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CHRISTDEMOKRATEN Der Männerbund

CDU-Chefin Angela Merkel steht einer Seilschaft ehrgeiziger Parteifürsten gegenüber. Vor Jahren haben sie sich im so genannten Andenpakt zusammengeschlossen. Aus dem Spaßbund von einst ist ein Machtfaktor in der Union geworden.
aus DER SPIEGEL 27/2003

Die Stimmung auf dem Nachtflug VA 930 von Caracas nach Santiago de Chile ist gereizt. Während unten die schneebedeckten Gipfel der Anden vorbeiziehen, diskutieren an Bord der vierstrahligen DC-8 zwölf junge Deutsche. Sie trinken Whisky der Marke »Chivas Regal«. Einige hält es nicht mehr in den engen Sitzen der Economy Class.

Die Delegation der Jungen Union (JU) ist sauer auf ihren Vorsitzenden. Drei Tage lang hat Matthias Wissmann sie in Venezuela von morgens um sieben bis spät in die Nacht von einem Empfang zum nächsten gehetzt. »Wir wollen endlich etwas vom Land sehen«, sagt einer der Reisenden genervt.

Beschwingt vom Whisky, verfasst die Gruppe ein Manifest, gekrakelt auf einen Briefbogen der venezolanischen Fluggesellschaft Viasa. »In Sorge um die hochkarätig besetzte Delegation und zum Schutze der Gesundheit schließen wir uns hiermit zum Pacto Andino Segundo zusammen.« Eine Kernforderung des Bündnisses lautet: »Mehr Ambiente in der Politik«. Es ist der 25. Juli 1979.

Elf Jahre später, am 4. August 1990, sitzt eine junge Frau in einem dunklen Saal in Ost-Berlin. Draußen herrschen 32 Grad, es ist der heißeste Tag des Jahres. »Quo vadis, Demokratischer Aufbruch?«, sagt der Tagungsleiter. Es geht um die Frage, ob sich die Partei mit der Ost-CDU zusammenschließen soll.

Bei der Diskussion geht es hoch her, doch die junge Frau mit dem braunen Pagenschnitt bleibt still. Ihr Name ist Angela Merkel. Innerlich hat sie sich längst vom Demokratischen Aufbruch verabschiedet, dessen Pressesprecherin sie ein paar Monate lang war.

Nur einmal, nach dem Mittagessen - Schnitzel mit brauner Soße und Sättigungsbeilage -, mischt sich Merkel ein: Johannes Gerster, den Bundeskanzler Helmut Kohl nach Berlin geschickt hat, will die Ostdeutschen über das Abstimmungsverfahren belehren - als ob sie das nötig hätten. Aus dem Hintergrund herrscht Merkel ihn an: »Halten Sie sofort den Mund. Wenn das noch schief geht, geht es auf Ihre Kappe.«

Es geht nicht schief: 93 Delegierte stimmen für den Anschluss, 26 dagegen, 5 enthalten sich. Wenige Wochen später wird Angela Merkel offiziell Mitglied der CDU.

Ein paar junge Männer, die auf einem Nachtflug einen Spaßpakt schließen, eine junge Frau, die in die CDU eintritt - zwei kleine, harmlose Ereignisse, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Aber in ihnen stecken die Wurzeln für ein aktuelles Drama.

Aus dem Andenpakt ist eine mächtige Seilschaft innerhalb der CDU geworden. Über die Jahre sind neue Mitglieder dazugestoßen und haben wichtige Positionen erobert, unter anderem die Ministerpräsidenten Roland Koch, 45, aus Hessen, Christian Wulff, 44, aus Niedersachsen und Peter Müller, 47, aus dem Saarland. Und aus Angela Merkel, 48, wurde die Partei- und Fraktionsvorsitzende der CDU.

Dass die Union derzeit so führungslos wirkt, so zerstritten und schwankend, hat auch mit dem Aufeinanderprallen dieser beiden Kraftfelder zu tun. Im Jahr 2006 will das derzeit mächtigste Paktmitglied Roland Koch Kanzlerkandidat werden. Merkel will es auch.

Bis in die neunziger Jahre hinein sah es so aus, als könnten die Mitglieder des Andenpakts in der Zeit nach Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble die Macht in der Partei unter sich aufteilen. Denn darüber waren sich die Freunde einig: Aus ihren Reihen soll einmal der CDU-Vorsitzende kommen. Doch dann kam ihnen Angela Merkel in die Quere.

Als die Spendenaffäre wie ein Wirbelsturm über die CDU hereinbrach, war über Nacht nichts mehr wie zuvor. Plötzlich stieg Merkel zur Parteivorsitzenden auf, und die schöne Karriereplanung der Geheimbündler stand in Frage.

Seither schwelt ein Machtkampf zwischen den alten Freunden aus dem Andenpakt, die sich als die wahren Enkel Kohls begreifen, und der Ostdeutschen, die sich mit Kaltschnäuzigkeit und einem Gespür für historische Gelegenheiten an die Spitze der CDU gearbeitet hat. Doch als Merkel 2002 Kanzlerkandidatin werden will, zeigt der Andenpakt seine Stärke und verhindert den Karrieresprung. Die Vorsitzende selbst empfand und empfindet das Treiben der Paktbrüder als große Barriere.

Auch andere mischen beim Machtkampf in der Union mit. Stoiber und die CSU zum Beispiel haben die Hoffnung auf die nächste Kanzlerkandidatur nicht aufgegeben. Am brisantesten aber ist die Auseinandersetzung zwischen Merkel und dem Andenpakt, zwischen den Männern aus dem Westen und der Frau aus dem Osten.

Bernd Huck hat einen weißen Haarkranz und trägt eine Nickelbrille. Er arbeitet in einem schmucklosen vierstöckigen Bürogebäude in Braunschweig. Sein Beruf ist Wirtschaftsanwalt, und er sitzt im Vorstand des Braunschweiger Kunstvereins. Außerdem ist er Generalsekretär des Andenpakts. Dort nennen sie ihn nur »Sir Huck«, weil er sich wie ein Lord kleidet und perfekt Englisch spricht.

Bei ihm laufen alle Fäden der Loge zusammen. Er hat den Stift geführt, als sich der Pakt vor 24 Jahren sein Gründungsmanifest schrieb. Bis heute hütet er das Dokument in einem Ordner in seinem Büro. Er organisiert die geheimen Zusammenkünfte. Er sondiert, wann die Mitglieder Zeit haben, legt Termine fest und verschickt die Einladungen. Sie tragen den Briefkopf: PACTO ANDINO, El secretario General.

Huck ist Jahrgang ''48 und war in den siebziger Jahren im JU-Vorstand für Sicherheitspolitik zuständig. Lange hielt er es nicht in der großen Politik aus. Ständig musste er eitle Parteifreunde besänftigen, die wegen irgendetwas »pikiert« waren. Huck nennt das den »Faktor P« in der Politik. Er zieht an seiner Zigarette und sagt: »Im Andenpakt kann keiner pikiert sein, weil es ihn offiziell gar nicht gibt.«

Es ist nicht leicht, Generalsekretär eines konspirativen Bundes zu sein. Zum Beispiel muss Huck die Treffpunkte so wählen, dass es nicht auffällt, wenn ein Dutzend schwarzer Limousinen vorfährt.

Mal treffen sich die Herren auf dem abgelegenen Bauernhof eines Paktmitglieds in Lührsbockel in der Lüneburger Heide, mal auf einer eigens gecharterten Barkasse auf dem Rhein, »für die wirklich ver-

traulichen Gespräche«, wie Huck in seinen Einladungen zu schreiben pflegt.

Die Sitzungen des Paktes eröffnet Huck mit einem Satz aus dem Manifest: »Die Lage ist da.« Um ihn herum sitzt dann die Nomenklatura der Nach-Kohl-CDU: Koch, Wulff, Müller, Wissmann, Parteivize Christoph Böhr, 49, der baden-württembergische Fraktionschef Günther Oettinger, 49, der außenpolitische Fraktionssprecher Friedbert Pflüger, 48, der Vorsitzende der EVP-Fraktion im EU-Parlament, Hans-Gert Pöttering, der hessische CDU-Fraktionschef Franz Josef Jung, 54, der hessische Innenminister Volker Bouffier.

Einmal im Jahr bittet Huck zu einer Auslandsreise, im internen Jargon »Maßnahme« genannt. In Jerusalem trafen die CDU-Freunde einst Staatspräsident Eser Weizman und in Paris Jacques Chirac, damals noch Bürgermeister der französischen Hauptstadt. In diesem Jahr luden sie sich in Madrid beim spanischen Premier José María Aznar zum Abendessen ein.

Trotz aller Diskretion führt Huck den Andenpakt wie einen guten deutschen Verein. Es gibt Mitgliederlisten, eine jährliche Vollversammlung und ein Sonderkonto »Andenpakt« unter der Nummer 332 676 610 bei der Deutschen Bank in Braunschweig. Jedes Jahr müssen die Logenbrüder bis zu 50 Euro als Kostenpauschale überweisen.

Weil die Treffen der Geheimhaltung unterliegen, wird wenig schriftlich festgehalten. In den Einladungen ist stets nur von »Interna« die Rede. Da heißt es dann, es gebe wieder »hinreichend Gesprächsstoff« wegen der »Ereignisse vor, während und nach dem Bundesparteitag wie auch durch anstehende Parlamentswahlen«. Auf den Treffen, die in der Regel zweimal jährlich stattfinden, werden die wichtigen Fragen der Parteipolitik erörtert. Wer soll ins Präsidium? Wer soll nächster Bundespräsident werden? Wer Kanzlerkandidat?

Als der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, der im Andenpakt Gaststatus genießt, vor drei Jahren für das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden kandidieren wollte, redeten seine Paktfreunde ihm dies aus. Müller war bereits kraft seines Amtes Mitglied des Präsidiums, und der Pakt wollte die Wiederwahl seines Mitglieds Christian Wulff nicht gefährden.

»Wir haben keine Regeln«, sagt Huck. Aber es gibt ungeschriebene Gesetze. Das wichtigste: Kein Mitglied des Andenpaktes wird jemals öffentlich den Rücktritt eines anderen fordern - eine in Krisen womöglich überlebenswichtige Absicherung. »Auch ein verstecktes Gemetzel wie bei Schröder und Lafontaine wäre bei uns nicht denkbar«, sagt Wulff.

Im Gegenteil. Die Mitglieder des Andenpaktes sind untereinander so loyal, dass schon mal einer für den anderen den Kopf hinhält.

Das Gründungsmitglied Franz Josef Jung zum Beispiel. Er war Stellvertreter von JU-Chef Wissmann und holte Roland Koch in den Geheimbund. Regelmäßig lädt er die Paktmitglieder zur »politischen Weinlese« aufs väterliche Gut

in Eltville, Spezialität: Erbacher Michelmark Riesling.

Im Herbst 2000 geht es für Jung um die Frage, ob er seine Karriere für das politische Überleben seines Andenfreundes Koch riskieren will.

Koch steht bereits mit dem Rücken zur Wand, als die Medien am 3. September 2000 von einer Großspende über 50 000 Mark berichten, die unter der Verantwortung des Ministerpräsidenten und CDU-Landesvorsitzenden verdunkelt worden sei. Auch Jung wird in den Zusammenhang mit Finanzmanipulationen gebracht.

Die hessische FDP-Landesvorsitzende Ruth Wagner signalisiert Koch, dass die christlich-liberale Koalition ohne Opfer nicht zu halten ist. Das Opfer soll Jung sein.

»Wenn ich helfen kann, will ich helfen«, sagt Jung bei einer Besprechung mit Koch. Am 7. September tritt er zurück.

Zweieinhalb Jahre später wird Roland Koch mit absoluter Mehrheit als Ministerpräsident in Hessen bestätigt - und Franz Josef Jung feiert ein Comeback als Vorsitzender der Landtagsfraktion.

Was die Paktmitglieder zusammenschweißt, ist keine inhaltliche Agenda, sondern die gemeinsame politische Biografie: »Uns eint die Tatsache, dass wir gegen den Zeitgeist der 68er in die CDU eingetreten sind«, sagt Peter Müller. »Im Jugendzentrum stritt man um die Frage: Bist du Sozialist oder Kommunist? Wir von der Jungen Union waren unter Druck, weil wir als Revanchisten galten.«

Während die Studentenbewegung Anti-USA-Slogans skandierte und vom Demokratischen Sozialismus träumte, traten Müller und Co. in die Junge Union ein, wegen Nato, Westbindung, Marktwirtschaft. »Wir waren Außenseiter«, sagt Friedbert Pflüger. »Man brauchte doch an der Uni nur gegen den RCDS zu reden, schon johlten die Leute.« Doch auch in der CDU waren die Jungen nicht wohl gelitten. Sie kämpften für die Ostverträge und bewunderten den Kniefall Willy Brandts in Warschau. Sie galten in der eigenen Partei als Revoluzzer, trugen lange Haare und hörten die Woodstock-Musik. »Wir waren Kerle, die Linken waren die Angepassten«, sagt Pflüger.

Geblieben ist aus den gemeinsamen Kampfzeiten ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl. Weil man sich vertraut, wird ehrlich miteinander geredet. »Ich habe selten eine solch schonungslose Offenheit erlebt«, sagt Matthias Wissmann.

Daraus vor allem bezieht der Pakt seine Macht. Vereinbarungen, die hier getroffen werden, haben Bestand. Egal, ob es um einen Präsidiumsplatz oder die Frage geht, wer nächster Kanzlerkandidat werden soll: Ist sich der Andenpakt einig, ist gegen ihn in der CDU keine Entscheidung möglich.

Aber die Herren sind sich nicht immer einig. Über die Jahre haben sie sich, bei aller Freundschaft, politisch teilweise auseinander entwickelt. Wulff ist eher liberal, Koch stramm konservativ. In der Frage, ob die Türkei der EU beitreten soll, konnte der Pakt keinen Konsens finden. Auch das Thema Zuwanderung ist umstritten.

Die Verbundenheit reicht zudem nicht so weit, dass alle Mitglieder Koch automatisch in seinem Wunsch nach der Kanzlerkandidatur unterstützen. Bei einer so wichtigen Frage guckt jeder, wo seine eigenen Interessen liegen. Auch Wulff traut sich das Amt des Bundeskanzlers zu. Gleichwohl sind die Ähnlichkeiten in der Biografie und im Lebensgefühl ein starker Kitt. Gegen Koch würde Wulff nicht antreten.

Auch andere Mächtige in der CDU, wie Fraktionsvize Friedrich Merz, fühlen sich den Altersgenossen im Andenpakt verbunden. »Zwischen uns herrscht so etwas wie eine Grundloyalität«, sagt Merz über seine Freunde Koch und Müller.

Frauen dagegen haben im Andenpakt nichts verloren, es sei denn als Ehefrauen.

Von den Ostdeutschen trennt die Männer des Paktes ihre andere politische Biografie.

Angela Merkel ist beides: Frau und Ostdeutsche.

Manchmal ist Angela Merkel einsam in der eigenen Partei. Dann merkt sie, dass sie nicht durchdringt, dass sie die Leute nicht erreicht, unverstanden bleibt. Dann fehlt ihr die Biografie eines Koch oder eines Wulff, die schon als Teenager in der Schüler-Union waren. Sie lebte hinter der Mauer, als andere ihre Seilschaften gründeten.

Die Männer aus dem Andenpakt müssen sich nie des Vorwurfs erwehren, sie verstünden die CDU nicht. Sie sind die CDU mit Leib und Seele. Die Vorsitzende Angela Merkel muss dauernd beweisen, dass sie wirklich dazugehört. Dies ist ihr größter Nachteil im Duell mit Koch.

Merkel hat oft versucht, den emotionalen Graben, der sie von der Partei trennt, zu überbrücken. Bislang ist jeder Versuch gescheitert.

Sie hat ein Konzept mit dem Titel »Neue soziale Marktwirtschaft« vorgelegt, mit dem sie sich als Erbin Ludwig Erhards profilieren wollte. Sie hat in der Debatte um Joschka Fischers Vergangenheit die 68er Bewegung schärfer verurteilt als die, die damals gegen sie gekämpft haben. Sie sagt: »Wer in der CDU eine Führungsposition hat, sollte Christ sein.«

Das alles verstärkte nur den Eindruck, sie sei eine Fremde in der Union. »Das ist angelerntes Wissen«, sagt Merz, wenn sie es nicht hört, und viele nicken stumm.

»Angelerntes Wissen«, dieser Vorwurf macht Angela Merkel wütend. Sie stehe mit der »Neuen sozialen Marktwirtschaft« in der Tradition der Union und im Gegensatz zu Gerhard Schröder und dessen »Neuer Mitte«, sagt sie im sechsten Stock des Kölner Hyatt-Hotels, hoch über dem Rhein. Dann platzt es aus ihr heraus: Sie findet die Kritik an ihr einfach nur dreist.

Dass ihr Lebenslauf in der DDR weniger gelten soll als der von Koch, als die Sozialisation über die Schüler-Union, die Junge Union und das Jurastudium, will sie nicht akzeptieren. »Meine Biografie ist naturgemäß eine andere als die meiner Kollegen aus dem Westen«, sagt sie.

Sie wirkt verletzt in diesem Moment, verletzt und allein. Auch nach 13 Jahren in der CDU hat sie keine Freunde in der Partei gewonnen. Freundschaften bewahrt sie sich auf für das Privatleben, politische Beziehungen begreift Merkel als Zweckbündnisse auf Zeit. Das Lebensgefühl, das die Männer des Andenpaktes zusammen- schweißt, trennt Merkel von ihrer Partei. Dagegen ist sie machtlos.

Deshalb muss sie ihren Kampf gegen den Geheimbund ohne einflussreiche Verbündete führen. Sie verlässt sich auf einen kleinen Stab von Mitarbeitern. Willi Hausmann, der Bundesgeschäftsführer, gehört dazu, Beate Baumann, Merkels Büroleiterin, ihre Sprecherin Eva Christiansen.

Merkels Bürotür steht meist offen für die Troika ihrer Helfer. Ebenso wie Hausmann, der für Merkel das Konrad-Adenauer-Haus kontrolliert, sind die beiden Frauen mehr als nur Mitarbeiter. Sie sind die Einzigen, auf deren Loyalität sich Merkel hundertprozentig verlässt. Bei ihnen, nicht bei politischen Freunden, sucht Merkel in schwierigen Stunden Rat.

Als der frisch gewählten CDU-Chefin im August 2000 allmählich klar wurde, dass der von ihr vorgeschlagene neue Generalsekretär Ruprecht Polenz eine Fehlbesetzung war, sprach sie zuerst mit Baumann und Christiansen über die Lage. Die Sprecherin war es, die in kleiner Runde den schmerzhaften Schritt zuerst empfahl: dass man Polenz vielleicht nach nur sechs Monaten zum Rücktritt drängen müsse.

Die drei Mitarbeiter eint vor allem eines: Ihre Loyalität gilt erst der Vorsitzenden - und dann der Partei. »Beate Baumann hat ihr Leben Angela Merkel verschrieben«, sagt einer, der sie lange kennt. Für Christiansen und Hausmann gilt dasselbe: Als Mitarbeiter eines anderen Politikers kann man sie sich nicht mehr vorstellen.

Alle drei haben selbst keine politischen Ambitionen außer Merkels Erfolg. Sie siezen ihre Chefin und wissen, wo der eigene Platz ist. Sie stellen für Merkel keine Gefahr dar. Darum hört Merkel auf sie.

Sorgfältig achtet das Trio darauf, im Hintergrund zu bleiben: Baumann kleidet sich so unscheinbar, als hoffte sie, dadurch unter die Wahrnehmungsschwelle zu sinken: dunkle Bluse, dunkle Hose, kein Lippenstift, kein Make-up. Dabei halten viele Beate Baumann für die zweitmächtigste Frau in der Union. Dafür spricht, dass Friedrich Merz sie fast genauso verachtet wie Merkel, seit die CDU-Chefin ihn vom Thron des Fraktionsvorsitzenden stieß.

Auch Pressesprecherin Christiansen arbeitet unauffällig und effizient. Undenkbar, dass sie Merkel beim Interview Zettel zuschiebt, wie Kochs Sprecher Dirk Metz, oder gar der Chefin vor laufenden Kameras die richtigen Antworten ins Ohr flüstert, eine Spezialität von Stoibers Intimus Martin Neumeyer.

Dieses Team allein ist nicht schlagkräftig genug, um gegen den Andenpakt bestehen zu können. Merkel braucht machtvollere Verbündete. Da sie zu spät gekommen ist, um Mitglied eines langfristigen Netzwerks zu werden, muss sie Zustimmung von Fall zu Fall per Telefon organisieren.

Merkel telefoniert unaufhörlich: mit Stoiber, mit den Ministerpräsidenten, mit den Vorsitzenden der Landesgruppen. Trifft sich am Dienstagabend ein Hintergrundkreis der Fraktion, ruft Merkel am Mittwoch ein Mitglied dieses Kreises an.

Bei der Morgenlage sitzt Merkel hinter ihrem Telefon, montagnachmittags, wenn die Sitzung des Geschäftsführenden Fraktionsvorstands beginnt, schon wieder. Es ist eine psychologische Stütze, so als könnte ihr das Geschehen nicht entgleiten, solange der Apparat in der Nähe ist.

»Mein größter Lernerfolg ist der richtige Einsatz des Telefons«, sagt Merkel. Mit ihm kann sie die Ereignisse besser kontrollieren, und Kontrolle bedeutet Sicherheit. Doch mit dieser Strategie ist sie im Kampf um die Kanzlerkandidatur 2002 gescheitert.

Am Samstag, dem 8. Dezember 2001, berichtet der »Tagesspiegel« von einem Geheimplan, den der saarländische Ministerpräsident Peter Müller in kleinem Kreis ausgeplaudert habe. Danach wollen einige CDU-Präsiden, Ministerpräsidenten und Landeschefs zu Parteichefin Merkel gehen und sie zum Verzicht auf die Kanzlerkandidatur bewegen.

»Die Angst vor mir muss groß sein«, sagt Merkel, als sie davon erfährt. Müller tut die Meldungen als »Spekulation« ab. Das stimmt nicht ganz. In Wahrheit steht Merkel die erste Machtprobe mit dem Andenpakt bevor.

Vor dem CDU-Parteitag im Dezember in Dresden hat Huck den Andenpakt zu einem Geheimtreffen zusammengerufen. Man redet über die K-Frage. Die große Mehrheit, das wird schnell klar, will Stoiber. Viele fürchten, Merkel könne die Kandidatur in ihrem geplanten Vier-Augen-Gespräch mit Stoiber an sich reißen. Die Teilnehmer verabreden, einige Mitglieder des Paktes zu Merkel zu senden, um sie zum Verzicht zu drängen.

Nach und nach melden sich die Männer bei der Vorsitzenden. Zu den Ersten gehört Christoph Böhr, der rheinland-pfälzische Oppositionschef. Als einer der Letzten wagt sich CDU-Vize Christian Wulff aus der Deckung. Merkel war sich sicher, dass Wulff sie unterstützen würde.

Aber Merkel glaubt noch immer, dass sie die K-Frage gewinnen kann. »Ich bin bereit zu einer Kanzlerkandidatur«, verkündet sie per Zeitungsinterview.

Die Vorsitzende macht sich Illusionen über die wahre Stimmung in ihrer Partei. Mit Baumann und Christiansen geht sie die Liste möglicher Unterstützer durch. Doch die beiden Beraterinnen wissen nichts über die Gemütslage der CDU. Sie wissen noch nichts über die Macht des Andenpaktes. Roland Koch werde Merkel unterstützen, glauben sie.

In der Woche vor der entscheidenden Präsidiumssitzung mischt sich Fraktionschef Friedrich Merz in die K-Frage ein. Merz weiß, dass die Andenbrüder für den Bayern sind. Daher ist sein Vorstoß ohne Risiko. In einem Telefongespräch verabredet er mit CSU-Landesgruppenchef Michael Glos, dass die kleine Schwesterpartei Stoiber auf der Klausurtagung der Landesgruppe in Wildbad Kreuth offiziell vorschlagen wird. Dadurch wollen sie Merkel zum Aufgeben drängen.

Koch ist in der Woche des Duells in den Skiurlaub gefahren. Die Furcht, Merkel könne dem Zauderer Stoiber die Kandidatur noch entreißen, wächst. Die Freunde rufen auf der Skipiste an und beschwören ihn, mit Merkel zu sprechen. Er stimmt zu.

Am Mittwoch, dem 9. Januar, kommt es zu einem lautstarken Telefonat zwischen Koch und Merkel. Der Ministerpräsident spricht seiner Parteichefin die »Berechtigung« zur Kandidatur ab. Neben ihm auf der Skipiste steht sein Logenbruder Franz Josef Jung.

Merkel ist allein in ihrem Büro. Erst jetzt begreift sie, dass sie verloren hat. Mit einem gecharterten Flugzeug reist sie zu Stoiber und bietet ihm am Frühstückstisch in Wolfratshausen die Kanzlerkandidatur an.

Im Nachhinein rationalisiert Merkel ihren Verzicht. Sie glaubt, ihr Rückzieher habe der Partei das Gefühl gegeben, dass sie nicht nur an sich selbst denke. Tatsächlich aber hat Merkel sich nicht gegen den Andenpakt durchsetzen können.

Es ist Christian Wulff, der Merkel die Existenz des Andenpakts verraten hat. Er gibt ihr zumindest eine Ahnung davon, nach welchen Regeln der Geheimbund funktioniert. Nach und nach erfährt Merkel, dass der Pakt alle Ebenen der CDU-Politik durchdringt. In kleinem Kreis muss sie später eingestehen: »Ich habe den Andenpakt unterschätzt.«

Als der saarländische Regierungschef Peter Müller öffentlich über eine Zwangskastration für Sexualstraftäter nachdenkt, nimmt sie Wulff zur Seite: Ob er und die anderen Andenpakt-Männer Müller nicht in die Schranken weisen könnten? »So etwas machen wir untereinander nicht«, antwortet Wulff. »Wenn das bei euch so ist, dass ihr das nicht macht«, entgegnet Merkel, »dann kann ich meine Bücher schließen.«

Es ist schon dunkel, als die frisch gewählte Unionsfraktionsvorsitzende am Sonntag, dem 20. Oktober 2002, vor der Zentrale des Fernsehsenders Sat.1 in Berlin aus ihrem Dienstwagen steigt. Jürgen Doetz, der Geschäftsführer des Senders und Mitglied des Andenpaktes, nimmt sie in Empfang. Sie gehen in den vierten Stock. Dort warten bereits die anderen Männer. Merkel bekommt einen Platz neben Generalsekretär Huck. Die Stimmung ist bemüht locker.

Angela Merkel trifft zum ersten Mal den Pacto Andino.

Eigentlich haben die Paktbrüder nicht vorgehabt, die Parteichefin je einzuladen. Schon dass Wulff Merkel die Existenz des geheimen Zirkels verriet, hat viele Mitglieder verärgert. Noch mehr hat manchen empört, dass ausgerechnet der Spiritus Rector des Paktes, Matthias Wissmann, Merkel kurz nach der Bundestagswahl im vergangenen September unter vier Augen ein Treffen versprach. »Der wollte sich für einen Posten im Fraktionsvorstand empfehlen«, sagt ein Mitglied, »nach dem Motto: Die stehen alle hinter mir.«

Sogar Termine hatte Wissmann mit dem Büro der Vorsitzenden bereits sondiert. Die anderen Mitglieder haben sie verstreichen lassen, bis das Personaltableau für den Vorstand stand. Wissmann wurde nicht stellvertretender Fraktionsvorsitzender.

Aber die einmal ausgesprochene Einladung konnte der Pakt schlecht widerrufen; das wäre eine offene Kampfansage an Merkel gewesen. Jetzt sitzen beide Seiten beisammen. Man plaudert, man scherzt, ganz so, als handelte es sich um ein Routinetreffen. Es gibt Steak und Salat, Wein und Bier.

Der Parteitag naht. Merkel spricht über die Wahl zum Präsidium. Es muss ein Kandidat für die Nachfolge von Volker Rühe als Parteivize gefunden werden. Merkel will über die Personalie reden. Doch sie stößt auf eine Mauer höflicher Ausflüchte.

Erst als Merkel weg ist, sprechen die Paktmitglieder über den Posten, der besetzt werden muss. Sie küren einen Kandidaten: Christoph Böhr soll Rühe ersetzen. Am nächsten Tag, so wird vereinbart, werden zwei Teilnehmer des Treffens unabhängig voneinander zu Merkel gehen und Böhr vorschlagen.

Am 11. November wird Christoph Böhr zum stellvertretenden CDU-Vorsitzenden gewählt. Über die wirklich wichtigen Dinge reden die führenden CDU-Männer, wenn die Vorsitzende gegangen ist.

Roland Koch braucht die Stimme kaum zu heben, um seine Zuhörer zu begeistern. »Wir werden den Bürgern sagen, wie sie belogen worden sind«, sagt er, und unten auf den Bänken in der Kasseler Messehalle 3 johlen die Leute.

Angela Merkel ist die nächste Rednerin. »Mir wäre es recht, der Bundeskanzler würde es einsehen, dass es zum Kotzen ist, wenn man vor der Wahl das eine verspricht und nachher das andere tut«, ruft sie, und für einen ganz kurzen Moment herrscht peinliche Stille im Saal, weil die Vulgarität des Ausdrucks so gar nicht zum ruhigen Stil der CDU-Vorsitzenden passt.

Gerade bei großen Auftritten passiert es Merkel gelegentlich, dass sie die Stimmung nicht trifft, dass sie einen Halbton danebenliegt. Es wirkt dann immer so, als hätte sie ihre Rolle noch nicht gefunden.

Auch Koch vergreift sich manchmal im Ton. Er hat Ver.di-Chef Frank Bsirske vorgeworfen, er wolle den Reichen eine neue Art Judenstern anheften. Doch Kochs Ausrutscher stärken sein Image als kraftvoller Politiker, zumal er aus dem Andenpakt keine Kritik fürchten muss. Keiner der Freunde rügte den Ausrutscher. »Herr Koch hat sich entschuldigt«, sagt Christian Wulff, »damit ist für mich die Sache erledigt.«

Seit Koch mit der Wiederwahl in Hessen seine Bewährungsprobe bestanden hat, ist das parteiinterne Rennen um die Kanzlerkandidatur 2006 eröffnet. Doch die Rollen bei dem Kampf um die Führung sind eigentümlich vertauscht: Merkel, die als Partei- und Fraktionschefin ein natürliches Zugriffsrecht hat, agiert aus der Defensive. Koch, ein CDU-Ministerpräsident unter vielen, greift selbstbewusst an.

Merkel ist am stärksten, wenn sie Diskussionen moderiert. Verschiedene Meinungen abwägen, zwischen konkurrierenden Positionen vermitteln, einen Kompromiss finden, das liegt ihr. Aber die CDU will von ihr den Beweis, dass sie auch führen kann.

In der Irak-Debatte sah Merkel ihre Chance, Stärke zu zeigen. Sie zwang ihren skeptischen Parteifreunden einen Pro-Amerika-Kurs auf, durch endlose Telefongespräche, durch Gremiendiplomatie, durch Tricks. Am Ende setzte sie sich durch. Überzeugt hatte sie allerdings die wenigsten.

Im Bundestag verlor Merkel das Rededuell gegen Schröder. Bis zum Kriegsausbruch sagte sie nicht, ob sie für den Krieg sei. Als sie auf dem Höhepunkt der innenpolitischen Auseinandersetzung nach Washington reiste, sagte ihr Begleiter, der Abgeordnete Friedbert Pflüger, nach einem Vortrag: »Das hat sie toll gemacht.« Auch ein Lob kann sehr herablassend klingen.

Anders als Angela Merkel muss Roland Koch keine Durchsetzungskraft beweisen, die nimmt man ihm ab, seit er die Spendenaffäre überstanden hat. Ihm geht es darum, sich als Macher auch auf Bundesebene zu profilieren - zum Wohle Deutschlands.

Deshalb setzt er sich mit dem nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Peer Steinbrück (SPD) gemeinsam ins Fernsehen und sagt Sätze wie: »Ein richtiger Streit erfordert zwei richtig klare Positionen. Wir sind gesprächsbereit.«

Merkel kann dem medienwirksamen Treiben Kochs im Bundesrat nur zusehen. So wie während der Amerika-Reise des Hessen, als US-Präsident George W. Bush ihn überraschend empfing. Die Bilder sind für den internen Machtkampf unbezahlbar. Merkel musste in Washington mit dem Vizepräsidenten vorlieb nehmen.

Koch weiß, dass er sich Alleingänge im Bundesrat leisten kann. Zwar genießt er als Mitglied des Andenpaktes auch keine Narrenfreiheit. Aber seine Freunde würden ihn nicht öffentlich desavouieren. Auch dank dieses Bündnisses genießt Koch in der CDU Heimrecht.

Angela Merkel dagegen ist in der eigenen Partei zum ewigen Auswärtsspiel verdammt. Daran kann sie nichts ändern. Das macht ihr Sorgen. Öffentlich will Merkel nicht über den Andenpakt reden. Es könnte als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden, als Eingeständnis ihrer Fremdheit.

Sie nimmt aber die Bedrohung genau wahr, die von dem Bund für sie ausgeht. Die bierseligen Abende, die Reise-Anekdoten - es gibt Dinge, die kann sie nicht mehr aufholen. Es ist eine andere Art von Sozialisation, eine andere Art von Kameradschaftsgeist, die sie von den Männerfreunden trennt.

Aber sie kämpft. Merkel will den Andenpakt besiegen, indem sie ihn neutralisiert. Ein Mitglied nach dem anderen nimmt sie sich vor. Christian Wulff, glaubt sie, hat sie bereits für sich gewonnen. Auch Matthias Wissmanns Ansehen im Andenpakt ist geschwunden, seit er die Parteivorsitzende in den Kreis lud.

Friedbert Pflüger, Gründungsmitglied des Paktes und außenpolitischer Sprecher der Fraktion, wich während der Irak-Debatte nicht von Merkels Seite. Im kommenden Herbst sind Neuwahlen des Fraktionsvorstands. Pflüger will dann zum Stellvertreter Merkels aufsteigen. Die Parteichefin weiß, dass auch die alten Freunde nicht einfach an ihr vorbei Politik machen können.

Koch kann sich auf die Mechanismen des Paktes nur verlassen, solange sie geheim bleiben. Ihn stört, dass Mitglieder des Paktes zu plaudern begonnen haben.

So wird der ansonsten sehr redegewandte Karrierepolitiker äußerst einsilbig, wenn man ihn auf die Macht des Paktes anspricht. Dann wölbt Koch die Lippen vor, schaut auf seine Hände und sagt kühl: »Bei solchen Fragen pflege ich Gespräche mit Journalisten abzubrechen.«

RALF NEUKIRCH, CHRISTOPH SCHULT

* Pressesprecherin Eva Christiansen, Büroleiterin BeateBaumann.* Oben: als stellvertretende Regierungssprecherin mitDDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, 1990; unten: mitBundeskanzler Helmut Kohl (M.) beim »Deutschlandtag« der JungenUnion, 1984.* Christian Wulff (1), Elmar Brok (2), Wulf Schönbohm (3),Volker Bouffier (4), Hans-Gert Pöttering (5), Bernd Huck (6), FranzJosef Jung (7), Matthias Wissmann (8); mit dem deutschenBotschafter Theodor Wallau (l.) sowie Gastgeber Johannes Gerstervon der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel (6. v. l.).

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