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KRIMINALITÄT »Der Martin war immer nett«

Der Amoklauf eines 16-Jährigen in Bad Reichenhall schockt die Republik. Experten rätseln über die Ursachen: War der Täter ein Neonazi - oder einfach nur lebensmüde?
aus DER SPIEGEL 45/1999

Die Vorstellung im Theater des Kurgastzentrums Bad Reichenhall verlief ganz nach Plan. Kurz vor Beginn der Aufführung musste sich der Hauptdarsteller zwar noch von einem Arzt aus dem Publikum eine Spritze geben lassen, weil ihn ein Knie stark schmerzte. Doch dann war Günter Lamprecht, 69, nichts mehr anzumerken. Auf der Bühne spielte er vorvergangenen Sonntagabend den »Tatort«-Kommissar Franz Markowitz, stets auf der Jagd nach skrupellosen Tätern, routiniert wie immer.

Im wirklichen Leben wurde Markowitz alias Lamprecht keine 20 Stunden später selbst Opfer eines brutalen Verbrechens. Getroffen von zwei Kugeln aus einem Revolver Colt Phython, Kaliber .357 Magnum, lag der Schauspieler vorigen Montag über eine halbe Stunde lang im eigenen Blut direkt vor dem Städtischen Krankenhaus Bad Reichenhall. Neben ihm seine Lebensgefährtin Claudia Amm, 57, und Fahrer Dieter Duhme, 55, beide ebenfalls schwer verletzt. Lamprecht wollte sich in der Klinik sein Knie untersuchen lassen. Auf die drei geschossen hatte ein 16-Jähriger, der Lehrling Martin Peyerl.

Mit weiteren mindestens 16 Schüssen tötete Peyerl vier Menschen, darunter seine zwei Jahre ältere Schwester, und anschließend sich selbst.

Fassungslos und schockiert blickt die Republik seitdem nach Bad Reichenhall, einen bis dahin beschaulichen Kurort mit rund 17 000 Einwohnern nahe Watzmann und Königssee. Dass in Deutschland ein Jugendlicher Amok laufen könnte, war für die meisten Bundesbürger bislang außerhalb jeder Vorstellung. So etwas gab es nur in den USA, wo sich fast jedes Kind eine Schusswaffe besorgen kann.

Nun wird im Lande eifrig gestritten und diskutiert. Wie konnte es so weit kommen, dass ein Jugendlicher derart ausrastet? Wie konnte er an die Waffen gelangen? Wie lassen sich solche Taten künftig verhindern?

Die ersten Antworten der Experten und Politiker zeigen vor allem eines: Fast alle sind rat- und hilflos.

Kein Wunder - ist doch auch die Tat beispiellos. »Noch nie« sei ihm »ein Jugendlicher begegnet, der zu so einem Gewaltexzess fähig gewesen wäre«, so Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor der Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München.

Nicht nur Fachleute erinnert das grausame Verbrechen an den Amoklauf zweier Teenager am 20. April dieses Jahres in Littleton im US-Bundesstaat Colorado. Dabei hatten der 17-jährige Dylan Klebold und sein ein Jahr älterer Freund Eric Harris einen Lehrer und zwölf Mitschüler getötet. Anschließend erschossen sie sich selbst.

Die Beschreibungen, die überlebende Mitschüler damals von den beiden Amokläufern gaben, passen zu dem, was ehemalige Schulkameraden Peyerls heute berichten. Auch Martin sei ein eher schüchterner Eigenbrötler gewesen, habe daheim Videospiele gespielt, die für Jugendliche verboten seien, erzählt der 15-jährige Michael Schandl. »Der Martin war immer nett, ist nie aufgefallen, hat aber den Kontakt zu uns abgewiesen«, so seine ehemalige Klassenkameradin Stefanie Hocheder. »Ein bisschen rechtsradikal« sei er zudem gewesen, will die 16-Jährige bemerkt haben. So habe er beispielsweise Hakenkreuze in seine Mappen und Ordner gemalt.

Auch die Traunsteiner Kripo beschreibt Peyerl, der im September eine Ausbildung als Betriebsmechaniker begonnen hatte, als »Einzelgänger«, der »sehr zurückgezogen lebte«.

Ihren Ermittlungen zufolge brach der 16-Jährige, als er Montagvormittag allein zu Hause war, offenbar ohne größere Probleme den Waffenschrank seines Vaters, eines leidenschaftlichen Sportschützen, im Wohnzimmer der Erdgeschosswohnung in der Riedelstraße 12 auf. Martins Eltern, Theresia und Rudolf Peyerl, waren zum Friedhof ins benachbarte Piding gefahren, um - Tradition an Allerheiligen - das Grab der Großmutter zu besuchen. Martin wollte nicht mitkommen. Schwester Daniela, gelernte Kinderpflegerin, arbeitete im Krankenhaus, dessen Eingang keine 50 Meter von der Wohnungstür der Peyerls entfernt liegt, direkt gegenüber auf der anderen Seite der Riedelstraße.

Gegen 12 Uhr mittags kam die Schwester nach Hause. Was sich dann in der Wohnung abspielte, konnte die Kripo bis Ende vergangener Woche nicht klären - sie wird es vermutlich nie mehr können.

Fest steht, dass Martin anfing, aus zwei Fenstern wild zu schießen. Sechs Kugeln aus einem Selbstlade-Gewehr Ruger M-14, Kaliber .223, trafen die Nachbarin Ruth Zillenbiller, 59, vier ihren Ehemann Horst, 60. Beide waren vermutlich sofort tot. Mit einem zweiten Gewehr, Kaliber .44-40, traf der Junge einen Patienten des Krankenhauses direkt in den Kopf. Der 54-Jährige war nur kurz vor die Kliniktür gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Er erlag Dienstagabend seinen Verletzungen.

Als Beamte eines Spezialeinsatzkommandos die Wohnung am Montag gegen 18 Uhr stürmten, fanden sie den 16-Jährigen in der Badewanne. Er hatte sich, so die Ermittler, mit einer Schrotflinte erschossen. Zuvor hatte er seine Schwester mit fünf Schüssen - je zwei in Kopf und Brust sowie einen in den Arm - regelrecht hingerichtet. Auch seine Katze hatte Martin umgebracht.

Was den jungen Mann zu dem grausigen Verbrechen bewegte, liegt für die Behörden ebenfalls noch im Dunkeln. »Irgendetwas hat den Vulkan zum Ausbruch gebracht, und das suchen wir«, so Polizeisprecher Fritz Braun. Für den Traunsteiner Oberstaatsanwalt Wolfgang Giese, der die Ermittlungen leitet, ist lediglich »klar, dass das Motiv in der Persönlichkeit des Täters liegt«. Alkohol, Drogen oder auch eine mögliche Sympathie für rechtsradikales Gedankengut spielten »keine Rolle«.

Helfen bei der Suche nach dem Auslöser für den Amoklauf könnten vor allem Martins Eltern, die vorigen Freitag erstmals als Zeugen befragt wurden. Ihre Vernehmung könnte diese Woche fortgesetzt werden.

Vor allem dem Vater, einem ehemaligen Bundeswehrsoldaten, dürfte die Polizei kritische Fragen stellen. In der Wohnung fanden die Beamten nach eigenen Angaben insgesamt 19 Waffen. Drei Waffenbesitzkarten berechtigten ihn jedoch, so das Landratsamt Berchtesgadener Land, lediglich dazu, 17 Waffen - 5 Revolver und Pistolen sowie 12 Gewehre - zu führen. Außerdem, heißt es bei der Polizei, seien »nicht alle Waffen im Schrank gewesen«.

Rudolf Peyerl, gelernter Kfz-Mechaniker, hatte sich Mitte der siebziger Jahre für zwölf Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet. In der Artilleriekaserne Bad Reichenhall arbeitete er als Unteroffizier in einem Wartungstrupp. 1981 meldete Peyerl der Polizei, eine Waffe gefunden zu haben. Um diese behalten zu können, beantragte er beim zuständigen Landratsamt eine Besitzkarte. Sie wurde genehmigt. In den folgenden Jahren schloss sich Peyerl, dem die Polizei »Alkoholprobleme« bescheinigt, insgesamt fünf Schützenvereinen an.

Nach seiner Bundeswehrzeit wechselte Peyerl mehrfach den Job. Mal arbeitete er als Zugbegleiter bei der Bundesbahn, mal auf der Mülldeponie Bad Reichenhall, mal als Hausmeister bei der Kurverwaltung. Bis zum Freitag vor der grausigen Tat seines Sohnes hatte Peyerl eine befristete Beschäftigung im Feuerwehrerholungsheim St. Florian in Bayerisch Gmain. Zum 31. Oktober hatte man ihm gekündigt. Am Dienstag voriger Woche sollte er einen neuen Job als Hausmeister antreten.

Die Kripo interessiert, wie die Eltern dazu stehen, dass die Zimmer ihrer Kinder voll von NS-Devotionalien waren. Unter anderem hing in Danielas Zimmer ein Hitlerbild, Martin hatte am Kopfende seines Bettes ein Hakenkreuz an die Wand gemalt. Daneben wurden in der ganzen Wohnung Musik-CDs mit rechtsradikalen Liedern sowie Gewaltvideos gefunden.

Sofort nach dem Amoklauf verlangten Politiker aller Couleur erst mal »Konsequenzen«. Nordrhein-Westfalens Innenminister Fritz Behrens (SPD) plädierte für ein strengeres Waffengesetz. Der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Norbert Spinrath, widersprach ihm. Nicht das Gesetz müsse verschärft werden, sondern die Polizei müsse sich mehr darum kümmern, illegale Waffen aufzuspüren.

Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) will sein Augenmerk darauf richten, dass legal erworbene Waffen sicherer verschlossen werden. Er möchte das Waffengesetz so ändern, dass diejenigen Behörden, die die Erlaubnis zum Besitz der Waffen erteilen, in Zukunft gleichzeitig »Mindestanforderungen für die sichere Verwahrung festlegen« müssen. Bislang gibt es dafür nur Empfehlungen. Das Bundesinnen- ministerium Otto Schilys (SPD) hält dies allerdings für »einen der üblichen Hauruck-Vorstöße Bayerns«.

Auch Kriminologen, Psychologen und Psychiater taten sich zunächst schwer, die Ereignisse von Bad Reichenhall zu erklären und einzuordnen. Zum Teil widersprachen sich ihre Deutungen. In einem Punkt zumindest scheinen sich die Experten aber einig: Der Amoklauf des 16-Jährigen war, wie der Psychiater Lothar Adler formuliert, »keine spontane oder Affekttat«.

Sie sei, urteilt der Ärztliche Direktor des thüringischen Landesfachkrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie in Mühlhausen, »sicher lange vorbereitet« gewesen und lediglich von einem »finalen, vermutlich kränkenden Ereignis ausgelöst« worden. »Für uns Außenstehende sieht das alles so wahnsinnig überraschend und plötzlich aus«, so Adler, der 1993 an der Universität Göttingen eine der wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen über Amokläufer veröffentlichte. »In Wirklichkeit halten wir eine solche Tat vor allem deshalb für plötzlich, weil sie uns zunächst so sinnlos erscheint.«

Der Polizeipsychologe Adolf Gallwitz, vergangene Woche selbst in Bad Reichenhall, glaubt, die Kripo könnte sich die Suche nach Martins Motiv sparen: »Das werden wir nie erfahren.« Alles, was sich sagen lasse, sei, »dass Martin nicht mehr leben wollte, aber nicht zu einem ,normalen' Selbstmord fähig war«. Deshalb, so Gallwitz, »musste er am Ende zum ersten Mal in seinem Leben etwas Grandioses veranstalten und mit einem riesigen Feuerwerk untergehen«. WOLFGANG KRACH

Wolfgang Krach
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