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»Der Kerl gehört gehängt!«

Der Fall Filbinger hat die deutsche Militärjustiz wieder in Verruf gebracht. Eine neue Untersuchung zeichnet ein genaueres Bild: Mit einiger Zivilcourage und Standfestigkeit konnten Militärrichter auch unter dem NS-Regime nach rechtsstaatlichen Kategorien urteilen, verordnetes Unrecht verhindern und sogar Hitlers Befehle unterlaufen.
aus DER SPIEGEL 28/1978

General Wilhelm Burgdorf, Chef des Heerespersonalamtes, gab die Parole aus: Jeder Offizier und jeder Richter der Wehrmacht habe mit schärfsten Mitteln gegen Zweifler am deutschen Endsieg vorzugehen. »Ein Offizier, der sich über die Staatsführung herabsetzend äußert«, dekretierte Burgdorf 1944, »ist im nationalsozialistischen Staat untragbar.«

Der Burgdorf-Ukas galt einem Hauptmann, der Ende 1943 im Kreis von Kameraden erklärt hatte, Deutschland könne den Krieg nicht mehr gewinnen, spätestens im März 1944 werde das Reich kapitulieren. Es liege, so der Hauptmann, im Interesse des deutschen Volkes, die Waffen niederzulegen.

Ein Kamerad denunzierte den Hauptmann, bald darauf stand er vor einem Kriegsgericht. Die Richter machten kurzen Prozeß: Der Hauptmann wurde wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und erschossen.

Befriedigt nahm Burgdorf die Vollzugsmeldung des zuständigen Gerichtsherrn entgegen. Ihm schien der Fall des Hauptmanns so exemplarisch, daß er ihn sofort in die Reihe der »Belehrungsfälle« aufnahm, die er am 16. September 1944 in einer Geheimverfügung allen Offizieren des Heeres kundtat -- zur Abschreckung weiterer Abweichler.

Burgdorf entging dabei freilich, daß fast zur gleichen Zeit ein anderer Zweifler vor einem Militärgericht stand, dessen Richter keine Lust verspürten, ihn befehlsgemäß zum Tode zu verurteilen. Und den Befehl. Todesstrafe zu verhängen, hatte kein geringerer erlassen als Adolf Hitler, der oberste Kriegs- und Gerichtsherr des Dritten Reiches.

Der Diktator fühlte sich von dem angeklagten Offizier persönlich herausgefordert: Der Luftwaffen-Major von Grawert, Leiter eines Ausbildungskommandos an der Reichsmotorsportschule, hatte zu Kameraden geäußert. Hitler habe die Niederlage von Stalingrad verschuldet, wegen seiner Unfähigkeit hätten ihn die Militärs verhaftet und nach dem Obersalzberg gebracht, wo er nun ständig Tobsuchtsanfälle bekomme und in den Teppich beiße.

Ein Zuhörer informierte Hitler, der daraufhin verlangte, hier müsse ein Exempel statuiert werden. Er gab Befehl, den Fall vor das Sonderstandgericht für die Wehrmacht zu bringen.

Doch als das Gericht am 16. Juli 1943 zur Hauptverhandlung zusammentrat. beantragte der Ankläger, Oberreichskriegsanwalt Alexander Krach, statt der Todesstrafe nur fünf Jahre Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Die Richter folgten dem Antrag. Begründung: Dem Angeklagten sei zugute zu halten, daß seine Äußerungen durch die ernste Sorge um die Zukunft Deutschlands bestimmt gewesen seien.

Als das Urteil Hitler zur Bestätigung vorgelegt wurde, warf er seinem Marineadjutanten das Papier wütend vor die Füße und schrie: »Der Kerl gehört gehängt!« Hitler befahl eine neue Verhandlung -- vor einem anderen Gericht: dem Luftwaffen-Feldgericht z.b.V.

Aber auch dieses Gericht lehnte die von Hitler verlangte Todesstrafe ab und erkannte auf zehn Jahre Zuchthaus, zehn Jahre Ehrverlust und Rangverlust -- und dies zwei Tage nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, als bereits die Greifkommandos der Gestapo jeden Deutschen, der offen an Führer und Endsieg zweifelte, vor den Volksgerichtshof schleppten.

Wieder wies Hitler den Schuldspruch zurück, das Luftwaffen-Feldgericht mußte am 29. November 1944 zu einer neuen Hauptverhandlung antreten. Diesmal beantragte zwar der Ankläger die Todesstrafe. doch als der Hauptzeuge unsicher zu werden begann, änderte der Ankläger seinen Antrag und wollte sich mit acht Jahren Zuchthaus begnügen. Die Richter gingen in ihrem Schuldspruch noch weiter herunter: fünf Jahre Gefängnis.

Sie wußten freilich, daß Hitler diesem Urteil nie zustimmen würde. Da kam ihnen eine rettende Idee: Die Richter bewogen den Luftwaffen-Chef Hermann Göring, der gelegentlich Hitlers Gerichtsherren-Pflichten wahrnahm und seine Offiziere ungerne hängen sah, das Grawert-Urteil zu bestätigen. Göring tat es, der Major überlebte den Krieg.

Vollstreckung des Todesurteils nach kurzem Prozeß -- Rettung des Angeklagten selbst gegen den ausdrücklichen Befehl Hitlers: Die beiden Fälle offenbaren die ganze Spannweite deutscher Militärrichter im Zweiten Weltkrieg. Sie rochierten zwischen Gut und Böse, sie konnten Menschen brechen oder retten.

Wie kaum eine andere Personengruppe sicherte das Korps der 2000 aktiven und Reserve-Richter der Wehrmacht. was ihm Ordnung und Disziplin dünkte. Mit ihren Kriegsgerichten bestraften die Militärrichter jede Abweichung von der militärischen Norm, mit ihren Schuldsprüchen und Untersuchungsberichten zementierten sie den bedingungslosen Gehorsam gegenüber Führer und Regime.

Ihre Aktivitäten, schon immer heftig umstritten, sind erneut ins Zwielicht geraten, seit der Fall des ehemaligen Marinestabsrichters Filbinger aufbrach. Eine zentrale Frage bleibt: Waren Hitlers Militärrichter willenlose Werkzeuge der Führerdiktatur, oder besaßen sie noch einen Freiraum, der es ermöglichte, Recht und Truppe zumindest vor den ärgsten Zugriffen des NS-Regimes zu schützen?

Eine Fallsammlung des unlängst verstorbenen Ex-Richters Otto Peter Schweling, ehedem Oberstaatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft, gibt jetzt Antwort darauf. Schweling arbeitete jahrelang die in der Zweigstelle Kornelimünster des Bundesarchivs liegenden Akten deutscher Kriegsgerichte durch und untersuchte 1000 Fälle, die er für repräsentativ hielt*.

Fazit: Deutschlands Militärrichter waren besser als ihr Ruf. Sie hielten in der Zeit nazistischer Justizzerstörung weitgehend an dem normativen Rechtsdenken ihres Standes fest, sie halfen zahllosen Soldaten aus der Bedrängnis und unterschieden sich grundsätzlich von denen, die man in der zivilen Justiz die Blutrichter Hitlers nannte.

Gleichwohl gab es krasse Unterschiede unter ihnen: Marinerichter urteilten härter als ihre Kollegen vom Heer, eine kleine Minderheit von Angepaßten und Nationalsozialisten verhängte sinnlos hohe Strafen und erlag den Pressionen der militärisch-politischen Führung oder ließ sich von der Untergangshysterie der letzten Kriegstage anstecken.

Bilanz der Militärrichter: 16000 Todesurteile.

Die meisten Richter aber urteilten nicht anders als ihre Kollegen in den verbündeten oder gegnerischen Armeen. Denn nicht die politischen, unter NS-Mentalität angeklagten Delikte bestimmten den Alltag der deutschen Militärrichter, sondern Straftatbestände, die in jeder Armee verfolgt werden.

An der Spitze der Straftat-Statistik standen denn auch Diebstähle (25 Prozent aller Verfahren). dann folgten die Delikte Unerlaubte Entfernung von der Truppe (20 Prozent), Wachverfehlung (13 Prozent), Ungehorsam (7 Prozent), Fahnenflucht (2 bis 3 Prozent) und ein Rest zahlenmäßig unerheblicher Vergehen von der Unzucht bis zur Untergebenen-Mißhandlung.

Die eigentlich politischen Strafsachen, unter ihnen das im Dritten Reich schwerstwiegende Delikt »Wehrkraftzersetzung«, machten zwar nur etwa zwei Prozent der Verfahren aus, dennoch lagen gerade die härtesten Schuldsprüche (16 000 Todesurteile, davon 10 000 vollstreckt) oft in diesem Bereich.

Die erschreckend vielen Todesurteile brachten die deutsche Militärjustiz in den Ruf, besonders grausam zu

* Otto Peter Schweling: Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus": bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Erich Schwinge. N. G. Elwert Verlag, Marburg; 396 Seiten; 30 Mark.

sein. Tatsächlich gingen die gegnerischen Armeen mit dem Leben ihrer Delinquenten meist glimpflicher um: Die US-Streitkräfte etwa exekutierten 142 ihrer Soldaten (davon einen wegen Fahnenflucht).

Allerdings standen bei den Alliierten mehr Soldaten vor Gericht als in Hitlers Wehrmacht. So führten beispielsweise Amerikas Gerichtsoffiziere in ihren Armed Forces, einer der Wehrmacht vergleichbaren Streitmacht, zweieinhalbmal soviel Verfahren durch (1,7 Millionen) wie die deutschen Militärrichter (700 000). Bei Kriegsschluß saßen in den Militärgefängnissen der USA 45 000 Soldaten ein, meist wegen Fahnenflucht verurteilt.

Darin manifestierte sich, daß auch die Militärhierarchie der USA noch ganz in den archaischen Begriffen einer ungehemmten Truppenjustiz dachte, deren wichtigste Aufgabe es seit Jahrhunderten ist, die Soldaten zu disziplinieren.

Die Justiz der US-Armee kannte wie die Gerichtsbarkeit anderer Armeen nur eine Mission: das System von Befehl und Gehorsam zu erhalten, jeden für den Zusammenhalt der Truppe und ihre Kampfmoral schädlichen Einfluß auszuschalten. Die meisten Militärrichter Amerikas verstanden sich daher auch nicht als Diener des Rechts; sie waren in erster Linie Helfer der Truppenführung.

Allein der Kommandeur bestimmte in der US-Armee, was Recht und Gerechtigkeit ist. Er setzte Untersuchung und Verfahren in Gang, er ernannte Ankläger und Richter, er entschied über Rechtmäßigkeit und Opportunität des Urteils. Berufsrichter wirkten an dem Verfahren nicht mit, juristisch vorgebildete Verteidiger waren kaum zugelassen. Rechtsmittelinstanzen gab es nicht -- der Kommandeur hatte das letzte Wort.

Richter im Gestrüpp der Kompetenzen.

Anders die deutschen Militärrichter. Ihre Vorgänger hatten schon Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt, was den Amerikanern im Zweiten Weltkrieg noch unerreichbar schien: die volle Mitwirkung von Berufsjuristen in der Militärjustiz.

Eine neue Militärstrafgerichtsordnung (MStGO) hatte 1898 die deutsche Militärgerichtsbarkeit weitgehend dem bürgerlichen Strafrecht angepaßt. Die MStGO

* schrieb ein eigenes Anklageverfahren vor und ließ Verteidiger zu, > akzeptierte zumindest theoretisch

unabhängige Spruchgerichte,

* beteiligte Juristen unmittelbar an der Urteilsfindung und

* gestand Angeklagten das Recht zu, ein Urteil vor dem nächst höheren Gericht anzufechten.

Damit war allerdings nicht die ärgste Willkür der Militärjustiz beseitigt: die Verquickung von Exekutive und Judikatur in der Person des Kommandeur-Gerichtsherrn. Er blieb, was er war: ein Fossil aus der Zeit des landesfürstlichen Absolutismus, in dem der Monarch einen Teil seiner Befugnisse als oberster Gerichtsherr an den Befehlshaber der Truppen und dieser ihn wiederum an seine Kommandeure delegierte -- eine Herausforderung aller Gewaltenteilungsprinzipien des modernen Staates.

Immerhin galt ab 1898, daß der Kommandeur keinen unmittelbaren Einfluß auf das Verfahren eines Militärgerichts ausüben durfte und dessen Schuldsprüche als rechtsgültige Entscheidungen werten mußte, die er nur noch »vollstreckungsrechtlich« (wie die Juristen sagen) anzuerkennen hatte. Paragraph 18 der MStGO besagte, die erkennenden Militärgerichte seien unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.

Das machte die aus dem Zivilleben gekommenen Berufsjuristen zu natürlichen Gegenspielern der Militärs. Denn: Wie beflissen sich auch die uniformierten Juristen den Denkkategorien der Militärhierarchie anpaßten, wie eifrig sie soldatische Zackigkeit hervorkehren mochten -- sie blieben doch Juristen, gewohnt an Verfahrensformeln und rechtsstaatliche Normen.

Sie brachten einen Zug von Rechtssicherheit in die Militärjustiz, der sich von der Willkür früherer Gerichtsherren-Allmacht deutlich abhob. Manche Kriegsgerichte hatten bald einen besseren Ruf als die zivilen Gerichte.

Das galt auch und besonders nach 1934, als der nationalsozialistische Staat die inzwischen von der Weimarer Republik weitgehend aufgehobene Militärgerichtsbarkeit wieder einführte. Die neue MStGO brachte sogar noch einige Korrekturen zugunsten der Berufsjuristen.

Sie erkannte den »richterlichen Militärjustizbeamten«, wie er jetzt hieß, neben dem Soldaten als gleichberechtigten Träger der Militärjustiz an. Er durfte den Vorsitz der Gerichte (Kriegsgerichte, Oberkriegsgerichte) übernehmen, ausgenommen das Reichskriegsgericht (RKG), dessen einzelne Senate allerdings ebenfalls von Juristen geführt wurden.

Die Militärs wären sich freilich untreu geworden, hätten sie sich nicht dennoch ein Übergewicht bewahrt. In den Gerichten und Senaten mußten stets mehr Soldaten als Juristen sitzen, der Befehlshaber blieb außerhalb der Hauptverhandlung Herr des Verfahrens. Er setzte die ihm zugeteilten Militärjuristen abwechselnd als Richter oder Ankläger ein und konnte dem Ankläger Befehle erteilen.

Auch die Organisation der Justizverwaltung hielt den Einfluß der Juristen in Grenzen. Die Verwaltung wurde von den Rechtsabteilungen in der Wehrmachtführung (ab 1938: Oberkommando der Wehrmacht, OKW) und den Oberkommandos der Teilstreitkräfte geleitet. Diese Abteilungen waren jedoch nicht dem weisungsbefugten Oberbefehlshaber zugeordnet, sondern dem Amts- oder Stabschef, der ohne Genehmigung seines OB keinen Befehl geben durfte.

In diesem Gestrüpp der Kompetenzen konnte sich nur behaupten, wer über genügend Durchsetzungskraft, persönliche Verbindungen und taktische Geschicklichkeit verfügte.

Ging es um die Machtstellung des Offizierskorps in der Wehrmacht, so mußte der Militärjurist oft arg lavieren und zweifelhafte Kompromisse hinnehmen, wollte er sich mit abweichenden Auffassungen hei den Militärs Gehör verschaffen. Fielen aber bei der Abwehr von Pressionen der NS-Führung die rechtlich-normativen Kategorien der Juristen mit den traditionellen Werten der Militärs zusammen, dann durfte sich der Militärrichter einer Autonomie erfreuen, die inmitten nationalsozialistischer Rechtsknebelung fast schon ein wenig sensationell wirkte.

Denn die Wehrmachtjustiz besaß einen Freiraum, in den der Gleichschaltungsterror nicht drang. Das hing mit der Grundstruktur des Dritten Reiches zusammen: Hitlers Regime war nicht zuletzt das Produkt einer Allianz zwischen NS-Partei und Wehrmacht; beide galten denn auch offiziell als die tragenden Säulen des Dritten Reiches. Das Militär führte ein Sonderleben -- praktisch ungehindert von der Partei.

Die Autonomie des Militärs machten sich die Wehrjuristen zunutze und arbeiteten, als gäbe es in Deutschland noch einen Rechtsstaat. Ihnen kam dabei zugute, daß Hitler lange Zeit die Arbeit der Militärjustiz gleichgültig war.

Das lockte Juristen in den Wehrdienst. die gemeinhin keine Vorliebe für das Militär hatten. Fast jeder von ihnen war irgendwann einmal mit Vertretern des Regimes in Konflikt geraten. Rudolf Lehmann, Beamter im

* Mit seinem Nachfolger Brauchitsch 1938

Reichsjustizministerium, hatte einen Zusammenstoß mit dem späteren Volksgerichtshof-Präsidenten Freisler gehabt. dem Finanzamt-Vorsteher Otto Neumann lastete die Partei Nichtbeförderungen von Parteigenossen an, der Finanzbeamte Joachim Rudolphi hatte sich mit einem NS-Ortsgruppenleiter verkracht, der Oberkirchenrat Christian von Hammerstein war von den Nazis aus dem Chefsessel des mecklenburgischen Roten Kreuzes vertrieben worden.

Auch den hessischen Landgerichtsrat Carl Sack, der die Nazis eine »Verbrecherhorde« nannte, hielt es nicht länger in der fragwürdig gewordenen Justiz. und ähnlich erging es dem Darmstädter Oberstaatsanwalt Kraell, der seinen zivilen Posten verließ.

Die »hessischen Emigranten« (RKG-Jargon) und ihre Kollegen besetzten die Schlüsselpositionen der Militärjustiz. Lehmann wurde als Chef der Wehrmachtrechtsabteilung im OKW höchster Wehrjurist des Reiches, Neumann, Rudolphi und Hammerstein avancierten zu Justizchefs von Heer, Marine und Luftwaffe, Sack und Kraell traten in die Reichskriegsanwaltschaft ein.

Sie mühten sich nach Kräften, der Wehrmacht einen Rest von Rechtsstaatlichkeit in der Welt des nationalsozialistischen Justizterrors zu erhalten. Das bekam auch bald Hitler zu spüren.

Als der Diktator im Januar 1938 den durch eine Gestapo-Intrige gestürzten Oberbefehlshaber des Heeres. Freiherrn von Fritsch, vor ein politisch-ziviles Sondergericht stellen wollte, das zusammen mit der Gestapo die dem OB vorgeworfenen homosexuellen Aktivitäten untersuchen sollte, legte sich die Wehrmachtrechtsabteilung quer.

Sie bestand darauf, daß allein ein Militärgericht für den Fall Fritsch zuständig sei, und drängte den späteren OKW-Chef Keitel so lange, bis der sich endlich bereit erklärte, dies seinem Führer vorzutragen. Hitler stimmte zu. Ein Sondersenat des RKG trat zusammen, der Fritsch im März freisprach -- gestützt auf die Ermittlungen Sacks.

Auch andere Militärrichter fielen dem Regime unangenehm auf. Der Heeresrichter Neumann ließ beispielsweise kriegsgerichtliche Verfahren gegen Soldaten einleiten, die sich an dem antijüdischen Vandalismus der Kristallnacht im November 1938 beteiligt hatten.

Damit wurden die Militärrichter freilich noch nicht zu Gegnern des Regimes oder gar zu Widerstandskämpfern (nur Sack und der Luftwaffenrichter Schleicher starben später als Märtyrer des 20. Juli). Nichts war ihnen fremder als die Vorstellung, den Staat und sein Oberhaupt zu bekämpfen. Was immer sie von Nazi-Richtern unterschied, so glaubten doch auch die Militärrichter, meist Juristen des autoritärkonservativen Typs, daß selbst der Staat der Unfreiheit und Konzentrationslager ein Anrecht auf die Loyalität seiner Soldaten habe.

Ob sie Kriegsdienst verweigernde Ernste Bibelforscher verurteilten oder kommunistische Widerständler als Landesverräter an den Galgen schickten -- stets standen die Richter der Wehrmacht bereit, dem von ihnen verabsolutierten Staat bedingungslos zu dienen.

Sie nahmen auch kaum Anstoß, als Hitler noch vor Kriegsausbruch die Militärjustiz »vereinfachte": Die MStGO wurde durch eine Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) ersetzt, in der alle Rechtsmittelinstanzen beseitigt, die unbegrenzte Autorität der Gerichtsherren wiederhergestellt und als erkennende Gerichte nur noch die Feldkriegsgerichte, die Bordkriegsgerichte und das Reichskriegsgericht zugelassen waren.

Der Neuregelung folgte sofort eine Verordnung, die nazistisches Rechtsgut in die Wehrmacht verpflanzte. Eine Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) setzte verschärfte Strafen für Fahnenflucht fest und schuf ein neues, unheilkündendes Delikt: »Zersetzung der Wehrkraft«.

Die Militärrichter, immer in der Versuchung, den Staat Hitlers mit dem Kaiserreich zu verwechseln, zeigten anfangs keine Bedenken. Sie wandten die Bestimmungen der KSSVO an, als gelte es, einen normalen Staat zu schützen.

Das machte sie blind für das Widersprüchliche, ja, den Widersinn ihrer Arbeit. Sie hielten sich (und darin unterschieden sie sich wohltuend von den Vertretern nazistischer Justizwillkür) an Rechtsnormen, aber sie übersahen dabei, daß eben diese Normen zum Teil vom NS-Regime vorgegeben waren oder, soweit sie der Sphäre des preußisch-deutschen Militärs entstammten, der Aufrechterhaltung des Regimes dienten.

Aus mißverstandener Staatstreue oder aus juristischem Perfektionswahn verschärften sie manchmal sogar noch die Gesetze des Regimes, so im Falle der Wehrkraftzersetzung. Paragraph 5 der KSSVO besagte, wegen Wehrkraftzersetzung werde mit dem Tod bestraft,

* Göring, Keitel, Himmler.

»wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen Wehrmacht zu verweigern«.

Was aber war »öffentlich«? Eine offizielle Interpretation erklärte, öffentlich handle, »wer sich zwar an einen bestimmten Kreis wendet, aber damit rechnet, daß seine Äußerungen in die Öffentlichkeit dringen«. Das war den RKG-Richtern »zu eng«, wie sie im Januar 1940 in einem Urteil erklärten. Sie weiteten den Öffentlichkeitsbegriff eigenmächtig aus: Todeswürdig sollte danach eine wehrkraftzersetzende Äußerung bereits dann sein, wenn sie »im engsten Kreis« gefallen war und der Täter keine Gewähr für die Verschwiegenheit der Zuhörer gehabt hatte.

Nach dieser Auslegung verurteilten die RKG-Senate zahlreiche Soldaten zum Tod. Und wie das RKG urteilte, so verfuhren auch viele Feldkriegsgerichte an den Fronten -- mancher Landser bezahlte die Regimetreue der RKG-Richter mit dem Leben.

Doch da erwies sich, daß es in der Wehrjustiz noch so etwas wie eine freie Diskussion gab. Kritische Militärjuristen begehrten gegen die Gesetzesmanipulation des Reichskriegsgerichts auf. 2Druck auf die Kriegsrichter ist strafbar.«

Der Rechtsprofessor Erich Schwinge monierte, die Ausweitung des Öffentlichkeitsbegriffs trage »die Gefahr in sich, daß sich Denunziantentum breitmacht«, und dem MarineoBerstabsrichter Leverenz; später Justizminister in Schleswig-Holstein, fiel in der »Zeitschrift für Wehrrecht« ein für das gleichgeschaltete Deutschland gar seltsamer Satz ein: »Kein Gesetz kann es den Menschen verbieten, sich Gedanken über die Vorgänge des Lebens zu machen.«

Die RKG-Richter wurden daraufhin vorsichtiger. Auch die anderen Kriegsgerichte hielten sich mehr zurück.

Doch es gab Militärs, die solche Milderungstendenzen mit äußerstem Mißvergnügen verfolgten. Sie besaßen eine starke Waffe zur Disziplinierung der Militärjuristen: das Bestätigungsrecht, das jedem Gerichtsherrn ermöglichte, einen unliebsamen Schuldspruch aufzuheben. Und manche Militärs machten davon weidlich Gebrauch.

Beispiel: Ein Kapitänleutnant im deutschbesetzten Frankreich hatte seiner Frau in Erwartung der alliierten Invasion eine französische Kennkarte besorgt und war deswegen von einem Kriegsgericht im Januar 1944 wegen militärischen Ungehorsams zu vier Monaten und zwei Wochen Gefängnis verurteilt worden. Der Gerichtsherr lehnte die Bestätigung ab, die Frage der Wehrkraftzersetzung sei übergangen worden. Neue Verhandlung, neues Urteil: Todesstrafe.

Wer als Militärrichter solchen Pressionen erlag und an zweifelhaften Schuldsprüchen mitwirkte, wollte sich später wie Hans Karl Filbinger mit dem Argument freisprechen, er habe nicht anders handeln können. Der Kornelimünster-Forscher Schweling kam zu einem ganz anderen Befund: Manche Militärrichter waren »weit davon entfernt, sich der Auffassung des bestätigungsberechtigten Befehlshaber zu beugen«.

Das hatte zuerst der Generaloberst von Reichenau, Oberbefehlshaber der 6. Armee, erfahren müssen, der 1940 einen Kriegsrichter gegen dessen Willen zwingen wollte, in Fällen von Trunksucht die Todesstrafe zu verhängen. Als Reichenau auch die militärischen Beisitzer (neben dem Richter raßen immer ein Offizier und ein Soldat im Rang des Angeklagten) unter Druck setzte, ließ Heeresrichter Neumann den Kriegsrichter Meier-Branecke in der »Zeitschrift für Wehrrecht« die Militärs an die Gültigkeit des Paragraphen 119 des Militärstrafgesetzbuches erinnern: »Wer vorsätzlich einen gesetzwidrigen Einfluß auf die Rechtspflege ausübt, wird mit Gefängnis bis zu zehn Jahren bestraft.«

Gestützt auf die Garantie richterlicher Unabhängigkeit, die auch die KStVO noch enthielt, konnte kein Richter und kein Ankläger ernsthaft gezwungen werden, einen Schuldspruch zu fällen oder zu fordern, dem er nicht zustimmen mochte.

Ein Beispiel: Reichskriegsanwalt Hoffmann sollte die Anklage in dem Verfahren gegen den in sowjetische Gefangenschaft geratenen General von Seydlitz-Kurzbach vertreten. Er hielt das Verfahren für »politisch unklug« und bat, ihn yen der Aufgabe zu entbinden. Der Antrag wurde genehmigt.

Auch Hitler erlebte, daß man Militärrichtern nicht einfach befehlen konnte. Im Frühjahr 1942 schickte er dem Reichskriegsgericht einen Zettel, auf den er geschrieben hatte:

Feldmarschall v. Kluge meldet mir daß die Generale Förster und Kautfmann ohne Feinddruck befehlswidrig zurück. gehen. Kriegsgericht!

General Förster, Kommandierender General des VI. Armeekorps, und der Divisionskommandeur Kauffmann hatten ohne Genehmigung Hitlers ihre Truppen an der Ostfront nach rückwärts verlegt. Der ehemalige Heeresrichter von Ramdohr erhielt daraufhin vom RKG den Auftrag, die beiden Fälle zu untersuchen. Er kam zu dem Schluß, die beiden Generale hätten sich völlig korrekt verhalten, ein Verfahren gegen sie sei nicht zu rechtfertigen. Das RKG schloß sich dieser Meinung an.

Göring protestierte, als er hörte, was das RKG beschlossen hatte. Nur mit Mühe war er zu bewegen, Hitler die Nachricht zu überbringen. Keitel erzählte Lehmarm, beim Führer habe es »eine furchtbare Szene« gegeben, Hitler habe geschrien, jetzt werde er die Justiz selber in die Hand nehmen.

Er tat es -- in einer Rede vor dem Reichstag am 26. April 1942. Hitler rechnete mit der ihm verhaßten Militärjustiz ab: »Ich werde von jetzt ab eingreifen und Richter. die das Gebot der Stunde nicht erkennen, ihres Amtes entheben.«

Von Stund an sahen sich die Militärrichter einem verstärkten Druck Hitlers und seiner Gefolgsleute in der obersten Wehrmachtführung ausgesetzt. Ein Regen neuer Verordnungen und Ermahnungen prasselte auf die Militärjustiz nieder, jede dazu bestimmt, Gesinnungszwang und Kadavergehorsam in der Wehrmacht zu sichern.

Doch Hitler traute der Militärjustiz nicht mehr. Schritt um Schritt engte er ihren Freiraum ein: Im Mai 1944 verloren die Militärrichter ihren Beamtenstatus und wurden zu »Offizieren im Truppensonderdienst« erklärt, kurz darauf schloß Hitler die Wehrmachtrichter von allen (mit den Mitteln fragwürdigster »Sofortjustiz« arbeitenden) Standgerichtsverfahren aus, im Herbst verlor die Wehrjustiz die Zuständigkeit für politische Strafverfahren.

Und immer wieder fand der Diktator Militärs, die bereit waren, unliebsame Wehrjuristen kaltzustellen oder zu Erfüllungsgehilfen der Gesinnungstyrannei zu degradieren. OKW-Chef Keitel löste den lästig gewordenen Heeresrichter Neumann ab, und der Durchhalte-Feldmarschall Schörner versetzte Richter in die Führungsstaffel seines Generalstabs, da sie als »schärfstes Schwert der Erziehung« in die »vorderste Front gegen das schleichende Gift der Auflockerung« gehörten (so Schörner).

Die Richter und Reichskriegsanwälte des RKG blieben jedoch der alten Linie treu, das bißchen Rechtsstaatlichkeit. das der Wehrmacht geblieben war, zu wahren. Noch im Frühjahr 1945 schützten RKG-Richter Generale vor der Willkür Hitlers, wobei sie sich das Durcheinander der letzten Kriegsmonate listig zunutze machten.

Generalleutnant Weber, letzter Kommandant von Warschau, der einen Durchhaltebefehl Hitlers nicht befolgt hatte und deswegen die Todesstrafe erwarten mußte, wurde zu drei Jahren Festungshaft verurteilt und sein Kamerad Fries freigesprochen, der eines ähnlichen Delikts angeklagt worden war. In beiden Fällen »vergaß« das RKG, Hitler das Urteil zur Bestätigung vorzulegen. Und in einem dritten Fall, dem des Paris-Kommandanten von Choltitz, setzte das RKG zur Klärung weiterer Fragen die Hauptverhandlung aus -- Aussetzungsbeschlüsse aber bedurften nicht der Bestätigung durch den Gerichtsherrn.

Solche Manöver waren freilich nicht sonderlich riskant, denn als die großen Herren der Militärjustiz waren die RKG-Richter und Reichskriegsanwälte vor den ärgsten Folgen ihres Abweichlertums geschützt. Ein dichtes Netz persönlicher Verbindungen und Freundschaften machte sie nahezu immun gegen Eingriffe von außen.

Wie anders aber erging es da dem »kleinen« Kriegsrichter bei einer Division oder einem Armeekorps! Er sah sich allein der ganzen Autorität militärischer Führer ausgesetzt und mußte vorsichtig, wenn er noch rechtsstaatlich und menschlich handeln wollte, zwischen Truppe und scharfmacherischen Militärs hindurchsteuern.

Es bedurfte schon einiger Zivilcourage, wenn etwa der Kriegsrichter der 631. Infanteriedivision im März 1944 bei einem Soldaten, den er wegen Feigheit zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt hatte, dem Verlangen Keitels nach Todesstrafe trotzte und beim nächsten Urteil noch unter das alte Strafmaß herunterging. Und was mag es den Kriegsrichter der 306. Infanteriedivision, der einen Soldaten wegen Ungehorsams zu vier Wochen Arrest verurteilt hatte, gekostet haben, in einem neuen Verfahren wieder nur Arreststrafe zu verhängen, obwohl sein Gerichtsherr die Todesstrafe wünschte?

Oft wußte ein verständnisvoller Kriegsrichter schon durch die Art seiner Vernehmung einem schweren Delikt eine möglichst harmlose Deutung zu geben. Wo er hätte wegen Wehrkraftzersetzung oder Vorbereitung einer Fahnenflucht verurteilen müssen, wich er häufig auf die Tatbestände Erregung von Mißvergnügen oder Trunkenheit aus.

Kritik an Hitler als »Unreife« bagatellisiert

Ein Soldat der 21. Panzerdivision hatte Ende 1943 im Arrest Anti-Hitler-Parolen ("Früher war er ein Gefreiter, jetzt führt er ein ganzes Volk ins Verderben") an die Zellenwand gemalt. Er wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil »die schwere Tat aus dem unreifen, zwiespältigen Wesen des noch völlig in der Entwicklung begriffenen Angeklagten, der mehr Kind als Mann ist, zu erklären ist« -- so das Urteil.

Das Gericht des Befehlshabers Saloniki/Agäis sollte über einen Soldaten befinden, der zu Zeugen gesagt hatte, die Nazis seien die größten Feinde Deutschlands und die Soldaten seiner Einheit würden jeden rücklings niederknallen, der einen Angriff mitmache. Urteil: neun Monate Gefängnis -- wegen Trunkenheit.

Ein Gefreiter der 39. Infanteriedivision hatte zu Kameraden geäußert, er werde als erster überlaufen, wenn es zum Kampf komme. Er wurde wegen Erregung von Mißvergnügen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Der Richter diktierte: »Die Beweisaufnahme hat keinen Anhalt dafür ergeben, daß der Angeklagte die Manneszucht vorsätzlich untergraben oder seine Kameraden zum Ungehorsam verleiten wollte.«

Es gab sogar Juristen wie den Richter der 4. Armee, der Ende 1943 in einem Jahresbericht die Offiziere seiner Armee ermahnte, nicht immer »politische Verstöße« vor das Kriegsgericht zu bringen, weil es sich meistens doch nur um »einmalige Entgleisungen« handle. Mancher einsichtsvolle Kommandeur holte sich bei seinem Richter Rat, bevor er ein Verfahren in Gang setzte.

Nicht alle Militärrichter jedoch -- und das verbietet jede Verallgemeinerung -- schlossen sich dem eher maßvollen Kurs des RKG an. Manche erwiesen sich als instinktlose, starr auf Befehl und Gehorsam fixierte Richter, manche waren wie der aus dem Landesverratsverfahren gegen die »Rote Kapelle« bekannte Ankläger Manfred Roeder ein Schrecken für alle Angeklagten, und manches skandalöse Urteil verriet Brutalität und Intoleranz.

Meist waren es truppenfremde Gerichte und Richter, die so urteilten. Das in Berlin sitzende Zentralgericht des Heeres, nach dem 20. Juli 1944 unter der Kontrolle Himmlers, galt als ein übler Produzent von Todesurteilen, und im Hinterland der Ostfront urteilten Kriegsgerichte 1943/44 so kleinlich, daß ein General bei Hitler vorstellig wurde: »Mein Führer, wenn das mit den Feldurteilen so weitergeht, dann können wir bald die ganze Ostfront einsperren.«

Besonderes Aufsehen erregte der Fall des Leutnants Lorenz, der bei den Kämpfen um Charkow im März 1943 mit seinem aufgeriebenen Zug eine neue Stellung bezogen und dazu mehr Zeit benötigt hatte, als einem Kriegsgericht im rückwärtigen Merefa vertretbar erschien. Daraufhin der Schuldspruch:

Leutnant Lorenz wird zu sieben Monaten Gefängnis und. Rangverlust verurteilt, weil er eine nicht befohlene Absetzbewegung durchführte und erst Stunden später eine neue Stellung bezog. Entgegen dem Befehl suchte er sich, dem Widerstand des Feindes ausweichend, einen anderen Weg und entblößte dadurch den ihm angewiesenen Frontabschnitt.

Doch Lorenz« Männer nahmen das Urteil nicht hin, sie organisierten eine Protestbewegung, die eine Flut von Briefen an das OKW in Gang setzte. Schließlich fand sich in den OKW-Baracken am Berliner Hohenzollerndamm ein Offizier, der seine Vorgesetzten dafür gewann, mit ihm in einem Sandkasten die Lorenz-Lage noch einmal durchzuspielen. Bald darauf stand für den OKW-Mann fest: »Wir alle hätten gar nicht anders handeln können als Lorenz.« Das Urteil wurde aufgehoben.

Vor allem in den letzten Kriegstagen verloren einige Kriegsrichter die Nerven und ließen sich zu Urteilen hinreißen, die jeder geordneten Militärgerichtsbarkeit Hohn sprachen. Unvergessen sind auch die Feldgendarmen Schörners, die gegen kriegsmüde Soldaten wüteten, ohne von einem Kriegsrichter gestoppt zu werden, und die ebenso fanatisch verfuhren wie die »Fliegenden Standgerichte« von SS und Partei, die Hitler noch im März 1945 auf Soldaten und Zivilisten losließ.

Neben diesen Einzelfällen gab es jedoch eine geschlossene Gruppe unter den Militärrichtern, die sich deutlich von der Masse ihrer Kollegen abhob: die Männer der Marinejustiz.

Die Marinejustiz mit ihren oft grotesk überzogenen Vorstellungen von Disziplin und Manneszucht unterschied sich von der differenzierter urteilenden Heeresjustiz: Sie strafte härter, mitleidloser, starr. In den Schuldsprüchen ihrer Gerichte wirkte noch das Trauma der Matrosenunruhen von 1917/18 mit, spiegelte sich die heimliche Existenzangst eines Seeoffizierskorps wider, das die Selbstzerstörung der Kaiserlichen Flotte am Ende des Ersten Weltkrieges nie innerlich verarbeitet hatte. Hitlers Militärrichter -- bis heute unangetastet.

Und der Untergang des Dritten Reiches ließ Seeoffiziere und Marinerichter immer argwöhnischer nach Anzeichen einer neuen Matrosenmeuterei horchen und schon auf die leiseste Abweichung von militärischen Normen brüsk reagieren. Eben dies aber, die Flottenrevolte, schien sich anzubahnen, als Hitler schon tot war und sein Nachfolger Karl Dönitz, zugleich Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, sich gerade anschickte, mit den westlichen Alliierten eine Teil-Kapitulation zu verabreden.

Ein Ereignis, klein, doch so folgenreich, schockierte Dönitz« Richter und Offiziere: Am 4. Mai überfiel die Mannschaft des aus dem dänischen Sonderburg ausgelaufenen Minensuchboots »M 612«, das iii Kurland deutsche Soldaten abholen sollte, ihre Offiziere, sperrte sie ein und steuerte das Boot auf Kurs nach Kiel. Ein Schnellboot stoppte das Boot und brachte es gewaltsam nach Sonderburg zurück. Sofort trat ein Standgericht zusammen und verurteilte elf Mann der Besatzung zum Tode. Sie wurden erschossen.

Die Meuterei auf »M 612« schwemmte Nüchternheit und Ratio von Marineoffizieren und Richtern beiseite, überall wähnten sie Meuterer und Deserteure am Werk. Kommandeure und Kriegsrichter schlugen los, um durch Schreckensurteile den vermuteten Auseinanderfall der Marine zu verhindern:

* Am 4. Mai wurden in Kristiansand (Norwegen) der Matrose Nowack und die Haupt- bzw. Obergefreiten Kauffer, Bresk und Winkler zum Tode verurteilt und erschossen, weil sie Feindsender gehört und angeblich eine Liste zu beseitigender Offiziere aufgestellt hatten.

* Am 6. Mai wurde Kapitänleutnant Asmus Jepsen, Kommandant von Dönitz« Befehlszug »Auerhahn«, in Mürwik erschossen, weil er sich zu seiner Familie abgesetzt hatte.

* Am gleichen Tag wurden in Mürwik die Hauptgefreiten Albrecht, Freudenthal und Kaellander erschossen, weil sie versucht hatten, den Zerstörer »Paul Jacobi« am Auslaufen zu hindern.

* Am 7. Mai wurden drei Seeleute in Kristiansand erhängt, weil sie versucht hatten, Kontakt mit der norwegischen Widerstandsbewegung aufzunehmen.

* Am 10. Mai, zwei Tage nach der Kapitulation, wurden die Marinesoldaten Wehrmann, Schilling und Gail durch ein Kriegsgericht des Führers der Schnellboote wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt und in der Geltinger Bucht erschossen.

* Am 11. Mai 1945 wurde in Mürwik der Maschinengefreite Süß erschossen, weil er Befehle seiner Vorgesetzten »gehässig« (so das Urteil) kommentiert hatte.

Keines dieser Urteile hielt später einer juristischen Überprüfung stand, jedes war inhuman und sinnlos. Die Schuldsprüche widersprachen auch sämtlich militärischer Logik: Sie gingen fast alle davon aus, die Delinquenten hätten sich einem Kampfeinsatz entziehen wollen -- in Wahrheit wollten sie allenfalls alliierter Gefangenschaft entgehen.

So endete die Geschichte der deutschen Militärjustiz in einer wüsten Orgie der Gewalt. Der Justizterror bei Kriegsende, der sich noch in alliierten Kriegsgefangenenlagern fortsetzte, prägte auf lange Zeit hinaus das Bild von Hitlers Militärrichtern.

Erst einige Jahre nach dem Krieg, als Gerichte und Historiker begannen, die Taten der deutschen Wehrjustiz zu untersuchen, hellte sich das düstere Porträt der Hitler-Richter wieder ein wenig auf. Die Aliierten hatten nie einen deutschen Kriegsrichter (ausgenommen Lehmarm) vor Gericht gestellt, und auch die westdeutschen Gerichte, vor denen sich einige Militärrichter zu verantworten hatten, ließen sie unangetastet.

Doch ein moralischer Freispruch winkt ihnen nicht. Die Nachwelt wird nicht aufhören, sie darüber zu befragen, wie sie als Richter den Dienst für Hitlers Kriegsmaschine verantworten konnten, und jeder neue Fall Filbinger wird wieder die alte und doch immer aktuelle Frage nach Schuld und Sühne aufrühren.

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