neben Erhard in Adenauers ehemaligem Ruheraum einquartiert: In Globkes Arbeitszimmer im Erdgeschoß residiert nun der zweitwichtigste Mann der »Brigade Erhard«, Ministerialdirektor Karl Hohmann, der dem Kanzlerbüro vorsteht.

Mit dem Umzug Wollte Westrick keineswegs dem Geist Globkes entfliehen, sondern nur dem Kanzler näher sein. Er bewundert seinen Vorgänger sogar als einen »sehr vernünftigen Menschen«. Als durchaus vernünftig betrachtet er wohl auch Globkes Schweigsamkeit. Er hat sich das in düsterer schwarz-brauner Manier gemalte Lenbach-Bild von Moltke, dem Schweiger, das in Globkes Zimmer als Vorbild hing, mit in seinen Arbeitsraum genommen. Da hängt es nun als Mahnung zur Schweigsamkeit bei Journalisten-Besuch, Westrick wirft diese Bemerkung leicht hin, vergißt die Mahnung aber offensichtlich gleich wieder, denn Schweigsamkeit aus Prinzip geht ihm wider die Natur. Er ist ein urbaner, aufgeschlossener, durchaus mitteilsamer Mensch. Und beileibe kein Aktenkrämer und Kompetenzheiliger.

Daß Erhard auch ohne Westrick regieren könnte, ist schwer vorstellbar. Der Staatssekretär ist nicht nur sein engster Vertrauter,und Berater; er ist nicht nur eine Art Nebenkanzler, sondern eine notwendige Ergänzung zu Erhards Persönlichkeit.

Da, wo Erhard kontaktschwach und fast schüchtern ist, findet Westrick leicht die Einstellung zu anderen Menschen; da, wo Erhard ein weltfremder und zerstreuter Professor ist, bleibt Westrick immer realistisch; da, wo Erhard großzügig und arglos ist, reagiert Westrick wachsam und hart; und da, wo Erhard unentschlossen ist, drängt Westrick auf Entscheidung.

Und Erhard weiß: daß er Westrick braucht. Obwohl sein Staatssekretär zwei Jahre älter ist (69), wirkt er jünger und vitaler als der 67jährige Bundeskanzler. Seine gestraffte Figur verrät den Sportler, der kantige Kopf mit dem zurückgekämmten schütteren grauen Haar die Willensstärke, und die lebhaften, scharf beobachtenden graublauen Augen lassen erkennen, daß Westrick so entscheidet, wie er es selbst wünscht: mit Herz und Verstand. Erhard hat Westrick bisher auf alle Auslandsreisen mitgenommen mit Ausnahme der zweiten Fahrt nach Frankreich und der Reise nach Holland. Er hat ihm freigestellt, unangemeldet und ohne zu fragen, an allen Gesprächen teilzunehmen, die er führt; ein Vorrecht, das Globke bei Adenauer nicht genoß. Der Staatssekretär macht von diesem Recht fast immer Gebrauch, um zu verhindern, daß Erhards Arglosigkeit ausgenutzt wird. Er hält auch Kontakt zu Adenauer und dessen Vertrautem Krone und fängt manchen Unmut auf, der sich bei beiden gelegentlich über Erhard sammelt. Seine Erfahrung als Verhandlungstaktiker erwarb sich der westfälische Professorensohn, der erst 1951 Staatssekretär im Wirtschaftsministerium wurde, als Industrie-Manager.

In dreizehnjähriger Zusammenarbeit im Wirtschaftsministerium hat Westrick alle Gedanken, Wünsche und Schwächen Erhards kennengelernt. Das befähigt ihn heute, Erhard im Kabinett oder bei wichtigen Beratungen zu vertreten und vorherzusagen, wie sich Erhard entscheiden wird, freilich manchmal nicht ohne Westricks Unterstützung. Daß Erhard vor Weihnachten dem vom Berliner Senat ausgehandelten Passierscheinabkommen zustimmte, war nicht zuletzt auf das Drängen Westricks zurückzuführen, der mit »Herz und Verstand« entschieden hatte. Heute ist er allerdings auch der Meinung, daß Pankow das humanitäre Entgegenkommen der Bundesregierung ausgenutzt hat.

Wachhund, Schutzengel und von der Verfassung nicht bevollmächtigterStellvertreter des Bundeskanzlers zugleich zu sein, ist eine Aufgäbe, die Feinde macht. Bereits Globke hatte viele Widersacher, obwohl er geringeren Einfluß auf Adenauer hatte als Westrick auf Erhard. Auch Ludger Westrick kann sich der Ehre vieler Feinde nicht erwehren. Um so mehr, als er über allen politischen Beschäftigungen die administrativen vernachlässigen muß. Sie reizen ihn auch weniger. Die Kontrolle des dem Kanzleramt unterstehenden Gehlen-Dienstes und der Lektüre seiner Berichte widmet er weniger Zeit und Aufmerksamkeit als sein Vorgänger Globke. Er ist kein bürokratischer Aktenwolf und Halbautomat wie Adenauers Schweiger. Das trägt dazu bei, daß sich auch der Apparat des Kanzleramtes vernachlässigt fühlt und Erhards vier Mitarbeiter, Staatssekretär Westrick, Kanzleivorsteher Hohmann, persönlicher Referent Seibt und Pressereferent Bebermeyer, als eine Art Fremdkörper im Getriebe empfindet, das bisher gut geölt lief und von oben exakt geschaltet wurde.

Die Loyalität seiner engsten Mitarbeiter lohnt der empfindsame Ludwig Erhard durch eine rückhaltlose Unterstützung ihrer Wünsche und eine enge persönliche Bindung. Wenn ihm das Regierungsgeschäft wieder einmal zu sehr mitgenommen hat, pflegt er Westrick zu einer Flasche Wein und zum Anhören von Beethovens IX. Symphonie einzuladen, denn schließlich gebe es noch etwas anderes auf der Welt. Dabei erzählt er gerne, daß er in seiner Jugend Dirigent werden wollte.

Von derartiger Gefühlsaufwallung war Adenauer völlig frei. Als bei einem gemeinsamen Umtrunk mit Krone und Globke etwas viel Alkohol floß und Globke entgegen seiner Gewohnheit nicht mehr gerade und sicher weggehen konnte, spottete Adenauer nur ungerührt: »So menschlich habe ich den Herrn Globke noch nie gesehen.«

Aber was man dem alternden Adenauer nachsagte, daß er sich von den Gesichtern seiner Umgebung nicht mehr trennen und an neue schwer gewöhnen könne, trifft ebenso auf Erhard zu. Auch im Bundeskanzleramt ist sein Beraterstab kaum größer als im Wirtschaftsministerium. Von den Männern aus der Wissenschaft, mit denen er sich umgeben wollte, ist im Grunde nur Professor Müller-Armack übriggeblieben, der ihn früher schon beriet. Das Material für seine Reden beschafft und bereitet auch jetzt Karl Hohmann auf, überläßt den letzten Schliff aber dem Bundeskanzler, da er trotz siebenjähriger Tätigkeit an der Seite Erhards nicht dessen Altfränkisch gelernt hat. Für diese Aufgabe wird noch ein einfühlsamer Ghostwriter gesucht, der den Stil Erhards treffen, nicht aber intellektuelle Reden wie Kennedys Feder Ted Sorensen aufsetzen soll. Der Bundeskanzler möchte auch in Zukunft bleiben, was er, um mit seinen Worten zu reden, in der Vergangenheit war: er selber.

Partei und Fraktion der CDU, zu denen Erhard regelmäßige, aber keineswegs herzliche Kontakte unterhält, wollen ihn daran auch nicht hindern, zumal sie ihn 1965 dringend brauchen. Sie möchten auch keinen intellektuellen Kanzler, aber einen, der überzeugender von der Zukunft als von der Vergangenheit spricht. Junge alerte Funktionäre in der CDU-Bundesgeschäftsstelle reden nach 200 Tagen Kanzlerschaft Ludwig Erhards bereits ungeniert davon, für die CDU komme es nur darauf an, daß Erhard »den Transport bis 1965« überstehe.

Kanzler Erhard im Palais Schaumburg: »ich bin ich selbst, das ist der beste Stil«

Kabinettssitzung unter Erhard: Für vier Minister Rauch-Erlaubnis

Erhard-Haus auf dem Venusberg: Lieber gebackenes Hirn als Pichelsteiner Fleisch

Adenauer-Staatssekretär Globke

Das Bild des Schweigers vom Vorraum ...

... ins Arbeitszimmer umgehängt: Erhard-Mitarbeiter Westrick, Hohmann, Seibt

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