»Der Markt ist verrückt geworden«
Wie zu Beginn jeden Jahres saßen im Januar 1984 die Vorstandsmitglieder der Esso AG in ihrer Hamburger Zentrale zusammen, um über das Budget der Mineralölfirma im neuen Jahr zu diskutieren. Dabei stand auch der künftige Kurs der US-Valuta zur Debatte. Weil Rohöl in Dollar berechnet wird, ist dieser Kurs die wichtigste Zahl für die Konzernrechner.
Esso-Finanzchef Peter Schillmöller hatte seinem Firmen-Haushalt einen Kurs von 2,40 Mark für den Dollar zugrunde gelegt. Vorstands-Chef Wolfgang Oehme war skeptisch. »Was geschieht, wenn der Dollarkurs auf drei Mark geht?« fragte Oehme seinen Finanz-Kollegen.
Der mochte mit diesem Kurs gar nicht erst seinen Taschenrechner füttern. »Das ist völlig unmöglich«, erwiderte Schillmöller entschieden. Acht Monate später, am 11. September vorigen Jahres, rief Wolfgang Oehme seinen Vorstandskollegen an und bat um eine Flasche Champagner. Der Dollar hatte erstmals die Drei-Mark-Grenze übersprungen.
Peter Schillmöller war nicht der einzige, der sich über den Dollar getäuscht hat. Seit Monaten fegt die US-Valuta von Rekordmarke zu Rekordmarke; seit Monaten liegen auch utopisch erscheinende Prognosen besser als alle scheinbar vernünftigen Einschätzungen: Keine Kursvorhersage war hoch genug angesiedelt, als daß sie nicht alsbald von der Wirklichkeit eingeholt wurde.
Mit 3,28 Mark wurde die amerikanische Währung zu Beginn der vorigen Woche notiert. Bei 3,38 Mark für einen Dollar endete die Woche, höchster Stand seit über 13 Jahren. Amerikas Präsident Ronald Reagan hatte mit der Erklärung, die USA würden den Aufwärtstrend nicht durch Eingriffe in den Devisenmarkt stören, für zusätzlichen Schub gesorgt.
Amerika, das Amerika des Ronald Reagan, steht wieder ganz oben. Die Währungsordnung der kapitalistischen Welt ist, so scheint''s, zum »Megadollar-Standard« ("Newsweek") pervertiert; die Valuta der anderen Länder sind nur noch Anhängsel des allmächtigen nordamerikanischen Zahlungsmittels.
An der französischen Devisenbörse liefen die Fernsehkameras, als ein Angestellter historische Zahlen auf die Tafel neben die Worte »Etats-Unis« schrieb: Mit 10,023 Franc für einen Dollar gab es erstmals eine Zehn vor dem Komma. In Mailand hüpfte die
US-Währung zum erstenmal über 2000 Lire.
In England näherte sich der Wert der US-Währung einer für stolze Briten eigentlich unvorstellbaren Marke: Ein amerikanischer Greenback mit dem Bild George Washingtons ist etwa genausoviel wert wie ein englisches Pfund mit dem Konterfei der Queen Elizabeth. Als Briten und Amerikaner das Nazi-Regime besiegten, lag das Verhältnis noch bei eins zu vier.
Der Dollar, erläutert der Chicagoer Devisenexperte Gary Dorsch die Umkehr der Werte, »veralbert die Gesetze der Schwerkraft«.
Wie das geht, war in den letzten zehn Tagen an den Devisenmärkten des Erdballs zu beobachten.
Am Donnerstag vorletzter Woche noch schien die weltweite Jagd nach der US-Währung zu Ende zu gehen. In Tokio und an anderen Finanzplätzen verkaufte die japanische Notenbank über 100 Millionen Dollar, um den Preis der US-Valuta zu drücken. Für viele der allzeit sprungbereiten Spekulanten schien das Signal gekommen: Vier Wochen zuvor hatten die Finanzminister und Notenbankpräsidenten der fünf wichtigsten westlichen Industriestaaten _(Vereinigte Staaten, Bundesrepublik, ) _(Frankreich, Großbritannien und Japan. )
in Washington versprochen, den Dollar zu zügeln.
Doch schon nach einem Tag, am Freitag vorletzter Woche, gaben die Japaner wieder auf. Weder die Briten noch die Amerikaner hatten die Operation mit eigenen Dollar-Verkäufen unterstützt.
Die Deutschen konnten ihre Untätigkeit wenigstens noch entschuldigen: Weiberfastnacht ließ eine geregelte Strategie nicht zu. Die Frankfurter Bundesbanker betraten die Bühne erst am Faschingsdienstag - und sahen sich ganz allein der nun haltlosen Spekulation gegenüber.
Der abgebrochene Versuch der Japaner wirkte wie der Honig-Klecks im Wespennest. Weltweit glaubten die Devisenhändler, daß die Notenbankiers ihren Versuch, den Dollar zu stoppen, eingestellt hätten.
Schon morgens kurz nach neun Uhr schnellte die US-Währung von 3,29 Mark auf 3,32 Mark, als die Devisenhändler der Bundesbank eingriffen. Sie warfen Schätzungen zufolge rund 200 Millionen Dollar auf den Markt. Kurzfristig sackte der Kurs auf 3,27 und sprang dann, als die Bundesbank nicht nachlegte, wieder auf den morgendlichen Stand. »Der Markt«, kommentierte Meinhard Carstensen, Chef-Devisenhändler der Dresdner Bank, »ist verrückt geworden.« Oder wie Rudolf Thomas Jung, Devisen-Chef bei Bankers Trust, es ausdrückt: »Der Markt ist zum Spielball von Spielern geworden.«
Ob nun Psychopathen oder Zocker weltweit das große Rad drehen, eines ist klar: Mit der Kaufkraft des Dollar haben jene Zahlen, die an den Tafeln der Devisenbörsen jeden Tag notiert werden, nichts mehr zu tun.
Den Joghurt-Becher, der bei Karstadt 70 Pfennig kostet, bezahlt ein Verbraucher in New York mit 60 Cent. Der Hamburger bei Burger King kostet in Amerika umgerechnet zehn Mark. Die identische Papp-Bulette in Hamburg ist für zwei bis drei Mark zu haben. Die Kaufkraft der US-Währung im Verhältnis zur Mark liegt nicht weit entfernt von der Relation eins zu eins, hat mithin nichts zu tun mit einem Dollar-Kurs von drei Mark.
Wer in New York allein zu einem durchschnittlichen Steak-Abendessen geht, wird leicht, umgerechnet, 150 Mark los. Der Apfel für das naheliegende Fasten kostet 1,80 Mark.
Über längere Zeit, behauptet die Wissenschaft von der Wirtschaft, sind derartige Preis-Verzerrungen bei einem System freier Wechselkurse ausgeschlossen. Doch was heißt das schon? In Wahrheit ist »die Ökonomie eine seltsame Alchimie«, sagt Frankreichs Finanzminister Pierre Beregovoy.
Der größte derzeit lebende Alchimist heißt Ronald Reagan. Seit der Wiederwahl des amerikanischen Präsidenten verfügt das große Geld der Welt endlich wieder über eine Leitfigur. Niemand, abgesehen von den verläßlichen Schweizer Bankiers am Zürichsee, hat es wohl seit dem Ende des Krieges so gut verstanden, den Kapitalisten die Urangst vor dem Verlust des Besitzes zu nehmen wie der amtierende US-Präsident.
Der Mann, der es den Russen zeigt und der nun außerdem noch ein Schutzdach im All über die kostbaren Dollar-Milliarden decken will, trifft exakt jene Gemütslage, die beim Big Business von jeher herrscht.
Amerikas Ansehen in der Wirtschaftswelt ist lediglich mit der Stimmung zu vergleichen, die in den fünfziger Jahren herrschte. Damals dominierten die USA, deren Wirtschaft den Krieg unbeschadet überstanden und die noch daran verdient hatte, die Warenmärkte der Welt. Daß der Dollar damals 4,20 Mark kostete, war am Zustand beider Gesellschaften mit Leichtigkeit abzulesen.
Inzwischen können die Deutschen wie viele andere Industrieländer in der Produktion _(Großbritannien, Kanada, Bundesrepublik, ) _(Schweiz, Niederlande, Frankreich, ) _(Italien, Belgien, Japan und Schweden; ) _(gewichtet nach Handelsvolumen. Quelle: ) _(Federal Reserve Bulletin )
durchaus mithalten. Aber dank Ronald Reagan sind die USA laut »Business Week« das »Mekka des Investitionskapitals« geworden.
Der religiöse Anklang ist schon wichtig. Wenn in diesen Tagen Abgesandte des amerikanischen Präsidenten in Europa mit Wirtschaftsführern zusammenkommen, strahlen sie ein eigentümliches Sendungsbewußtsein aus. Anfang des Monats beim alljährlichen Managertreffen im schweizerischen Davos oder vergangene Woche bei einem deutschamerikanischen Symposium der Commerzbank in Frankfurt - immer ist die Botschaft die gleiche: In Gottes eigenem Land blüht der Kapitalismus in seiner reinsten Form auf.
Der »Faktor Sicherheit«, wie Esso-Chef Wolfgang Oehme sagt, schlägt derzeit alles aus dem Feld, vor allem die Vernunft. Da diese »fast irrationale« Haltung, wie sich der behutsame Holsteiner Gerhard Stoltenberg ausdrückt, für harte Geldmanager nicht hinreichend erscheint, gibt es von Ronald Reagans Wanderpredigern und vom Meister selbst auch ökonomische Argumente für den Dollar-Aufschwung.
Die heilsame Politik des Präsidenten habe zu einem kräftigen Wirtschaftswachstum geführt. Die Inflation sei niedrig, und die Steuersenkungen ließen die Unternehmen traumhafte Gewinne erzielen. Auf 35 Prozent soll demnächst der amerikanische Spitzensteuersatz sinken. In der Bundesrepublik sind 56 Prozent zu zahlen.
Die schöne Auswahl an Zahlen und die kapitalistische PR-Show der Amerikaner ließ die Finanzmanager rund um den Erdball bisher übersehen, daß Ronald Reagans Wirtschaftswunder ein Wunder auf Pump ist.
Mit seiner monströsen Aufrüstung, die zugleich ein überdimensioniertes staatliches Konjunkturprogramm darstellt, hat der US-Präsident eine bemerkenswerte Wende erreicht: Erstmals seit 1914 werden die Auslandsschulden der Amerikaner 1985 größer als die Auslandsguthaben sein. Der einst größte Geldgeber der Welt ist auf dem besten Wege, zum größten Kreditnehmer zu werden: Nach Schätzungen von Experten wird das reichste Industrieland gegen Ende dieses Jahres Brasilien in der Rolle des größten Schuldnerlands ablösen.
In diesem Jahr wird das Defizit im amerikanischen Bundesetat die Rekordsumme von 215 Milliarden Dollar aufweisen. Auch umgelegt auf die Wirtschaftskraft der USA ist dies weit mehr als jener Betrag, über den in der Bundesrepublik am Ende der Kanzler Helmut Schmidt stürzte.
Die US-Regierung verbraucht derzeit allein rund 70 Prozent der privaten Ersparnisse ihrer Bürger. Das ist etwa doppelt soviel, wie der deutsche, und dreimal soviel, wie der japanische Staat bei seinen Bürgern pumpt.
Mit dem, was sie erwirtschaften, können die Amerikaner nicht gleichzeitig ihre öffentlichen und ihre privaten Ausgaben bestreiten, können sie nicht neue Raketen und neue Autos zur gleichen Zeit bezahlen. Also pumpt Amerika ausländische Geldgeber an.
Wie bis Anfang der Achtziger die Südamerikaner, so leben jetzt die Nordamerikaner über ihre Verhältnisse. Und sie tun es, nach Art des Landes, in großzügigem Stil. Neben Lateinamerikas Schuldenlast, die in den letzten beiden Jahren fast zu einem Zusammenbruch des westlichen Geldsystems geführt hatte, sieht Ex-Kanzler Helmut Schmidt denn auch im Washingtoner Haushaltsdefizit »eine zweite Zeitbombe«.
Die Anleger vermag dies offenbar nicht zu schrecken, vorerst jedenfalls. Anders als in Südamerika steht schließlich
nicht zu befürchten, daß die USA ihre Zinsen nicht mehr zahlen oder die Schulden nicht mehr tilgen können.
Selbst 250 Milliarden Dollar US-Auslandsschulden - das wäre mehr, als Brasilien, Mexiko und Argentinien zusammen an Verbindlichkeiten haben - würden erst sieben Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts ausmachen. Brasiliens 100-Milliarden-Dollar-Schuld entspricht dagegen bereits fast einem Drittel des brasilianischen Sozialprodukts.
Hinzu kommt, daß die USA sich zu einem großen Teil in eigener Währung verschulden - der Vorzug eines Leitwährungslandes, der eine Pleite unmöglich macht. Denn das Geld, mit dem sie ihre Rechnungen begleichen, können die Amerikaner selbst drucken.
Das alles ändert allerdings nichts an den absurden Konsequenzen der zunehmenden amerikanischen Verschuldung. Das reichste Industrieland der Welt saugt Kapital aus Ländern ab, die dieses dringend benötigen. »Indem wir fortfahren, von den Ersparnissen der Welt einen großen Teil an uns zu ziehen«, gestand US-Zentralbankchef Paul Volcker vor einem Kongreß-Ausschuß ein, »behindern wir damit die wirtschaftliche Expansion in der übrigen Welt.«
Europa verliert durch die grapschigen Amerikaner Kapital, das auf dem alten Kontinent besser dazu verwendet würde, den Rückstand in Zukunftsbranchen wie der Mikroelektronik gerade auch gegenüber den Amerikanern aufzuholen.
Das genau aber verhindert die schärfste Waffe des grassierenden Dollar-Imperialismus: Um das unbeschwerte Geldausgeben finanzieren zu können, halten die Amerikaner seit Jahren ihre Zinsen in schwindelnden Höhen und locken damit das Geld aus Übersee.
Zunächst benutzten die Amerikaner noch ihr eigenes Geld, um den gefräßigen Bundeshaushalt zu sättigen. US-Banken, die 1982 noch über 110 Milliarden Dollar in aller Welt verstreut besaßen, holten das Vermögen zurück in die Heimat.
Dann wurde Auslandsgeld ins Land gelockt. Allein in den letzten neun Monaten, schätzt Roland Leuschel von der Banque Bruxelles Lambert, pumpten sich amerikanische Banken und Firmen rund 70 Milliarden Dollar. Die Amerikaner sammelten die Milliarden in der Bundesrepublik und Holland, in der Schweiz und Japan zu Zinsen zwischen sechs und acht Prozent ein.
Für die Amerikaner ein glänzendes Geschäft: In ihrem Heimatland kostet das Geld etwa fünf Prozent mehr. Überdies trieben sie mit dem Umtausch der Milliarden von Mark, Gulden, Schweizer Franken und Yen in ihre Währung den Dollarkurs nach oben. Die Folge: Wenn die Amerikaner ihre Kredite zurückzahlen, brauchen sie dafür weit weniger Dollar, als sie, umgerechnet, gepumpt hatten.
Auf eine ähnlich wundersame Geldvermehrung hofft eine zweite Spezies von Geschäftsleuten, die ebenfalls den Dollar nach oben drückt und zugleich Amerikas Geldhunger befriedigt.
Exporteure aus Europa und Japan, die in den USA derzeit bestens verkaufen, nehmen an dem Spiel teil. Während sie früher ihre Exporterlöse rasch wieder nach Hause trugen (und somit die eigene Währung stärkten), lassen sie das Geld derzeit lieber auf amerikanischen Konten liegen: Es bringt hohe Zinsen und verspricht zudem an den Dollar-Steigerungen mitzuverdienen. Bankier Leuschel schätzt, daß Europäer und Japaner auf diese Weise rund 100 Milliarden Dollar auf amerikanischen Konten geparkt haben.
Sowohl die kurzfristigen Kredite der Banken wie die Dollar-Guthaben der Exporteure sind reine Spekulationsgelder. Sie können Amerika, wenn das Vertrauen schwindet und der Dollar umkippt, nahezu über Nacht wieder verlassen.
Daß der Dollarkurs »total verzerrt und erheblich überbewertet« ist, wie der bundesdeutsche Sparkassenpräsident Helmut Geiger sagt, stimmt nach Ansicht Ronald Reagans selbstverständlich nicht. Die Dollar-Stärke, ließ der oberste Amerikaner vorige Woche die Welt wissen, sei darin begründet, daß Amerikas Handelspartner sich nicht so gut erholt hätten wie die USA. Und: »Die Stärke des Dollars ist die Schwäche der fremden Währungen.«
Mit gleicher Logik könnte der Fuchs nach Verzehr des Hasen sagen, nicht er sei es gewesen, sondern sein Bauch. Denn neben Reagans politischer Anziehungskraft treiben die hohen US-Zinsen den Dollar; und diese hohen Zinsen muß der US-Präsident bieten, will er genügend Geld für das Stopfen seiner Haushaltslöcher in die USA locken.
Was diese Zinsen und der steigende Dollar in Teilen der Welt anrichten, scheint die derzeitige US-Administration ähnlich wenig zu interessieren wie ehemals Richard Nixon. Aus den Watergate-Tonbändern ist eine berühmte Kurzformel für den Dollar-Imperialismus überliefert: »Fuck the lira.«
Diesmal trifft es weniger die Italiener als die verschuldeten Länder der Dritten Welt, vor allem die in Lateinamerika. Diese Staaten rollen, wie einstmals Sisyphus, ständig einen gigantischen Felsen bergauf, ohne ihn jemals nach oben bringen zu können. Die hohen US-Zinsen steigern den Schuldendienst, den die Dritte-Welt-Länder gerade mit sozial schwer erträglichen Sparmaßnahmen abzubauen hofften. Überdies vermehrt der steigende Dollarkurs die Schulden ständig aufs neue.
»Die armen Länder«, so der Bundesbank-Direktor Claus Köhler, seien »in fast unlösbare Probleme« gestürzt.
Doch allen Beteuerungen des Mitleids zum Trotz: Die dilettantische und halbherzige Faschings-Operation zur Bekämpfung der Dollar-Stärke legt den Schluß nahe, daß den führenden Industriestaaten der westlichen Welt der Super-Dollar gar nicht so ungelegen kommt.
Auch den Deutschen, deren Konjunktur »nur am Tropf eines florierenden Exports hängt«, wie der Frankfurter Ökonomie-Professor Wolfram Engels erläuterte, scheint der starke Dollar mehr zu nutzen, als er schadet: Er schiebt das US-Geschäft der deutschen Exporteure an.
Mit einem Plus von 43 Prozent legten Deutschlands Außenhändler 1984 beim Verkauf von Waren in die Vereinigten
Staaten zu, so, als hätten sie den Mammut-Markt zwischen Boston und San Diego erst im vergangenen Jahr entdeckt.
Der Sportwagenhersteller Porsche etwa setzte 1984 fast jeden zweiten seiner teuren Renner in den USA ab. »Der Dollar brachte das, was der Streik gekostet hat«, freut sich Porsche-Finanzchef Heinz Branitzki.
Das dürfte untertrieben sein. Noch im vergangenen Jahr kalkulierte Porsche bei den Verkäufen nach Amerika mit einem Dollarkurs von glatt zwei Mark. Schon bei dieser Rate verdienten die Zuffenhausener klotzig.
Bei einem Dollarkurs von 3,30 hingegen bringt jeder 30 000-Dollar-Porsche, ganz ohne Zutun der tüchtigen Ingenieure, einen Zusatzgewinn von knapp 40 000 Mark.
Audi hielt sich mit einem Export-Schub in die USA von rund 50 Prozent ebenfalls für weit weniger glanzvolle Inlandsgeschäfte schadlos. »Herausragend verlief das Geschäft in den USA«, lobt BMW den Absatz jenseits des Atlantiks.
Mit einem US-Umsatz von über einer Milliarde Mark verkaufte der Berliner Pillenkonzern Schering 1984 erstmals in Amerika mehr als auf dem Heimatmarkt. Zehn Jahre zuvor hatte das Pharma-Unternehmen lediglich Waren im Werte von 30 Millionen Mark in den USA abgesetzt.
Doch nicht nur traditionell exportstarke Branchen wie die Automobilhersteller, Chemiekonzerne, Maschinenbauer und Elektrofabrikanten nutzten den Rückenwind des hohen Dollarkurses. Selbst Wirtschaftszweige, die sich früher auf den Inlandsmarkt konzentriert hatten oder international nicht konkurrenzfähig schienen, heimsten Exporterfolge ein.
So steigerten die Produzenten von Stahl und Textil die US-Ausfuhr. In der Heimat von Coke und Big Mac sind zunehmend deutscher Wein, Keks und Käse gefragt. Die Transportkosten fallen bei dem Dollarkurs nicht sonderlich ins Gewicht.
Die Deutschen wagen sich nun sogar mit Produkten nach Amerika, bei denen der US-Markt gesättigt scheint. Nach erfolgreichem Start eines Staubsaugervertriebs in den USA vor etwa einem Jahr will der Gütersloher Hausgeräte-Hersteller Miele von diesem Frühjahr an auch Waschmaschinen, Trockner und Geschirrspüler in den Großstädten Nordost-Amerikas anbieten.
Insgesamt lieferten die deutschen Außenhändler 1984 für 17,7 Milliarden Mark mehr Waren in die USA, als die Deutschen von dort bezogen. Ein Jahr zuvor hatte dieser Exportüberschuß im Handel mit den Vereinigten Staaten erst fünf Milliarden Mark betragen. An Holländern und Briten vorbei rückten die Amerikaner - hinter den Franzosen - zum zweitwichtigsten Auslandskunden der Deutschen auf.
Doch was gut ist für VW, Bayer oder Thyssen, ist nicht unbedingt auch gut für die deutsche Volkswirtschaft. Der starke Dollar steigert zwar die Gewinne in den exportorientierten Unternehmen und sichert dort die Arbeitsplätze. Aber er beschneidet den Wohlstand des gesamten Landes durch die Verschlechterung des Austauschverhältnisses zwischen Import- und Exportgütern, den sogenannten Terms of Trade, wie es im Fachjargon heißt.
Dieser Verarmungs-Effekt tritt ein, wenn die Preise der ausgeführten Waren nicht so rasch steigen wie die der importierten Güter. Dies trifft auf eine Handelsnation mit international schwacher Währung, wie derzeit die Bundesrepublik, zu. Ein solches Land erhält im Austausch für eine bestimmte Menge exportierter Automobile, Maschinen oder Chemikalien immer weniger Öl, Nahrungsmittel oder andere Importgüter.
Im vergangenen Jahr stiegen die Preise der in die Bundesrepublik importierten Güter um sechs Prozent, weil der Kursanstieg des Dollar die Einfuhr-Rechnung in Mark erhöhte. Die Ausfuhrpreise dagegen nahmen nur um drei Prozent zu, da die deutschen Exporteure auch ohne Preiszuschläge prächtige Gewinne einfahren konnten.
Für die Deutschen hieß das, daß sie 1984 drei Prozent mehr Güter als 1983 ins Ausland liefern mußten, nur um die gleiche Importmenge wie ein Jahr zuvor einkaufen zu können. Die Deutschen mußten 1984 also einiges mehr arbeiten, um jene Dollars zu verdienen, die für die Bezahlung von Öl, Gas und anderen in Dollar notierten Welthandelsgütern erforderlich waren.
Am drastischsten wird dieser Kaufkraft-Rückschlag den Deutschen bei einer Reise in die USA deutlich. Schwärmten vor einigen Jahren Hamburger, Münchner und Kölner aus, um Manhattan, die Niagara-Fälle und den Grand Canyon zu bestaunen, so sind amerikanische Hotelpreise von 100 Dollar oder mehr und Restaurant-Rechnungen von 30 Dollar pro Person und darüber für Neckermann-Touristen unerschwinglich.
Umgekehrt fallen amerikanische Urlauber, die sich bei einem Kurs von 1,80 Mark pro Dollar kaum noch über den Atlantik wagten, jetzt wieder in hellen Scharen in Europa ein. Wegen des für den Sommer erwarteten Tourismus-Ansturms aus den USA will die Fluggesellschaft PanAm neue Direktverbindungen von New York nach Hamburg, Wien und
Nizza eröffnen. Konkurrent TWA hat neue Verbindungen von New York nach Genf und Kopenhagen angekündigt.
Das freut in Europa Einzelhändler und Hoteliers. Die Pariser Firma Cartier verdoppelte voriges Jahr ihren Umsatz mit Amerikanern. Bei der französischen Hotelkette Relais et Chateaux, die modernisierte Schlösser als Hotel-Bleibe offeriert, stiegen die Reservierungen für Amerikaner bereits im vorigen Jahr um 54 Prozent.
»Es ist Zeit, in Europa einzukaufen«, lockt die »New York Times« in ihrem jüngsten Reise-Teil die Amerikaner zum Shopping in Rom, Paris oder London. Die Zeitung hatte sogar Pläne europäischer Innenstädte abgedruckt.
Den Dollar-Touristen, die in der Bundesrepublik preisgünstig einkaufen wollen, rät das New Yorker Weltblatt zu Zwillings-Taschenmessern aus Solingen oder Skibekleidung von Sport-Scheck in München. Empfohlen werden Lederhosen von Loden-Frey und Dirndl von Köbler in der Bayernmetropole.
Der starke Dollar verhilft den Amerikanern auch zum billigen Einkauf daheim. Durch die scharfe Importkonkurrenz sind die US-Firmen gezwungen, ihre Preise möglichst stabil zu halten. So schätzen die amerikanischen Ökonomen, daß die US-Inflation von derzeit etwa vier Prozent doppelt so hoch wäre, wenn der Dollar nicht gestiegen wäre.
Dagegen wird es den Amerikanern bei anhaltend starkem Dollar immer schwerer fallen, einen hohen Beschäftigungsstand zu halten. Denn in dem Maße, in dem amerikanische Produkte daheim und auf den Weltmärkten durch die billigere Auslandskonkurrenz verdrängt werden, gehen amerikanische Arbeitsplätze zugunsten von Jobs in Übersee verloren.
Genau das aber fürchten die Europäer derzeit am allermeisten: Die Amerikaner könnten, neben ihren verhängnisvoll hohen Zinsen, den Rest der Welt nun noch mit Handelsbarrieren weiter in die Ecke drängen.
Schon registriert der US-Handelsbeauftragte William Brock, mit demonstrativer Lautstärke, »eine steigende Frustration überall im Land«.
Die Lobbyisten der durch den starken Dollar geschwächten US-Unternehmen und immer mehr Kongreßabgeordnete fordern daher, protektionistische Dämme gegen die Import-Flut zu errichten.
John Mitchell, Präsident des Computerchip-Herstellers Motorola, verlangt beispielsweise einen Sonderzoll von 20 Prozent auf alle Auslandswaren.
Das ist zwar eine Forderung, die kaum Chancen hat, vom Weißen Haus und vom Kongreß akzeptiert zu werden. Aber der Druck der Protektionisten ist derart stark geworden, daß Ronald Reagan beispielsweise den Import von Fertigstahl und Stahlprodukten durch sogenannte Selbstbeschränkungs-Abkommen mit den Lieferanten drosseln läßt.
Schon jetzt haben die Amerikaner knapp ein Drittel ihrer heimischen Produkte gegen ausländische Anbieter geschützt. Aber der Super-Dollar bietet Asiaten und Europäern immer neue Chancen.
Etwa 70 Prozent aller Schuhe, die in Amerika verkauft werden, kommen aus dem Ausland. Die Folge: Vergangenes Jahr machte jede Woche eine US-Schuhfabrik dicht.
Amerikas Farmer aus dem Mittleren Westen beklagen sich bitter über eine schier ausweglose Zwangslage. Einerseits müssen sie für Kredite, mit denen sie Traktoren und Mähdrescher gekauft haben, hohe Zinsen bezahlen. Andererseits hat der hohe Dollarkurs sie in den letzten zwei Jahren angeblich um Getreideverkäufe in Höhe von sechs Milliarden Dollar gebracht.
Barometer für die wahre Lage der amerikanischen Wirtschaft ist die Handelsbilanz.
Mit 123 Milliarden Dollar rutschten die Amerikaner 1984 in ein Rekordminus. »Wir haben«, räumt der ehemalige US-Finanzminister Henry Fowler ein, »ein ernstes Wettbewerbsproblem.«
Für Wirtschaftsfachleute gibt es auf Dauer nur einen Ausweg: Amerikas Haushaltsdefizit muß verringert werden. Damit würden die US-Zinsen sinken, und die Geldanlage in den USA würde an Attraktivität verlieren. Wenn dies geschieht, ist »der Tanz um den Dollar vorbei«, urteilt Bankier Leuschel.
Unter den meisten Fachleuten ist allenfalls noch umstritten, »ob das weltweite Wirtschaftsgefüge hart oder weich landet«, wie ein New Yorker Börsenmakler sagt. Das Treibhausklima an den Finanzmärkten läßt inzwischen eher einen Absturz erwarten.
Dann aber werden harte Zeiten für die erfolgreichen deutschen Exportfirmen anbrechen. Um die schnelle Mark in Amerika zu machen, haben manche Firmen ihre Kapazitäten vergrößert. Mit
einem Schlag wären Maschinen überflüssig, wäre der ganze Apparat eine Nummer zu groß.
Walter Seipp, Chef der Commerzbank, plagt die Vision von den »Geisterfabriken«, die dann in der Bundesrepublik herumstünden. Auch Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl warnt vor »den falschen Investitionssignalen des starken Dollar«. »Eines Tages platzt die Blase«, schreibt die »Financial Times« - nur weiß keiner, wann der Tag sein wird.
Von den ökonomischen Sachverständigen ist jede, aber auch jede Prognose zu haben. Amerikas renommiertester Zinsexperte, der New Yorker Henry Kaufman, erwartet den Abstieg des Dollars für Mitte des Jahres. Kann sein, kann aber auch nicht sein.
Reagans Ex-Finanzminister und neuer Stabschef im Weißen Haus, Donald T. Regan, setzt ganz auf die Imagination und Anziehungskraft seines Präsidenten: »Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Dollar für den Rest des Jahrzehnts stark bleibt.«
Die Mehrheit der Geldpraktiker an Börsen und Banken redet eher vom bevorstehenden Ende des Dollar-Booms. Nur wann? Devisen-Chef Carstensen von der Dresdner Bank sieht »die letzte Phase der Hausse« gekommen. So allerdings haben manche Banker auch schon vor einem halben Jahr geredet, als die US-Valuta über drei Mark sprang.
Den Widerspruch zwischen Denken und Handeln klärt Gary Smeal von der New Yorker Chemical Bank auf: »Wer 99 Prozent sicher ist, daß der Dollar in sechs Monaten kippt, aber das Gefühl hat, daß er am nächsten Tag steigt, wird dem Gefühl folgen.«
Lester C. Thurow, US-Professor am Massachusetts Institute of Technology, erinnern die Devisenmärkte zur Zeit an eine Tulpenzwiebel-Spekulation des Jahres 1636. Holländische Spekulanten handelten die Zwiebeln zu Preisen von mehreren hundert Dollar. »Jeder wußte«, so Thurow, daß der Wert nicht stimmte, aber »man glaubte«, der Preis würde noch steigen.
Die gleiche Überlegung steckt in der amerikanischen Theorie vom »größeren Dummkopf«. Jeder, der heute einen Dollar kauft, glaubt, daß er morgen einen größeren Dummkopf findet, der den Dollar zu einem höheren Preis abnimmt.
Wer dabei der letzte Dummkopf ist, läßt sich stets erst am Ende beurteilen. »Die Schlußphase der Dollar-Hausse ist nicht mehr kalkulierbar«, sagt Bankier Leuschel.
Die weltweite Spekulation ähnelt einer entfesselten Büffelherde, die unaufhaltsam scheint und doch durch einen verirrten Pistolenschuß abrupt zu stoppen ist. Die gigantische Kraft der Stampede des internationalen Kapitals wird daraus deutlich, daß täglich an den Devisenmärkten der Welt die jede Phantasie übersteigende Summe von rund 100 Milliarden Dollar gehandelt wird.
Schon längst haben diese Finanzströme den Bezug zum Warenverkehr verloren. Zwischen multinationalen Unternehmen, zwischen Banken, armen Dritte-Welt-Staaten, reichen Öl- und Industrieländern floriert ein abenteuerlicher Geldverkehr. Mit einem Telephonanruf oder einer Computereingabe werden riesige Beträge in Bewegung gesetzt.
Der weltweite Güterverkehr ist seit dem Zweiten Weltkrieg auf ein Volumen von jährlich rund zwei Billionen Dollar gestiegen. Gleichzeitig wuchsen die jährlichen Finanzströme global auf ein Volumen von über 20 Billionen Dollar. Wieviel es genau sind, weiß niemand.
Zugleich verknüpft die Computer- und Satelliten-Technik die Devisenhändler in New York und Frankfurt, in Hongkong und London auf völlig neuartige Weise: Das gesamte Spekulations-Potential der Erde ist, allen Zeitunterschieden zum Trotz, jederzeit miteinander verbunden.
Auf diese Weise werden Kurskorrekturen, die früher aufgrund unterschiedlicher Tagesrhythmen und Informationen an den großen Devisenplätzen auftraten, durch die schiere Masse niedergewalzt. »Wenn der Zug in eine Richtung fährt«, erläutert Bundesbankier Pöhl, »dann springen alle drauf.« Und zwar binnen weniger Sekunden.
Beim Dollar hüpften alle in den letzten Monaten auf den Zug, der bergan dampfte. Keiner unter den Devisenhändlern wollte abseits stehen; das abgegriffene Wort, daß die Hausse die Hausse nährt, bestätigte sich wieder mal.
In den vergangenen zwei Wochen allerdings tasteten sich einzelne Dollar-Besitzer auch vorsichtig in die entgegengesetzte Richtung, in fremde Währungen vor. An der deutschen Börse registrierten die Kursmakler lebhafte Aktienkäufe amerikanischer Kunden.
US-Berufsanleger orderten mehrere hunderttausend Aktien von Bayer und BASF; die Börsenkurse von Porsche und Schering profitierten ebenfalls von den Käufern aus Übersee.
Eine US-Gruppe kaufte sich gleich fünf Prozent der deutsch-holländischen Elektronikfirma Philips Kommunikations Industrie. Eine andere Investmentgesellschaft, die Putnam-Gruppe, legte sich zehn Prozent der Karlsruher Roboterfirma IWKA zu.
Das alles passierte, bevor der amerikanische Präsident noch einmal sich und der ganzen Welt kundtat, daß der Zug in den Dollar ein geradezu säkuläres Ereignis sei: nämlich der »Triumph freier Menschen und ihrer Entscheidungen«.
Wie frei seine Landsleute sich vor allem in ihrem Erwerbsstreben fühlen, demonstrierte fast zur gleichen Zeit eine amerikanische Investmentgruppe: Sie fragte bei der Deutschen Bank an, wie sich in der Bundesrepublik am besten eine halbe Milliarde Dollar anlegen lasse.
[Grafiktext]
HOCH IM KURS Kurs des Dollar gegenüber zehn wichtigen Währungen, Index März 1973 = 100 21. Februar 1985: Index BILANZ-TIEF Defizit Salden der US-Handelsbilanz (Export minus Import) in Milliarden Dollar EXPORT-REKORD Ausfuhren der Bundesrepublik Deutschland in die USA; Angaben in Milliarden Mark vorläufig 1982 und 1984 exportierte die Bundesrepublik in die USA (in Milliarden Mark) 1984 vorläufige Werte NAHRUNGS- UND GENUSSMITTEL ROHSTOFFE UND HALBWAREN FERTIGWAREN 1982 = 26,041 . 1984 = 43,357, darunter: WERKZEUG-MASCHINEN, WALZWERKSANLAGEN FEINMECHANIK, OPTIK ELEKTROTECHNIK KRAFT-FAHRZEUGE
[GrafiktextEnde]
Vereinigte Staaten, Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien undJapan.Großbritannien, Kanada, Bundesrepublik, Schweiz, Niederlande,Frankreich, Italien, Belgien, Japan und Schweden; gewichtet nachHandelsvolumen. Quelle: Federal Reserve Bulletin