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»Der ist der einzige«

Unauffällig, aber zielstrebig rückt CDU/CSU-Fraktionschef Schäuble nach vorn, als Alternative zum Kanzler. Immer häufiger zwingt er Kohl seinen Willen auf. Doch Schäuble plant keinen Putsch; er sieht im FDP-Kollegen Solms und im CSU-Minister Seehofer die Stützen der Koalition auch nach der Wahl 1994.
aus DER SPIEGEL 6/1993

Der Ordensmann, ein Getreuer Helmut Kohls, fand kein gutes Wort für den Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Das Unbehagen an der CDU, schreibt Pater Basilius Streithofen in seinem neuen Buch über den Niedergang der Kanzlerpartei, lasse sich nicht »durch das hektische Hin- und Heragieren des Wolfgang Schäuble beseitigen«. Oder: _____« Der Fraktionsvorsitzende und die älteren Minister im » _____« Kabinett Kohl - Norbert Blüm ausgenommen - wirken » _____« verbraucht und dürfen langsam ihrer verdienten Pension » _____« entgegensehen*. »

Der Dominikaner weissagt: Helmut Kohl werde »der letzte CDU-Kanzler und Parteivorsitzende dieses Jahrhunderts sein«. Dann ein boshafter Seitenhieb gegen das querschnittsgelähmte Attentatsopfer im Rollstuhl: Der künftige CDU-Chef und Kanzlerkandidat müsse zuallererst folgende Führungseigenschaften _(* Basilius Streithofen: »Ist die CDU ) _(noch zu retten? Bilanz und Perspektive ) _(einer Volkspartei«. F. A. Herbig Verlag, ) _(München; 176 Seiten; 24 Mark. ) besitzen: »eine robuste Gesundheit als elementare Voraussetzung, Partei und Staat führen zu können«.

Doch Schäuble muß sich nicht grämen, im Gegenteil. Streithofen ist Kostgänger im Küchenkabinett Kohls. Mal mit, mal ohne Kutte pflegt er die Kanzlervertraute Juliane Weber zum Schlemmen in Bonner Spesenlokale zu begleiten. In seinem Werk gibt er wieder, wie in Kohls Umgebung geredet und gedacht wird.

Wann immer in der Vergangenheit die engsten Vertrauten des Pfälzers jemanden als Gefahr für den Chef - und die eigenen Pfründen - gesehen hatten, wurde gestichelt und gestänkert, so jetzt wieder bei Schäuble. Kohl und Konsorten nehmen den Fraktionsvorsitzenden als Konkurrenten ernst. Zu Recht.

Die Unionsparteien haben wieder eine Alternative zu Kohl. Sie sind nicht länger auf Gedeih und Verderb an diesen Kanzler gekettet.

Das Gerede des amtierenden Kanzlers, er könne die Brocken hinschmeißen, wenn nicht alles nach Gusto laufe, hat seinen Schrecken verloren. Im Regierungslager glimmt wieder Hoffnung auf, daß 1994 doch noch nicht Schluß sein müsse mit dieser Koalition.

Kohl nennt Schäuble nicht mehr zusammen mit Volker Rühe als möglichen Kronprinzen. Inzwischen sagt er über einen Kanzler Schäuble: »Der kann es. Der kann es auch werden.« Zwar noch nicht jetzt, und das wolle Schäuble selber nicht. »Aber, der ist der einzige, der es überhaupt werden kann.«

Während das Denkmal des Kanzlers der Einheit bröckelt, stellt Schäuble unter Beweis, daß er das Zeug zum Regierungschef hat. Wenn einer in den letzten Monaten die Koalition in Gang gehalten hat, dann er. Anders als der Bauch-Politiker Kohl ist der Fraktionschef ein methodisch veranlagter Mensch. Er pflege, so eines seiner Lieblingsworte, »vom Ende her« zu denken und seine Strategien entsprechend anzulegen.

Mit Geduld und Geschick brachte Schäuble den Asylkompromiß samt Änderung des Grundgesetzes zustande und setzte in den Verhandlungen mit FDP und SPD im wesentlichen seine Vorstellungen durch. Beim Hickhack um die Pflegeversicherung war es Schäuble, der die Sozialdemokraten auf seine Seite zog und dann den Liberalen das Modell der Christenunion aufzwang.

Beim Solidarpakt wollte Schäuble sich ursprünglich raushalten ("Das soll jetzt mal die Regierung machen"). Kohl aber verhedderte sich bald. Er wurde öffentlich vom Stuttgarter Ministerpräsidenten Erwin Teufel getadelt, daß seine Gesprächsführung nichts tauge. Schäuble mußte wieder ran.

Im CDU-Präsidium wie in der Unionsfraktion führte Schäuble das Regiment, als es um das Sparpaket und die Steuererhöhungen ging. Im Präsidium hatte der Kanzler noch einen seiner berüchtigt langweiligen Lagevorträge mit der Warnung geschlossen, »wenn das gegen die Wand fährt, dann gute Nacht«. Schäuble übernahm es, die streitbereiten CDU-Ministerpräsidenten in Sachgespräche zu ziehen.

In der Fraktion saß Kohl mit rotem Kopf dabei und sagte nichts. Seine Minister beschimpften sich vor aller Ohren, ost- und westdeutsche Parteichristen gerieten sich in die Haare. Schäuble ordnete das Chaos. Er schickte Kohls Familienministerin Hannelore Rönsch vor die Tür, wo sie gemeinsam mit Referenten und Experten der Fraktion bessere Vorschläge zur künftigen Familienpolitik ausarbeiten sollte.

Zunder hatte der Kanzler im Januar bei Bekanntgabe der Kabinettsumbildung bekommen. Als er den entlassenen Forschungsminister Heinz Riesenhuber wegen dessen »guter Arbeit« würdigte, hagelte es Zwischenrufe. »Was soll das?« »Warum muß er dann gehen?« Als Kohl dann den Namen des Nachfolgers Matthias Wissmann bekanntgab, erntete er Gelächter.

Schlecht für den Kanzler, der nach der Verfassung die Minister beruft und entläßt, daß der Wechsel Riesenhuber/ Wissmann nicht seine freie Entscheidung gewesen war. Der Verantwortliche saß still neben ihm - Schäuble.

Der Fraktionschef hatte in die Kabinettsumbildung eingegriffen - eine neue Erfahrung für Kohl, der sich früher niemals in seine Personalplanung hineinreden ließ. Schäuble zwang Kohl den Landsmann Wissmann auf, aus Proporzgründen, damit das »Ländle« wieder am Kabinettstisch vertreten ist.

An Schäuble kam Kohl auch nicht vorbei, als er mit dem Gedanken umging, den unbotmäßigen Umweltminister Klaus Töpfer umzusetzen oder zu feuern. Schäuble hielt die Hand über Töpfer. Eines Tages könnte Töpfer seinem Förderer, sollte der zu Höherem berufen werden, im Amt des Fraktionsvorsitzenden nachfolgen.

Schäuble will Kanzler werden, und den Parteivorsitz will er dazu. Eine Ämtertrennung, wie sie jetzt der Parteivize Heinz Eggert aus Sachsen ins Gespräch gebracht hat, kommt für Schäuble nicht in Frage. Er weiß, daß jeder Kanzler die Autorität des Parteichefs braucht. Daß er beide Ämter schaffen könnte, steht für Schäuble fest, der jetzt schon bis zu 16 Stunden im Rollstuhl sitzt.

Politik ist für den Behinderten zum zentralen Lebensinhalt geworden. Hier kann er den Gesunden zeigen, daß er ihnen dennoch überlegen ist. Ein Wahlkampfprofi wie Heiner Geißler ist überzeugt, die CDU könne auch mit Schäuble Wahlen gewinnen. Daß der Badener in Ausübung seines Politikerberufs zum Krüppel geschossen worden sei, daß er zäh und ohne Wehleidigkeit den Kampf gegen die Behinderung aufgenommen habe, verschaffe ihm den Respekt auch jener Konservativen, die sich starke Führungspersönlichkeiten wünschen. Solche Wähler könne Schäuble dank seiner Durchsetzungskraft und seiner Fähigkeit zum strategischen Denken gewinnen.

Schäuble will nicht gegen Kohl putschen. Er weiß, dies würde die Partei zerreißen. Er will sich bitten lassen und mit breiter Zustimmung ganz nach oben getragen werden.

Die Art, wie Heiner Geißler, Lothar Späth und Ernst Albrecht 1989 gegen Kohl konspirierten, hielt Schäuble für falsch. Er hatte sich, so bekannte er damals, fest vorgenommen, Kohl zum Aufhören aufzufordern, wenn es mit der Union weiter bergab gegangen und nicht das Wunder der Einheit geschehen wäre. Denn, so Schäuble, seine erste Loyalität gelte nicht der Person Kohl, sondern der Partei.

Heute hat Schäuble längst das Wispern unter den Abgeordneten der Koalition gehört, die Lage sei schlimmer als im Sommer ''89. Sie fürchten, bei der Bundestagswahl ''94 werde die Union mit einem Spitzenmann Kohl unter die 40 Prozent gedrückt; sie meinen, nur ein wirklicher Neuanfang, ein neuer Mann mit neuer Mannschaft, könne die Koalition noch einmal hochreißen. Denn das CDU/CSU-FDP-Bündnis habe seinen Vorrat an Gemeinsamkeiten noch nicht verzehrt.

Die Unruhe unter den Abgeordneten bekam auch die FDP-Führung zu spüren. In der FDP-Bundestagsfraktion brach ein Aufstand gegen den scheidenden Vorsitzenden Otto Graf Lambsdorff und sogar gegen den Ehrenvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher los. Die Parlamentarier verbaten es sich, durch die alten Herren mit ihren Präsidiumsbeschlüssen vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Die Fraktion sei das politisch entscheidende Gremium.

Den Liberalen paßte auch nicht, wie Lambsdorff und Genscher mit dem designierten Parteichef Klaus Kinkel umsprangen. Die beiden hatten den kommenden Mann nicht zum vorigen Koalitionsgespräch mit der Union mitgenommen. Die Koalitionsrunde aber, nicht das Kabinett, ist der Ort, an dem die politisch gewichtigen Entscheidungen fallen.

Auch in der CSU brodelt es. Unter den Bonner Christsozialen wird das Murren über den Bundesfinanzminister Theo Waigel, der mit den Finanzproblemen der deutschen Einheit nicht fertig wird, laut. Vor offener Kritik, gar dem Rausschmiß aus dem Kabinett bewahre ihn einstweilen nur sein Amt als CSU-Parteivorsitzender.

Wenn der bayerische Ministerpräsident Max Streibl über die Amigo-Affäre stürzen sollte, muß sich Kohl einen neuen Finanzminister suchen. Denn Waigel, so erwartet Kohl, werde sich dann in München als Nachfolger Streibls bewerben. Dabei wäre nach Kohls Ansicht keineswegs sicher, daß Waigel über einen Gegenkandidaten Edmund Stoiber, bisher Innenminister in Bayern, siegt. Trete Waigel aber nicht an und überlasse er Stoiber den Ministerpräsidentenstuhl, werde der neue starke Mann der CSU schon bald Waigel auch den Parteivorsitz streitig machen.

Auch in Schäubles Lager wird genau verfolgt, was sich bei der Schwesterpartei tut. Als neuen CSU-Finanzminister hat man dort Horst Seehofer ausgeguckt. Der habe sich als Gesundheitsminister beim Kampf um die Gesundheitsreform bewährt.

Das Team des Neuanfangs: Schäuble und Hermann Otto Solms im Zentrum. Den FDP-Fraktionschef hat Schäuble als verläßlichen Partner schätzen gelernt. Dazu Seehofer. Auf den neuen FDP-Chef Kinkel mag Schäuble nicht so recht bauen, er hält ihn für schwächlich.

Kohl setzt weiter darauf, der Union fehle die Kraft, sich ihres Kanzlers der Einheit zu entledigen. Sein Ziel: 1994 sollen die C-Parteien wiederum die stärkste Fraktion im Bundestag bilden können. An den erneuten Gewinn der sogenannten strategischen Mehrheit, gegen die keine Regierung gebildet werden kann, glaubt Kohl nicht mehr. Nach der Wahl möchte er als Verhandlungsführer der stärksten Parlamentsfraktion möglichst viele Optionen nutzen können - auch die für eine Große Koalition.

Seit längerem redet Kohl nicht mehr davon, daß er für eine Koalition mit den Sozialdemokraten nicht zur Verfügung stünde. Heute kann er sich sehr wohl vorstellen, daß er Kanzler mit einem Kabinett ist, dem ein Außenminister Björn Engholm und ein Wirtschaftsminister Oskar Lafontaine angehören. Nach etwa einem Jahr würde er dann aus eigenem Entschluß die Kanzlerschaft an Schäuble abgeben. Kohl müßte nicht als Geschlagener abtreten.

Einiges spricht dafür, daß Kohls Rechnung aufgeht; manches spricht dagegen. Bleibt die wirtschaftliche Lage 1993 schlecht, wird es eng für Kohl.

Rutscht die Union 1994 bei den ersten Kommunal- und Landtagswahlen und auch noch bei der Europawahl tief ab, darf sich der Kanzler selbst wenige Monate vor der Bundestagswahl seiner Spitzenkandidatur nicht mehr sicher sein. Das Risiko eines Wechsels halten Kohl-Gegner wie Geißler oder Teufel für nicht allzu groß; Schäuble sei hinreichend bekannt und bewährt.

Wer aber sollte den Kanzler kippen? Auch das ist in der Union wieder ein Thema. Im Parteipräsidium könnte ihn eine Mehrheit zum Rücktritt auffordern. Als Kern der Kohl-Kritiker bekannt sind Heinz Eggert, Erwin Teufel, Klaus Töpfer, Heiner Geißler und der hessische Parteichef Manfred Kanther. Es würde genügen, wenn sich Volker Rühe auf deren Seite schlägt.

Oder der Aufstand bricht in der Unionsfraktion los. Kohl werde sich noch wundern, sagt ihm ein Schäuble-Fan voraus, »welche revolutionäre Dynamik« eine Fraktion entwickele, wenn etwa die Hälfte der Abgeordneten den Verlust ihrer Mandate fürchten müssen.

Unberechenbar bleibe auch die CSU. Müsse sie um ihre absolute Mehrheit in Bayern fürchten, werde sie alles tun, um sie zu retten; denkbar, daß sie ihre Minister aus dem Bonner Kabinett zurückzieht.

Kohl hat schon über einen Befreiungsschlag nachgesonnen. Würde die Koalition mit der FDP über den Einsatz von Bundeswehrsoldaten in Awacs-Aufklärungsmaschinen außerhalb des Gebietes der nordatlantischen Allianz zerbrechen, hätte er einen hervorragenden Ausstiegsgrund: Dann könne er sich als ein Kanzler profilieren, der die internationalen Verpflichtungen des vereinten Deutschland ganz obenan stelle - und würde auf baldige Neuwahlen losmarschieren.

Allerdings: Wäre jetzt Bundestagswahl, bekämen CDU/CSU nach der letzten Emnid-Umfrage nur 37 Prozent der Stimmen. Die SPD wäre mit 38 Prozent stärkste Fraktion.

* Basilius Streithofen: »Ist die CDU noch zu retten? Bilanz undPerspektive einer Volkspartei«. F. A. Herbig Verlag, München; 176Seiten; 24 Mark.

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