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»DER MANN IM GRAUEN FLANELL«

aus DER SPIEGEL 34/1970

Lachend schüttelte der sowjetische Parteichef Leonid Iljitsch Breschnew, 63, dem deutschen Bundeskanzler Willy Brandt die Hände. Lachend gratulierte er seinem Premier Alexej N. Kossygin.

Millionen deutscher Fernsehzuschauer, gewohnt an finstere KP-Funktionäre, sahen einen jovialen, heiteren Chefkommunisten, der die Versöhnungsszene mit Charme zu beherrschen schien.

In Wahrheit hatte sich Breschnew, gebremst durch den konservativen Parteiapparat, nur im letzten Augenblick -- dann aber spektakulär -jener Entspannungsoffensive angeschlossen, die Kossygin und sein Außenminister Gromyko, gedrängt von reformfreudigen und entspannungswilligen Managern und Technokraten der Sowjet-Wirtschaft, seit Monaten führen.

Trotz seiner weltmännischen Gestik ist Breschnew der Typ des ehrgeizigen und ausdauernden Apparatschik, ein Produkt des heute auf Anpassung und Konsolidierung ausgerichteten Sowjet-Systems.

Anders als die meisten Angehörigen der ersten bolschewistischen Führungsgeneration war er weder ein von Revolutionsromantik umwitterter Untergrundkämpfer noch ein berühmter Kriegsheld aus der Gründungszeit der jungen Sowjetmacht und auch kein bedeutender Parteitheoretiker. Er ist weder ein brillanter Intellektueller noch ein hervorragender Redner oder Organisator noch eine bestrickende Persönlichkeit.

Der einzige Superlativ, mit dem westliche Beobachter zu seiner Charakteristik beitrugen, lautete: »der bestangezogene Mann der Sowjetführung«. Angelsächsische Zeitungen nannten ihn bisweilen -- nach einem erfolgreichen amerikanischen Roman- und Filmhelden -- den »Mann im grauen Flanell«.

Der bestangezogene Sowjet-Mann liebt gepflegte Umgangsformen. Er küßte einmal der Lotte Ulbricht bei ihrer Ankunft in Moskau galant die Hand. In seiner Freizeit gebt der Parteichef auf die Jagd, sammelt alte Uhren und hegt exotische Vögel. Er soll die größte Sammlung seltener lebender Vögel in Moskau besitzen.

Als die Bolschewiki 1917 die Macht übernahmen, war der Arbeitersohn Leonid Breschnew zehn Jahre alt. Er absolvierte das Technikum von Kursk -- Fächer: Bodennutzung und Bewässerung. Im Ural arbeitete er als Landvermesser und Bewässerungsfachmann -- und immer paßte er sich an. 1931 trat er der Partei bei, 1939 war er zum Gebietsparteisekretär aufgestiegen.

Den Zweiten Weltkrieg erlebte er als politischer Kommissar an der Südfront, vor allem bei der 18. Armee -- und deren Befehlshaber war Andrej Gretschko, heute Verteidigungsminister. Als ein Schiff mit dem Politruk Breschnew im Schwarzen Meer versank, fiel Breschnew ins Wasser -- und wurde, bewußtlos, gerettet. Bei Kriegsende war er Generalmajor mit ausgezeichneten Verbindungen zu .den einflußreichsten Generalen der Sowjet-Armee.

Doch sein bedeutendster Gönner war Chruschtschow. Er machte Breschnew 1952 zum ZK-Sekretär -- und als Breschnew diesen Posten nach Stalins Tod wieder verlor, wurde er wieder Kommissar, als Chef der politischen Verwaltung der Kriegsmarine.

Freund Chruschtschow startete die Aktion »Neulandgewinnung« und schickte seinen Vertrauten Breschnew nach Mittelasien. In Kasachstan waren vor Breschnew schon viele Parteichefs gescheitert. Breschnew aber hatte wieder Glück: Er konnte Rekordernten nach Moskau melden. Dorthin zurückgekehrt, half er Chruschtschow beim Sturz Molotows -- und wurde mit einem Sitz im Politbüro belohnt.

Das Glück schien launisch: Chruschtschow bevorzugte plötzlich den Breschnew-Rivalen Frol Koslow und schob Breschnew auf den Repräsentationsposten des Staatsoberhaupts ab.

Doch Rivale Koslow erkrankte, und Breschnew wurde am 14. Oktober 1964 als Nachfolger Chruschtschows zum Parteichef gewählt.

1966 ließ er sich den begehrten Titel »Generalsekretär« verleihen, den nur (bis 1934) Stalin geführt hatte.

Seither ringt der lebenslustige Breschnew als Repräsentant von Armee und Parteiapparat gegen den Einfluß des Staats- und Wirtschaftsapparats, den der Wirtschaftsfachmann Kossygin vertritt. Wichtigste Meinungsverschiedenheit war das Schicksal der Prager Reformer. Sie lernten in Verhandlungen einen weinenden, schimpfenden Breschnew kennen -- seine Stimme entschied im Politbüro (gegen Kossygin) die Intervention.

Als das Politbüro im Dezember vorigen Jahres jedoch eine Annäherung an Bonn -- gemäß der Linie Kossygins -- beschloß, paßte der Parteichef sich wieder an. Ein Versuch, Kossygin zu überrunden, scheiterte im Juli: Das ZK prolongierte die »kollektive Führung« durch Breschnew und Kossygin.

Unter den überalterten Sowjetführern wirkt der aktive, gedrungene, bewegliche Breschnew wesentlich jünger. Ein strahlender, winkender Breschnew buchte den Pakt mit den Deutschen nach außen hin als eigenen Erfolg.

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