DER KAMPF UMS KIND
Wir treffen uns am Tisch einmal im Monat, bei Backhuhn aus der Tüte oder Pizza aus der Schachtel. Er ist mein Vater, und er hat das Recht, mich zu besuchen, sooft er will. Und er will einmal im Monat, am Sonntag. Dann essen wir oder gehen ins Kino. Und manchmal, wenn ich dann seine weißen Hände ansehe und sein weißes Hemd, denke ich mir, daß zwischen uns kein Blut fließt.
Der Kampf um das Sorgerecht endete tödlich für die Kinder. Ein Förster fand die Leichen des dreijährigen Maximilian und seines sechsjährigen Bruders Mathias in einem Waldstück bei Dachau, mit Würgemalen und Stichwunden am Hals. Sie waren elend verblutet.
An einem Baum in der Nähe hing der Mörder - ihr eigener Vater. Der 30jährige Verwaltungsangestellte hatte - wie viele Leidensgenossen - nicht verkraftet, daß die Kinder nach dem Scheitern der Ehe bei der Mutter bleiben sollten. Er entführte die beiden. Nach Tagen des Umherirrens brachte er erst seine Söhne und dann sich selber um.
Ein gleichaltriger Werkzeugschleifer aus Düsseldorf muß weiterleben. Er hatte sich nach dem Verzweiflungsakt die Pulsadern aufgeschnitten - und wurde gerettet. Doch sein egoistischer Wunsch ging in Erfüllung. Auch die Mutter, die verhaßte Ex-Frau, bekommt das Kind nicht. Tochter Stephanie, acht, ist tot, vom Vater mit Schlaftabletten vergiftet.
Derselbe krankhafte Besitzanspruch, der auch vor dem Äußersten nicht zurückschreckt ("wenn nicht ich, dann keiner"), führte jüngst in Hamburg-Lurup zu einer Katastrophe. Im April erdrosselte ein 32jähriger Gartenarbeiter seine Kinder Daniel, vier, und Jennifer, sechs, im Schlaf. Die zwölfjährige Tochter Jessica konnte sich im letzten Moment retten. Sie griff ihren Hund und floh ins Nachbarhaus. Später erzählte sie der Funkstreife: »Ich habe meine tote Schwester gesehen. Sie war ganz blau.«
Ein Zweijähriger, den ein durchgedrehter Vater Mitte Juli 1993 als Geisel nahm, kam gerade noch mit dem Leben davon. Der Erzeuger legte ihm einen Strick um den Hals - beim Sorgerechtstermin vor dem 2. Zivilsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts. Die Familienrichter ließen sich nicht erpressen; sie beschworen und überredeten den Kläger, sein Kind zu schonen, mit Erfolg.
Familiendramen hat es immer gegeben, doch jetzt nehmen sie beängstigend zu. Maximilian und Mathias, Stephanie, Daniel und Jennifer sind Blutopfer einer Gesellschaft, die mit dem Zerbrechen von Partnerschaften und der Frage, was aus den Kindern werden soll, bis heute nicht zu Rande gekommen ist. Nicht immer müssen die Kinder den Kampf der Eltern mit dem Leben bezahlen, doch sie sind, mehr oder weniger, fürs Leben gezeichnet.
Tot oder krank - viel Besseres hält das deutsche Recht für Scheidungskinder nicht bereit. Sie werden von Amts wegen »wie Möbelstücke« (Kinderrechtsaktivist Huschang Sahabi, siehe Kasten Seite 64) verteilt. Als »objektive« Entscheidungskriterien gelten Vorschläge von Be-Gutachtern, Psychologen und die Richtermeinung. Und alle sind immer geprägt von der eigenen Biographie.
Pech hat der Elternteil, der bei der Vergabe des Streitobjekts Kind zu kurz kommt. In einer Zeit, in der verheiratete und nichtverheiratete Paare ihre Beziehungen öfter, schneller und leichter lösen als je zuvor, wächst eine Millionengruppe von Entrechteten auf. Sie sind ohnmächtig Paragraphen ausgeliefert, die den Kampf ums Kind nicht schlichten, sondern überhaupt erst anfachen.
Wenn Eltern sich scheiden lassen, werden sie von Amts wegen entmündigt und gegeneinander ausgespielt: Nach Paragraph 1671 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) »bestimmt das Familiengericht, welchem Elternteil die elterliche Sorge für ein gemeinschaftliches Kind zustehen soll«.
Nicht beide Eltern sind von nun an verantwortlich, sondern nur noch einer. Der andere wird entschädigungslos enteignet. Der Gesetzgeber, der sich nie anmaßen würde, einem Scheidungspartner die Hälfte des gemeinsamen Hauses streitig zu machen, hält sich für befugt, ihm das Kind wegzunehmen - zumeist ohne Not.
Vier Fünftel aller Eltern, so bestätigen Fachleute, würden nichts dabei finden, ihre Kinder weiter gemeinsam zu erziehen. Erst der unselige Paragraph bringt sie auf die Idee, daß da etwas ist, um das gestritten werden müßte. »Der 1671 produziert Kindschaftsprozesse am laufenden Meter«, sagt die Düsseldorfer Familienanwältin Xenia Piepenbrock, »die meisten wären gar nicht notwendig.«
Justitia erzeugt Halbwaisen - mit steigender Effektivität. Je mehr Eltern sich trennen, desto mehr werden geboren.
Die Scheidungskurve hat ein Spitzenniveau erreicht. Jede dritte Ehe wird per Gerichtsbeschluß liquidiert. Immer weniger heiraten, immer mehr gehen auseinander. Aufschlußreich sind allein die Zahlen, die bis zur Wiedervereinigung im Westen registriert wurden. Vergleichswerte - 1960: 49 000 Scheidungen, 1970: 77 000, 1980: 96 000, 1989: 127 000.
Das schwächste Glied der Unglückskette sind die Kinder. Und ihre Zahl wächst, Jahr für Jahr kommen bis zu 150 000 hinzu. Derzeit sind es etwa zwei Millionen, die in »Ein-Elternteil-Familien« (Fachjargon) leben, 1,75 Millionen bei der Mutter, 265 000 beim Vater.
Bevor sie in der Statistik auftauchen, können auch die Kleinsten Gerichtssäle von innen kennenlernen. Das Routineverfahren erlebte Svenja. Die fünfjährige Kölnerin wollte bei Mama leben, Papa war einverstanden. Dennoch wurde sie zum Termin geladen.
Gelangweilte Büroangestellte setzten sie in einen dunklen Büroraum. Umgeben von Pixi-Büchern und schmuddeligen Plastikbausteinen wartete sie auf ihren Richter. Als der Mann in schwarzer Robe erschien, die Tür hinter sich schloß - »So, jetzt reden wir mal allein« -, ging sie weinend auf ihn los. Nach einer halben Stunde war der Spuk vorbei. Die pflichtgemäße »Anhörung« - oft sinnvoll, hier entbehrlich - brachte nichts Neues. Svenja verlor ihren Vater, nach dem Entweder-Oder-Prinzip des Gesetzes.
Im besten Fall nehmen die Scheidungskinder Schaden, weil sie einen von beiden - Vater oder Mutter - entbehren müssen. Im schlimmsten Fall werden sie deformiert, zwischen zwei unversöhnlichen Feinden zerrieben wie der achtjährige Klaus, dessen Odyssee von einer mitfühlenden Polizeimeisterin protokolliert wurde.
Sie gehörte zu einer Funkwagenbesatzung, die ein Urteil des Amtsgerichts Wennigsen am Deister vollstrecken mußte. Tenor der gerichtlichen Verfügung: »Die Herausgabe des Kindes Klaus kann, falls sie nicht freiwillig erfolgt, mit Gewalt erfolgen.«
Der Junge lebte bei Vater und Schwester. Das Sorgerecht hatte die Mutter, zu der er nicht wollte, weil er ihre Stockschläge fürchtete. Die Beamtin ("Klaus versteckte sich hinter mir und zitterte am ganzen Körper") versuchte, den Richter telefonisch umzustimmen - vergebens.
Sie notierte: »Klaus wurde von Polizeiobermeister K. zur Tür getragen. Dabei begann er, sich zu wehren, und schrie: ,Ich will nicht, ich will nicht!' Er weinte und klammerte sich an seine Schwester, wobei wir versuchten, ihn zu beruhigen.«
An der Haustür, so das Protokoll, sei der Junge dann an die Mutter übergeben worden. Er sträubte sich noch immer. Schlußnotiz: »Die Frau konnte durch ihre körperliche Überlegenheit den Widerstand von Klaus brechen.«
Klaus wurde nicht getötet. Doch womöglich trägt er - wie unzählige Scheidungswaisen - Zeit seines Lebens eine unsichtbare Schlinge um den Hals, krankgemacht von seinen Eltern. Das deutsche Recht ahndet jede schwere Körperverletzung, doch zu der Einsicht, daß auch schwere Seelenverletzung unter diesen Tatbestand fallen könnte, hat sich die Justiz bisher nicht durchgerungen. Eltern dürfen die Psyche ihrer Kinder ungestraft zerstören.
Auf die Frage, wann der Staat eingreifen und wann er sich zurückhalten soll, weiß die Gesellschaft keine verbindliche Antwort. Seit Jahren kündigen die wechselnden Bonner Justizminister eine Gesetzesreform an, die das Kindschaftsrecht neu regeln soll. In dieser Legislaturperiode sollte endlich das große Werk kommen, auf das Familienrichter, Psychologen, Jugendamtsfürsorger und mehr als 40 Betroffenenvereine seit langem warten.
Doch als die SPD im Juli aufs Tempo drückte und einen eigenen Entwurf im Bundestag vorlegte, mußte Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger passen. »Wegen der Kompliziertheit der Materie«, so ein Ministerialer aus ihrem Haus, sei das Projekt einer sinnvolleren Scheidungspolitik verschoben.
Obwohl die liberale Politikerin zu Recht davor warnte, daß »diejenigen vergessen werden, die unseren besonderen Schutz und unsere besondere Aufmerksamkeit brauchen, nämlich die Kinder«, konnte sie sich gegen die Familienideologen der Christenparteien nicht durchsetzen. Die hoffen noch immer - jenseits der Realität -, die Gesellschaft könne sich noch ändern, wenn man nur tapfer an die alten Werte glaube.
Wie CDU-Hardliner Herbert Werner sehen sie eine Gesetzesreform des Familienrechts als »höchst gefährliches Unternehmen«, weil dadurch »Scheiden noch leichter gemacht wird«. Denn qua Gesetz könnte Fürchterliches sanktioniert werden - lauter unordentliche Verhältnisse wie Ein-Eltern-, Stief- und Nicht-Ehelichen-Familien.
Für Politiker, Richter und Psychologen hat das Schutzgut Familie ganz unterschiedliche Bedeutung.
Konsensfähig ist allenfalls das Klischee »Familie«, die Kanzler Helmut Kohl gern das »Kernstück christlicher Politik« nennt. Familie - das assoziiert gemütliche Weihnachts- und Geburtstagsessen; Mütter, die Zeit haben; Väter, die den Wohlstand sichern. Familie, so suggeriert das Fernsehen täglich, sind gemütliche Runden bei leckerer Tütensuppe, Picknicks mit guter Margarine und gesundem Ersatzkaffee im Kornfeld. Familie - das ist der Schutzwall gegen die böse Welt draußen.
Der Dissens bricht auf, wenn sich die Idylle in nichts auflöst. Dann ist die Familie nicht mehr Werbesendung auf dem Schirm, sondern unerfreuliche Realität: Untreue, Verhältnisse, Scheidung. Denkmäler werden gestürzt. Man watet im schmutzigen Teich voller Dunkelziffern. Darin sind Väter plötzlich herumkommandierende, perverse, prügelnde Ehemänner; Mütter nur auf ihren Vorteil bedachte, karrieresüchtige Sexmonster.
Wenn Kinder da sind, muß der Familienrichter zwischen zweien, die sich gegenseitig schlechtmachen, den Sorgeberechtigten, auswählen - seine Chance, das Richtige zu tun, liegt bei 51:49. Sein einziger Maßstab ist das »Kindeswohl«, ein abstrakter Rechtsbegriff, der bayerisch oder preußisch, evangelisch oder katholisch, linksliberal oder rechtskonservativ interpretiert wird.
Sensible Familienrichter stöhnen unter dem »Begriffsmonstrum«, »mit dem wir alle« - so Hamburgs Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit - »nichts anzufangen wissen«. Die ehemalige Familienrichterin fände es »anständiger«, sich ehrlich einzugestehen, daß man allenfalls ergründen könne, »was dem Kind am wenigsten schadet«. Familienrichter Hans-Christian Prestien aus Bielefeld gab seinen Job auf, weil er »dies nicht mitmachen« wollte.
Wie er stellen seine Kollegen immer wieder fest, daß ihnen wenig mehr bleibt als die Wahl zwischen zwei Übeln. Auf die salomonische Lösung des »Kaukasischen Kreidekreises« - wer losläßt, um sein Kind nicht zu zerreißen, zeigt wahre Liebe - können sie nicht zurückgreifen.
Sie haben nur ungleiche Güter zu vergeben, das Sorge- und das Umgangsrecht. Letzteres ist nichts weiter als die Erlaubnis zu gelegentlichen Begegnungen, stundenweise, vornehmlich an Wochenenden - Familienliebe nach der Stoppuhr.
Was übrigbleibt, ist ein schäbiger Rest von Bindungen, und oft nicht einmal das. 40 Prozent der geschiedenen und knapp 60 Prozent der unehelichen Väter haben überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern - sei es, weil die Mütter jede Beziehung boykottieren, sei es, weil die Väter kein Interesse zeigen.
Das Manko hat seine Ursprünge im vorigen Jahrhundert. Bei Verabschiedung des »Bürgerlichen Gesetzbuches« im Jahre 1896 wurde die Ehe zwar nicht, wie im kanonischen Recht, als unscheidbar definiert, aber ein Leben lang sollte sie schon halten. Weil sich die meisten dem festgefügten Gesellschaftsbild beugten, blieb eine Aufteilung der »elterlichen Gewalt«, wie es damals hieß, Rarität; der Ehebrecher galt als »erziehungsunfähig«.
Zur Lösung von Massenproblemen taugt die altertümliche Konstruktion überhaupt nicht. Der Staat, der über die »Pflege und Erziehung des Kindes« wachen soll (Artikel 6 Grundgesetz), vernachlässigt diese Aufgabe, wenn er meint, er könne neue soziale Phänomene mit alten stumpfen Instrumenten bewältigen. Nachbesserungen am BGB, zu denen sich der Bundestag von Zeit zu Zeit aufgerafft hat, reichen bei weitem nicht aus.
Die letzte Reparatur machte manches schlimmer. Mit der »Jahrhundertreform« des Ehe- und Familienrechts im Jahre 1977 wurde eine Liste von Tatbeständen für Ehe-Alimente aufgestellt. Danach hat ein geschiedener Ehegatte Unterhaltsansprüche gegen den anderen, »solange und soweit von ihm wegen der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann« (Paragraph 1570 BGB).
Die Verknüpfung von Unterhaltsanspruch und Sorgerecht erwies sich in der Praxis sehr schnell als verhängnisvoll. Oft geht es in Scheidungsprozessen - dazu ermuntert die Regelung - nicht mehr um das Wohl des Kindes, sondern nur ums Geld.
Die Kontrahenten müssen der Finanzen wegen um das Sorgerecht kämpfen: die Frauen, weil sie auf diese Weise automatisch einen Unterhaltsanspruch begründen, die Männer, weil sie ebendies verhindern wollen. Kinder werden dabei instrumentalisiert, so die Juristin Eva-Marie von Münch, als »Geiseln, die bares Geld wert sind«.
Geld oder Kind, möglichst beides - diese Kombination erinnert an die kapitalistischen Ursprünge der Familie. Sie war in erster Linie ein arbeitsteiliger Betrieb und diente der Produktion von Werktätigen, die wechselseitig füreinander aufkamen - die Alten für die Jungen; die Jungen für die Alten, je mehr, desto besser.
Das profane Zweckbündnis brauchte eine edle Fassung, und das war der Familiennimbus. Er kam dem Wunsch der Menschen nach Geborgenheit entgegen und diente als ideologischer Zierat. Diese Wirklichkeit, die dem Recht immer noch zugrunde liegt, stimmt längst nicht mehr. Das Credo der siebziger Jahre - Selbstverwirklichung ohne Rücksicht auf die Folgen - formt mittlerweile eine Gesellschaft, in der gerade Jugendliche ohne Vorbild, ohne Orientierung, ohne Perspektive leben.
Es sieht so aus, als ob sie kaum noch zu bändigen wären. In den Schulen, neuerdings sogar in den Kindergärten, nimmt die Gewaltbereitschaft zu. Sekten und Radikalenverbände erhalten regen Zulauf.
Von der ordnenden Kraft des Staates ist nichts zu spüren. Er hat nicht bemerkt, welche Umbrüche die soziale Landschaft in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verändert haben - nicht nur durch Verdoppelung der Scheidungen. Auch das Verhältnis der unehelichen zu den ehelichen Geburten hat sich auf verblüffende Weise verändert - in den neuen Ländern zum Beispiel betrug der Anteil der unehelich Geborenen 1992 knapp 42 Prozent.
Bundesweit wird jedes siebte Kind unehelich geboren (in Ost-Berlin jedes zweite). Über Paare ohne Trauschein gibt es keine verläßlichen Statistiken. Manche Soziologen rechnen mit bis zu drei Millionen nichtehelichen Gemeinschaften, Tendenz steigend. Statistiker, die nicht mit Dunkelziffern arbeiten, haben immerhin 1,4 Millionen gezählt, Eltern von 430 000 Kindern unter 18 Jahren.
Mit den neuen Bräuchen lösen sich auch die alten Kategorien auf. Das soziale Umfeld wird von Jahr zu Jahr unübersichtlicher. Immer mehr Kinder leben mit einer Bezugsperson und deren neuen, mitunter auch wechselnden Partnern - die Halbwaisen aus geschiedenen Ehen, die unehelich Geborenen mit fahnenflüchtigen Vätern und schließlich Kinder aus freien Partnerschaften, deren Eltern nicht weniger trennungsgefährdet sind als die standesamtlich Getrauten.
Je mehr die Zahl der »Ein-Eltern-Kinder« ansteigt, desto weniger wird die Beschränkung des Sorgerechts auf nur eine Person dem »Wohle des Kindes« gerecht. Das große Wort wird zur hohlen Phrase. Doch die naheliegende Lösung, das »gemeinsame Sorgerecht«, für diese Legislaturperiode laut angekündigt, verschwand wieder aus den Gesetzesplänen.
Zeit hätten die Politiker gehabt. Schon vor elf Jahren hat das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil den Weg für das gemeinsame Sorgerecht eröffnet - als Ausnahmeregelung auf Antrag der Eltern. Doch bislang machten nur zwei Prozent von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Schuld ist die starre Vorschrift, die im Normalfall das Sorgerecht auf einen beschränkt und Kompromißbereitschaft erst gar nicht aufkommen läßt. Wer sich ausrechnen kann, daß er den Kampf ums Kind vor Gericht gewinnen kann, sieht keine Notwendigkeit, sich gütlich zu einigen. Deshalb streben immer mehr Fachleute eine Umkehr von Regel und Ausnahme an, etwa so: *___Die Regel: Eltern behalten nach der Scheidung das ____bisherige gemeinsame Sorgerecht. Sie verständigen sich ____darüber, zum Beispiel in einem »Sorgerechtsplan«, wo ____ihr Kind leben soll, ein Familienrichter wird überhaupt ____nicht eingeschaltet. *___Die Ausnahme: Wenn einer meint, diese Lösung schade dem ____Kind, muß er das alleinige Sorgerecht erstreiten - dann ____allerdings auf dem normalen Prozeßweg.
Wie gut das funktioniert, zeigen die Länder Frankreich und Dänemark; dort tragen 61,2 beziehungsweise 50 Prozent aller Eltern gemeinsame Sorge für ihre Kinder, ohne daß Richter mitmischen.
Bis es in Deutschland soweit ist, werden noch viele Jahre vergehen. Geplant sind vorerst Verbesserungen an der Peripherie, die den Kindern allenfalls indirekt zugute kommen.
So will die Regierung noch in dieser Legislaturperiode ein preußisches Relikt abschaffen, das die Mütter nichtehelicher Kinder als Unmündige behandelt - die sogenannte Amtspflegschaft, die ihre Erziehungskompetenz in Frage und sie selbst unter staatliche Kuratel stellt. Für Frauen der Ex-DDR gab es diese Bevormundung nicht.
Dringend nötig wäre weiter eine Präzisierung, die das Züchtigungsrecht der Eltern beschränkt und Mißhandlungen der Kinder verbietet. Schließlich soll die Gleichstellung der ehelichen und nichtehelichen Kinder, ein Auftrag des Grundgesetzes, nunmehr auch im Erbrecht realisiert werden, 44 Jahre nach Inkrafttreten der Verfassung.
Mit diesen Trippelschritten ist die Kraft der Regierungskoalition bis zur nächsten Wahl schon verbraucht. Für die »übrigen Fragen der Gesamtreform« hat das Justizministerium - wie in Bonn so üblich - eine »interdisziplinäre Arbeitsgruppe« einberufen. Sie soll bis Ende 1994 »nicht nur Thesen, sondern bereits Formulierungen für Gesetzesvorschriften« vorlegen - etwa zum Sorge- und Umgangsrecht.
Damit sei, versprechen die Ministerialen, »der Grundstein dafür« gelegt, daß die Reform »in der nächsten Legislaturperiode so bald wie möglich auf den Gesetzgebungsweg gebracht wird«.
Oder anders: Wer hofft, daß dem Kindeswohl bald weitergeholfen wird, braucht eine gehörige Portion Kinderglauben.
Gesamtreform hieße eine Überarbeitung der Rechte nichtehelicher Eltern. Ihre Kinder werden zwar nicht mehr Bastarde, Bankerte, Niemandskinder, fleischgewordene Sünden genannt, aber immer noch so behandelt. Sie können nach geltendem Recht nicht gleichzeitig Vater und Mutter haben.
Den Weg zum normalen Familienglück versperrt der Paragraph 1705 BGB, der bestimmt: »Das nichteheliche Kind steht, solange es minderjährig ist, unter der elterlichen Sorge der Mutter.« Nichteheliche Väter bleiben Zahlväter, Erzeuger; sogar Väter ohne Kinder, wenn Mütter den Kontakt nicht wünschen.
Traf früher das Fräulein mit Kind die pharisäerhafte Mitleidlosigkeit der Gesellschaft, so werden heute Väter dafür gestraft, gezeugt zu haben. Eine Vater-Kind-Realität ohne Stammbuch verneint der Gesetzgeber energisch. So erklärte beispielsweise das Hamburger Landgericht 1990 einem unverheirateten Vater, daß er seinem Kind »Geborgenheit naturgemäß nicht geben« könne.
Väter würden so, klagt in seinem jüngst erschienenen Buch »Väter ohne Kinder« der betroffene 26jährige Andreas Schmidt, vom Gesetz »überflüssig« gemacht - nicht immer zum Nutzen der Kinder.
Etwa der arbeitslose Architekt Martin aus Stuttgart. Er kannte sich mit Penatencreme und Windelgröße wesentlich besser aus als seine Freundin Marja. Er erzog die kleine Sophie in ihren ersten drei Jahren allein, während Marja das Geld verdiente. Dann war Schluß. Marja warf Martin hinaus, behielt das Kind und zog in eine andere Stadt.
Durchs Jugendamt verbot sie dem Vater jeglichen Kontakt. Der nichteheliche Vater hatte keine Chance, sich zu wehren. Der »Mütter-Mythos« zog.
Sophies Mutter ging zur Bhagwan-Sekte und nahm Sophie mit nach Oregon und Poona. Sophie, jetzt sechs, geht nicht in die Schule, sondern lebt mittlerweile in einem holländischen Ashram.
Das ungewöhnliche »Ausmaß an Haß und Gewalt, Egoismus, sexueller Willkür und Rücksichtslosigkeit« (Psychoanalytiker Horst Petri) wird auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. Mütter drücken ihre Wut aus, indem sie das »Verkehrsrecht« des Vaters beschneiden, wo sie nur können.
Das Amtsgericht Riedlingen verbot einem nichtehelichen Vater, seiner kleinen Tochter »zum Geburtstag, zu Weihnachten, zu Neujahr, zu Ostern oder herausragendem Urlaub eine Grußkarte mit drei Sätzen handschriftlichem Text« zu schicken. Die amtliche Begründung: Katharina sei noch nicht in der Lage, emotionale Eindrücke im Umgang mit ihren Eltern zu verarbeiten.
Ein Kind geteilt durch zwei heißt immer zwei Anwälte, die zwei streitende Eltern vertreten. Für den dritten - das Kind - gibt es keinen Sachverwalter. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat deshalb den Ruf nach einem »Anwalt des Kindes« aufgegriffen.
Die Einsicht, daß Kinder auch ihren Eltern gegenüber Rechte haben, macht in deutschen Justizstuben nur langsam die Runde. Und der Gedanke, daß auch dem Kind das Grundrecht auf Menschenwürde zusteht, wurde erst populär, nachdem das Bundesverfassungsgericht diesen Anspruch selbst dem Embryo zugestanden hat.
In anderen Ländern gibt es längst Kinderanwälte. Die »teuerste, aber weltweit beste« Anwaltschaft des Kindes leistet sich Großbritannien, wie der Frankfurter Rechtswissenschaftler Ludwig Salgo feststellt. Dort arbeiten in einem »Tandem-Modell« erfahrene Anwälte mit streng kontrollierten Sozialarbeitern zusammen, um die Interessen des Kindes zu vertreten - mit großem Erfolg.
In Deutschland ist zu befürchten, daß der Anwalt des Kindes eine schöne Idee bleiben wird, wie so vieles im Familienrecht. Solange es dem Gesetzgeber am Schwung für das Kernstück der Reform mangelt, solange ihm die Visionen für die Familie des Jahres 2000 fehlen, solange er die alten Werte wie eine Monstranz vor sich herträgt, wird nichts Nennenswertes passieren.
Oder nur Negatives. Denn bereits heute ist abzusehen, daß bis zur halbherzig vorgesehenen Reformphase in den Jahren 1995 und 1996 die Scheidungs- und Trennungszahlen sowie die Nichtehelichengeburten weiter ansteigen. Sicher ist, daß der Staat sein Versprechen, Eltern und Kindern im Wortsinn aus der Klemme zu helfen, brechen wird.
Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz vom 1. Januar 1996 an kann nicht eingelöst werden. Es fehlen 600 000 Plätze, die sofort 21 Milliarden Mark kosten - vom Unterhalt und dem Zusatzbedarf an Kinderhorten, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen gar nicht zu reden.
Die Bundesrepublik wird ihrem Ruf als kinderfeindliche Gesellschaft gerecht. Sie tut nichts, um der Vereinsamung, der Verarmung und der mangelnden Betreuung ihrer Trennungswaisen zu begegnen.
Und sie ist Lichtjahre von dem jüngsten Karlsruher Spruch entfernt, der im Februar forderte: »Das gerichtliche Verfahren muß in seiner Ausgestaltung geeignet und angemessen sein, um der Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen wirkungsvoll zu dienen.«
Darunter ist nichts anderes zu verstehen, als jedem Wesen die »Menschenwürde« (Artikel 1 GG) zu garantieren - auch Kindern. Artikel 6 normiert in erster Linie nicht Besitzansprüche der Eltern, sondern Fürsorgepflichten - und damit Kindesrechte. So fordert auch die Uno-Kinderkonvention: »Das Recht des Kindes« zu wahren, »regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen« (Artikel 9) - ein Gebot, das fast alle Mitgliedstaaten der Uno ratifiziert haben, die Bundesregierung nur unter Vorbehalt.
Lauter Selbstverständlichkeiten, die - wenn sie umgesetzt würden - Schicksale erleichtern, psychische Krankheiten verhindern und sogar Leben retten könnten. »Mit einem besseren Gesetz«, so Margot von Renesse, SPD-Expertin in Sachen Familienrecht, mache sie sicher keine besseren Menschen, »aber wenigstens das Betteln von Eltern vor Gericht hört auf«.
Der von ihr inspirierte Entwurf deckt sich in wesentlichen Punkten fast wörtlich mit dem Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts: »Die Eltern sind durch Anreize im Verfahrensrecht zugunsten eigenständiger Regelungen zu unterstützen.« Wie das gehen könnte, zeigt das »Kinder- und Jugendhilfegesetz«, das seit Januar 1991 in Kraft ist - durch Hilfestellung für Paare »bei der Entwicklung eines einvernehmlichen Konzepts für die Wahrnehmung der elterlichen Sorge«.
Der Staat könnte, wenn er sein »Wächteramt« ernst nimmt, noch einen Schritt weiter gehen. Jeder Sachkundige weiß, daß sich Partner- und Kompetenzkonflikte nicht mit den Mitteln der Justiz, sondern nur durch Einbeziehung aller Beteiligten lösen lassen.
Ein Ausweg wäre, solche Eltern, die sich nicht einigen können, per Auflagen zu einer Familientherapie zu zwingen oder zur Teilnahme an einer sogenannten Mediation; das ist ein erfolgreich praktiziertes »Vermittlungsprojekt« aus den USA, bei dem die Kontrahenten von einem unparteiischen »Mediator« (Vermittler) lernen, sich sinnvoll auseinanderzusetzen.
Dieser Idee liegt der Gedanke zugrunde, daß persönliche und psychische Konflikte nicht von Dritten, sondern nur von den Beteiligten gelöst werden können. Wer sich verweigert, setzt sich ins Unrecht. Er hätte damit seinen Anspruch auf das Sorgerecht verwirkt.
Die Einsicht, sich friedlich zu einigen, wäre im übrigen leicht zu erreichen. Das Gesetz müßte nur festlegen, daß es ohne Sorgerecht-Pakt keine Scheidung gibt. Y
»Die Herausgabe des Kindes kann mit Gewalt erfolgen«
Wenig mehr bleibt als die Wahl zwischen zwei Übeln
Von der ordnenden Kraft des Staates ist nichts zu spüren
Statt zwei Anwälten der Eltern künftig ein Anwalt des Kindes?
[Grafiktext]
__59_ Eheschließungen und Ehescheidungen in den alten Bundesländern
__61_ Kinder unter 18 J., aus gesch. Ehen stammend, bei 1 Elternt.
_____ lebend
[GrafiktextEnde]