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Der Mörder und das Lied vom Henker

Bestseller-Autor Norman Mailer ("Die Nackten und die Toten") rekonstruiert in seinem neuen Buch »Das Lied vom Henker« die dramatische Kriminal- und Justizaffäre des Doppelmörders Gary Gilmore. Der zum Tode Verurteilte hatte Amerika 1976 mit seiner Forderung geschockt, man solle ihn so schnell wie möglich hinrichten. Der SPIEGEL veröffentlicht Teile aus dem im Herbst in New York erscheinenden Werk des Pulitzer-Preisträgers.
aus DER SPIEGEL 33/1979

Die Morde, sagte der Mörder später, seien »irreal« gewesen, er habe für sie »keine Erklärung«, sie »geschahen einfach«.

Sie geschahen jedenfalls -- an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in zwei nebeneinander liegenden Orten im US-Bundesstaat Utah -- nach dem gleichen schrecklichen Schema.

Am Abend des 19. Juli 1976 ging der 35jährige Gary Gilmore in eine Tankstelle in Orem, zog eine Browning-Automatik und zwang den Tankwart Max Jensen zur Herausgabe der Tageskasse. Dann befahl er ihm, sich auf den Fußboden zu legen, das Gesicht nach unten, die Arme unter der Brust.

Der 24jährige leistete keinen Widerstand. Gilmore setzte ihm die Pistole an den Kopf und schoß zweimal. Jensen war sofort tot. Gilmores Beute: knapp 150 Dollar.

Am Abend des nächsten Tages betrat Gilmore ein Motel in Provo, zog seine Waffe und bedrohte den 25jährigen Nachtportier Bennie Bushnell. Wieder nur geringe Beute. Wieder der Befehl an das Opfer, sich auf den Boden zu legen, Gesicht nach unten, Arme unterm Leib.

Auch Bushnell wehrte sich nicht, als Gilmore ihm die Pistole an den Kopf setzte. Aber diesmal gab es nur einen Schuß. Beim zweiten klemmte die Automatik.

Gilmore flüchtete. Bushnell verblutete auf dem Fußboden und starb Minuten später.

Die beiden Morde schockten die Leute in und um Provo, sie erregten Aufsehen auch in Salt Lake City, der Hauptstadt von Utah und Hochburg der Mormonen. Aber darüber hinaus hätten sie kaum Sensation gemacht. Der Mörder, ein seit kurzem auf Bewährung entlassener Strafgefangener, wurde schon wenige Stunden nach seiner zweiten Bluttat gefaßt und war geständig.

Überregionales Interesse gewann der Fall erst durch das schockierend ungewöhnliche Verhalten des Täters vor Gericht: Gary Gilmore, am 7. Oktober erwartungsgemäß zum Tode verurteilt, verzichtete wider jedes Erwarten, gegen allen Rat seiner Verteidiger und wohl auch gegen die stille Hoffnung mancher seiner Richter auf jede Berufung und bestand so entschieden wie dringlich auf seine Exekution.

»Ich hoffe, daß man mich dafür hinrichtet«, so hatte er schon bei der ersten Vernehmung einem Polizeileutnant erklärt. Vom Richter befragt, ob es ihm wirklich ernst sei mit seinem Berufungsverzicht, bekräftigte er seinen Standpunkt, lieber erschossen als lebenslänglich eingesperrt zu werden: »Das ist meine eigene Entscheidung. Sie wird durch nichts anderes bestimmt als durch das Faktum, daß ich keine Lust habe, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu verbringen.«

Und, schon mit einer Spur von aggressivem Hohn auf die anscheinend skrupulös zögernde Justiz: »Sie haben mich zum Tode verurteilt. Falls das kein Witz oder sonstwas ist, möchte ich, daß man damit voranmacht.«

Gilmores »Todeswunsch« (Titel einer »Newsweck«-Coverstory) löste bei der Justiz von Utah in der Tat beträchtliche Irritationen aus. Und er zog die Aufmerksamkeit der ganzen Nation, schließlich sogar internationales Interesse auf seinen Fall.

Seit 16 Jahren war in Utah, seit einem Jahrzehnt in den gesamten USA kein zum Tode Verurteilter mehr hingerichtet worden. Zwar bahnte sich damals eine vom höchsten US-Gericht, dem Supreme Court in Washington, sanktionierte »Wiederbelebung der Todesstrafe« ("Newsweck") an. Andererseits aber lag eine Überprüfung des Todesstrafengesetzes von Utah vor dem Supreme Court in der Luft.

»Einige Experten halten es für möglich«, schrieb »Newsweck« 1976, »daß das Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird, weil es für ein so endgültiges Urteil wie Tod keine Revision durch ein höheres Gericht zwingend vorschreibt -- egal, ob der Verurteilte selbst sie wünscht oder nicht.«

Der Kriminalfall entwickelte sich zum Justizdrama. Gilmore feuerte sei* Im Fernsehen von Salt Lake City gesendete Skizze eines Pressezeichners.

ne Pflichtverteidiger und engagierte einen Anwalt, der seinen »Todeswunsch« zu vertreten bereit war. Organisierte Gegner der Todesstrafe und andere Bürgerrechtler mischten sich ein und kämpften -- von Gilmore in offenen Briefen als publicitysüchtige Liberale beschimpft und aufgefordert, sich »da rauszuhalten« -- für Hinrichtungsaufschub.

Der Fall, »faszinierend, häßlich und kompliziert«, wie ein Beobachter ihn nannte, wurde schließlich, unvermeidlich, zum Spektakel der Massenmedien.

Je mehr über die Person des Verurteilten bekannt wurde, desto interessanter schillerte sein Image. Gary Gilmore, der 18 seiner 35 Lebensjahre in Gefängnissen verbracht hatte, besaß überdurchschnittliche Intelligenz, eine beträchtliche (Autodidakten-)Bildung und künstlerisches Talent. Er zitierte Shelley und Nietzsche, sprach mit seinen Anwälten über Hesses »Demian« und Thomas Manns »Tod in Venedig": »Der hübsche Junge hat mich einfach umgehauen.« Er zeichnete und malte, unter anderem Kopien des Goya-Gemäldes »Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai«.

Aus der Zelle korrespondierte er mit seiner Geliebten Nicole Barrett, einer von der Wohlfahrt lebenden 1 9jährigen, zweimal geschiedenen Mutter von zwei Kindern, die er nach seiner Haftentlassung in Provo kennengelernt hatte. Den Morden, für die er zunächst »keine Erklärung« wußte, war der Bruch seiner Beziehung zu Nicole vorausgegangen. Später erklärte er: »Ich tötete Jensen und Bushnell, weil ich Nicole nicht töten wollte.«

Zitate aus seinen Briefen an Nicole gelangten in die Presse. In einem beschrieb er ein bedrückendes Erlebnis aus seiner Kindheit: Er hatte geträumt, er werde »geköpft«, und »es war mehr als nur ein Traum. Eher wie eine Erinnerung. Es warf mich richtig aus dem Bett. Und es war eine Art Wendepunkt in meinem Leben ... Neuerdings macht das ja ein wenig Sinn ...«

Als der Häftling in der Zelle und seine Geliebte daheim eines Nachts verabredete Selbstmordversuche mit Schlaftabletten unternahmen -- und gerettet wurden -, hatte der Fall endlich auch seine romantische Farbe.

Gary und Nicole zwischen Romeo und Julia und Bonnie und Clyde -- nun machte nicht nur die große US-Presse, nun machten auch Filmproduzenten und Pop-Stars, machte auch die Unterhaltungsindustrie mobil. Für Gilmore-Geschichten wurden bis zu sechsstellige Dollarsummen geboten. Die Szene rund um den Mann in der Todeszelle geriet zum multimedialen Big Carnival.

Das kurze, heillose Leben des Gary Mark Gilmore endete am 17. Januar 1977 unter den Schüssen eines aus fünf Freiwilligen zusammengestellten Hinrichtungskommandos. Es endeten das Justiz-Drama, die Love-story und der Medien-Zirkus.

Aber das war nur ein vorläufiges Ende. Zweieinhalb Jahre später, in diesen Tagen, wird der faszinierend-häßlich-komplizierte Fall neu aufgerollt: in einem faszinierenden Stück Literatur.

Norman Mauer, 56, der Autor des Roman-Welterfolgs »Die Nackten und die Toten«, hat die Geschichte von und um Gary Gilmore in einem Buch rekonstruiert, das nächsten Monat beim New Yorker Verlag Little, Brown erscheinen wird: »The Executioner's Song«, Das Lied vom Henker.

Das 1072-Seiten-Werk, aufgebaut und spannend wie ein Roman, ist keiner; nichts oder so gut wie nichts darin ist fiktiv. Es ist ein Werk jenes Mailer, der seit seinem Buch über den Protestmarsch der 100 000 Vietnamkriegsgegner in Washington, »Heere aus der Nacht«, als Amerikas »Ultrajournalist« ("Time") gepriesen wird.

Ein Literat, der entschieden journalistisch operiert, sich dabei fast jeder Literarisierung enthält und gerade durch solche Enthaltung Journalismus als Literatur produziert -- Mailer ist mit dem Gilmore-Buch ein Paradestück dieser Kunst gelungen. »The Executioner's Song« wird Furore machen, das Buch markiert in der turbulenten Karriere seines Autors wieder mal ein Hoch.

Der in Brooklyn aufgewachsene Sohn eines Buchhalters jüdisch-litauischer Herkunft ist unter den lebenden Schriftstellern Amerikas heute einer der berühmtesten. Er ist außerdem ihr Krawall-Champion.

Mit einem Geniestreich war der 25jährige auf der literarischen Szene erschienen. 1944 eingezogen, hatte er sich auf eigenen Wunsch als Infanterist an die Pazifik-Front versetzen lassen, weil er ein Buch über den Krieg gegen die Japaner schreiben wollte. Das

Buch, »Die Nackten und die Toten«, erschien 1948 und wurde ein internationaler Bestseller. Berühmt wurde der krasse Realismus dieses Antikriegs- und sozialkritischen Amerika-Romans, Skandal machten einige drastische Sexualszenen.

Dem frühen Ruhm war der junge Autor, bereits als neuer Hemingway gefeiert, nicht gewachsen. Seine nächsten Romane erwiesen sich als künstlerische Fehlschläge, Mailer selbst fühlte sich bald »prominent und leer

Die literarische Krise dauerte bis in die Mitte der 60er Jahre. Noch sein hoch ambitionierter Roman von 1965, »An American Dream«, blieb ohne durchschlagenden Erfolg.

Erfolgreicher war Mailer da schon mit journalistischen Arbeiten: für Zeitschriften wie den »Esquire« und als Mitgründer des New Yorker Bohéme-Blattes »The Village Voice«. Sein Manifest »Der weiße Neger«, in dem er 1958 den antibürgerlichen Typus des »hipsters« und einen Kult von Sex, Rausch und Protest propagierte, machte ihn zu einem frühen Guru der Beatnik-bis-Hippie-Generation.

Anderes Mailer-Renommee entstand ganz außerliterarisch: In der Boulevardpresse tauchte der Schriftsteller häufig als Urheber saftiger Bar- und Party-Skandale, als prominenter Saufaus und Obszön-Krakeeler auf.

1960 erwog Mailer, bei den New Yorker Bürgermeisterwahlen zu kandidieren. Seine Chancen wären schon deshalb gering gewesen, weil er im selben Jahr seine (zweite) Frau Adele mit einem Federmesser zu erstechen versuchte. Eine psychiatrische Behandlung bewahrte ihn vor dem Gefängnis.

Ein Skandalmacher mit oft clownesken Zügen und deutlicher Lust an der Selbstbloßstellung ist der »alternde Preisboxer« (Mailer über Mailer) bis heute geblieben.

Ob er sich nun in einer Dick-Cavett-Talkshow mit dem Ex-Halbschwergewichtsmeister José Torres schlägt, auf einer Party mit Jackie 0. seinem Literatenkollegen Gore Vidal Cocktails ins Gesicht schüttet oder ein ihm feindlich gesinntes Auditorium -- wie jene Feministinnen, die ihn wegen seiner oft sexprotzigen Romanhelden angriffen -mit unflätigen Beschimpfungen eindeckt.

Doch nur Spaß an der Schau oder nur Schaugeschäft ist es nicht, was Mauer zu derlei Eskapaden antreibt. Dem Feind aller »coolness« ist es bei seiner bizarren Betriebsamkeit -- etwa, wenn er den Aufbau einer Art demokratischer Gestapo zur Überwachung von CIA und FRI vorschlägt -- oft genug ernst genug.

Der öffentlichkeitsbesessene, hektische Aktivist mit dem so erz-amerikanischen 1-Je-man-Gehabe möchte, so sieht es der US-Kritiker Alfred Kazin, »ein politischer Führer sein, aber zugleich möchte er sich durch sein Schreiben hoch über den Kampf erheben, der in ihm selber entsteht, durch seine Hingabe an Amerika und seine gleichzeitige Angst vor der amerikanischen Macht«.

1967 nahm Mauer am großen Anti-Vietnam-Marsch zum Pentagon teil, sprach vor den Demonstranten, kollidierte mit der Polizei, wurde festgenommen und zu drei Tagen Haft verurteilt.

1968 erschien sein Bericht über den Protestmarsch, im Jahr darauf erhielt er für »Heere aus der Nacht« den Pulitzer-Preis und den »National Book Award«, die beiden höchsten literarisch-journalistischen Auszeichnungen der USA.

Damit war er aus dem literarischen Tief heraus, in das er nach dem Erfolg seines Erstlings »Die Nackten und die Toten« abgerutscht war. Und nun, im selben Jahr 1969, wollte er auch wieder politisch hoch hinaus: Diesmal wirklich kandidierte Mailer für den Posten des Bürgermeisters von New York.

Der Schriftsteller, mittlerweile in vierter Ehe lebend, betrieb seine Kandidatur bei den Demokraten durchaus ernsthaft, doch nicht ohne die obligaten Bizarrerien.

Norman Mailer trat für die Verselbständigung New Yorks zum 51. US-Bundesstaat ein -- seiner Meinung nach eine Voraussetzung, um die finanziellen Probleme der unregierbaren Metropole zu lösen. Er forderte Stadtteil-Selbstverwaltung und einen monatlichen »Sweet Sunday«, an dem jeder Verkehr in der Stadt ruhen sollte, Lifts inklusive.

Vor einer Versammlung von Polizisten entschuldigte er sich dafür, früher ein »Polypenhasser« gewesen zu sein. Um konservativen Wählern zu gefallen, glättete er sein wildes Strubbelhaar mit Pomade. Doch sein Wahlslogan wiederum war gut mailerisch unfrisiert: »No more bullshit«, Schluß mit dem Scheißdreck!

Er hatte keine echte Chance und endete weit abgeschlagen Es blieben ihm sein neuer Bestseller-Erfolg und sein erneuertes literarisches Ansehen.

Die Kritiker lobten »Heere aus der Nacht« als Meisterwerk eines literarischen Journalismus. »Nur ein geborener Romancier«, urteilte Alfred Kazin, »konnte ein Stück Geschichte so intelligent, so böse, so eindringlich und lebendig schildern, solche bewegten Massenszenen auf der großen Bühne Amerikanische Demokratie.«

Beeindruckend war das Buch vor allem durch die Gerechtigkeit seines Reporter-Blicks: Dieser »böse«, kritischironische Blick, der den politischen Gegner fixierte, verschloß sich nicht vor den Schwächen der eigenen Seite, der eigenen Kampfgenossen und der eigenen Person.

Die Gerechtigkeit des politischen Reporters Mailer entspringt jedoch nicht nur seiner unbestechlichen »außergewöhnlichen Beobachtungskraft« ("Times Literary Supplement"). Sie hängt zusammen mit seinem politischen Grundgefühl. »Ich bin«, so hat er selbst seine gesellschaftskritische Position auf dem Schau- und Kampfplatz Amerikanische Demokratie definiert, »ein linker Konservativer, der weiß, daß ein Großteil der Linken nicht weiß, was wirklich getan werden müßte.«

Den Erfolg der »Heere aus der Nacht« hat Mauer ein Jahrzehnt lang nicht übertreffen können -- nicht mit seinem Anti-Women?s-Lib-Pamphlet »Gefangen im Sexus«, nicht mit seinem Buch über den Weltmeisterschaftskampf Muhammad Ah kontra Foreman in Kinshasa und schon gar nicht mit seinem Text zu dem Photoband »Marilyn«.

Dieser biographische Essay über Marilyn Monroe trug ihm zwei Klagen ein: Er hatte allzu sorglos aus MM-Büchern anderer Autoren zitiert. Geschrieben hatte er den Text in erster Linie, weil er hoch verschuldet war und dringend Geld brauchte -- eine Klemme, in der Mailer, inzwischen Vater von fünf Töchtern und drei Söhnen und von der vierten Ehefrau getrennt, nicht selten steckt.

Erst unlängst klagte seine neue Lebensgefährtin? die 30jährige Norris Church, einem Interviewer: »Wir haben 500 000 Dollar Schulden. Norman macht »ne Menge Geld, aber er sorgt auch für 14 Leute ... Für uns selbst bleiben nur 30 000 im Jahr.«

So schwankend seine nach den »Heeren« erschienenen Werke auch bewertet wurden -- am nächsten kam er ihnen mit dem Bericht über die erste amerikanische Mondlandung, »Auf dem Mond ein Feuer« (1970) -, so fest begründet ist doch heute die Einschätzung seines Gesamtwerks als repräsentativ für die USA.

Mailer, urteilte der britische »Observer«, »ist der treueste zeitgenössische Vertreter des Amerikanischen Traums ... Amerikas Wirrungen sind die seinen, Amerikas Malaise ist seine eigne.« Und die »New York Times« schrieb, das Mailer-OEuvre sei »eine Art Biopsie«. eine Untersuchung »am Körper der amerikanischen Erfahrung seit Pearl Harbor, der Erfahrung vom Scheitern des Traums: von schlechter Politik, schlechtem Sex, schlechtem Karma«.

Eben diese Untersuchung wird nun mit »The Executioner's Song« eine beträchtliche Strecke fortgeführt.

Das Buch über den Mörder Gary Gilmore, der auf seine Hinrichtung bestand, hat ein Vorbild: Truman Capotes »Kaltblütig« (1966), die minutiös recherchierte »non-fiction-novel« über zwei junge, am Galgen hingerichtete Raubmörder aus Kansas. Aber Mailers Buch übertrifft das seines Kollegen Capote.

Das »Lied vom Henker« ist mehr als die Anatomie eines Doppelmordes und einer Mörderpsyche. Es ist, obwohl Mauer sich jeden Kommentars enthält, immer nur berichtet, gewiß auch ein Plädoyer gegen die Todesstrafe. Aber es gibt, mit seinen Tausenden von konkreten Details, mit der Menge der beschriebenen Personen und der Vielzahl der ausgeleuchteten Aspekte, ein umfassenderes und komplexeres Bild amerikanischen Lebens und Leidens.

Mauer erzählt die Geschichte Gary Gilmores und die Geschichten fast aller Personen, die in seinen Fall verwickelt waren: der Mord-Opfer wie der Juristen, der Verwandten, die ihn nach der Entlassung aus jahrelanger Haft aufnahmen, wie der Nachbarn und Arbeitskollegen, die ihm bei seinem Resozialisierungsversuch beistanden oder im Wege waren.

Anschaulich wird die Kleinstadt Provo, 60 Kilometer südöstlich von Salt Lake City, werden eine ganze Provinzwelt, Unterklassenmilieu und Armut so gut wie das im Staat Utah herrschende Regime der Mormonen und ihrer »Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage«.

Der Wohnwagen-Anhänger, in dem Gilmores 63jährige, arthritische Mutter in Portland (Oregon) lebt und ihren traurigen Erinnerungen nachhängt, ist ebenso einprägsam detailgenau beschrieben wie das Motelzimmer, in dem Gilmore die Nacht zwischen den Morden verbringt, oder wie der Waschraum der Tankstelle, auf dessen Fliesenboden Max Jensen stirbt.

Die unglückliche Glücksritter-Existenz von Gilmores verstorbenem Vater wird erkundet, das erbarmungswürdig promiskuitive Vorleben Nicoles enthüllt, das Verhalten der freiwilligen Exekutions-Schützen nach der Exekution beobachtet.

Bei der ausführlichen Darstellung des juristischen Kampfes um Gilmores Verurteilung und Hinrichtung gibt es auch Einblick in die Gefühle und Gedanken der Staatsanwälte, Richter und Gefängnisdirektoren -- auch ihnen, deren Parteigänger Mailer nicht ist, wird erzählerisch-differenzierende Gerechtigkeit zuteil.

Und mindestens ebensoviel Insider-Ansichten bietet Mailers Schilderung des Medien-Rummels um Gilmore, ja, dieser Aspekt wird, neben der Geschichte Gilmores selbst und dem Justiz-Drama, zum dritten Hauptthema des Buches, der Journalist und Filmproduzent Schiller zur zweiten Hauptfigur.

Diesem Mann überhaupt verdankt Mauer das Buch.

Lawrence »Larry« Schiller, einst »Life«-Photograph, hatte 1962 ein Nacktphoto von Marilyn Monroe für 25 000 Dollar an den »Playboy« verkauft, hatte 1966 einen Kassettenrecorder ans Sterbelager Jack Rubys geschmuggelt und 1971 ein Exklusiv-Interview mit der Manson-Gefährtin Susan Atkins veröffentlicht, das den Prozeßverlauf beeinflußte -- und war seitdem in den USA als »Journalist, der mit Tod handelt«, als »Aasgeier« berüchtigt-berühmt.

Als die Zeitungen Garys und Nicoles mißglückten Doppelselbstmordversuch meldeten, flog er sofort von Los Angeles nach Salt Lake City. Er gewann das Vertrauen von Gilmores Onkel Vern Damico, dann mit dessen Hilfe und der Vermittlung zweier ortsansässiger Anwälte, die Gilmore zu seinen neuen Rechtsvertretern bestellte, auch das Vertrauen des Delinquenten in der Todeszelle und erwarb die exklusiven Film- und Buchrechte an den Lebensgeschichten und Aussagen von Gilmore, seinem Onkel, seiner Tante Ida und seiner Cousine Brenda sowie von Nicole.

Schiller investierte in die gesamte Operation über 100 000 Dollar. Das Buch, für das er die Rechte gekauft hatte, konnte er nicht selber schreiben -- er überließ es, bei 50-Prozent-Beteiligung an den Honoraren, einem höher qualifizierten Kollegen, mit dem er schon früher einmal zusammengearbeitet hatte: dem Text-Autor seines Photobandes »Marilyn«.

So konnte denn Norman Mailer, der Gary Gilmore leibhaftig nie gesehen hat, das von Schiller bereitgestellte immense Material nutzen: Tausende Seiten Abschriften von Tonband-Interviews, über 1000 Seiten Briefe Garys und Nicoles und andere Aufzeichnungen und Dokumente.

Mailer selbst fuhr 13mal zu Nach-Recherchen nach Utah, einmal blieb er drei Wochen dort. Er suchte alle Schauplätze des Dramas auf, interviewte seinerseits wichtige Beteiligte, darunter Nicole, Vern und Ida Damico und eben auch, nicht minder ausführlich, Freund Schiller.

Und so ist nun nicht nur der amerikanische Gewalttäter und Todeswunschkandidat Gary Gilmore, sondern auch dessen »Aufkäufer«, der amerikanische »Scheckbuch-Journalist« und Sensationshändler Larry Schiller, heute 43, in die Literatur erhöht worden.

»The Executioner's Song« beginnt mit Erinnerungen von Garys fast gleichaltriger Cousine Brenda an ihre gemeinsame Kindheit. Aus der Besserungsanstalt, in der er nach einigen Diebstählen und Autoknackereien eingewiesen worden war, hatte ihr der Vierzehnjährige geschrieben: »Wenn ich rauskomme, will ich ein Gangster werden.« Mit 22 wurde er wegen bewaffneten Raubüberfalls zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Nun ist der 35jährige, nach längerer guter Führung, aus einem Gefängnis in Illinois vorzeitig zur Bewährung nach Provo in Utah entlassen worden. Brenda hat für ihn gebürgt, Onkel Vern bietet ihm Unterkunft in seinem Haus und Beschäftigung in seiner Schusterwerkstatt. »Ich möchte ein Heim haben«, sagt Gary, »und so leben wie andere Leute.«

Doch das läuft schon bald schief. Gary ist dem Umgang mit Menschen in Freiheit entwöhnt, kommt mit den Konventionen des bürgerlichen Alltags nicht zurecht. Er konsumiert zu viele Sechserpackungen Dosenbier, zu viele Joints und zu viele »Fiorinol«-Tabletten gegen Kopfschmerz.

Zwei Bekanntschaften mit Frauen aus der Nachbarschaft, die ihm von seinen Verwandten vermittelt werden, mißglücken rasch; das Rendezvous mit der zweiten endet damit, daß er wütend, die Windschutzscheibe ihres Wagens zertrümmert.

Einmal reißt er per Anhalter nach Idaho aus, schlägt einen Mann zusammen und kommt bei der Polizei nur deshalb davon, weil der Zusammengeschlagene ein Homosexueller ist.

Er beginnt, Kleinigkeiten aus Selbstbedienungsläden zu stehlen. Bei einem Kinobesuch pöbelt er andere Zuschauer an. Verwandte und Bekannte schockiert er mit Prahlereien über brutale Knast-Streiche: Einen Mithäftling hat er mit Hammerschlägen auf den Kopf beinahe umgebracht, einem anderen statt einer Rose, wie der gewünscht hatte, einen »Pimmel« auf den Nacken tätowiert.

Mehrmals machte er gewaltig Bambule, kam in Isolierhaft und wurde so lange mit »Prolixin« behandelt, bis er sich, völlig apathisch, nur noch als »Zombie« fühlte.

Gary gibt den Job bei seinem Onkel auf und nimmt Arbeit in einer Baufirma an. Und dann erhält er die wohl größte Rettungschance seines sinistren Lebens: Im Hause eines Arbeitskollegen lernt er Nicole Barrett kennen und verliebt sich sofort in sie.

Schon am selben Abend geht sie mit ihm ins Bett. Gary sagt: »Ich möchte dich nicht nur ficken, ich möchte dich lieben.« Nicole muß ihn beruhigen und trösten, weil er »ihn nicht hochkriegt«.

Die Liebe von Gary und Nicole zeigt in Mailers Darstellung, rekonstruiert nach den mündlichen Aussagen und den Briefen der beiden, zunächst fast idyllische Züge. Er zieht in ihr Haus, spielt mit ihren Kindern Jeremy und Sunny, zeichnet sie und Nicole, und an den friedlichen Sommerabenden ist »die Luft so gut wie Marihuana«.

Nach der ersten Nacht klappt es mit ihnen auch sexuell besser -- daheim und open-air. Einmal machen sie es im Autokino: Gary will, daß Nicole sich ganz auszieht, nach all den Knast-Jahren »kann er nicht drüberwegkommen? daß er eine nackte Frau im Arm hält«. Einmal sitzen sie, Nicole wieder nackt, nachts hinter der Mormonenkirche von Provo, und Gary singt, den Country-Barden Johnny Cash imitierend, das Lied »Amazing Grace«.

»Ich fühle mich wie neunzehn«, sagt der 35jährige glücklich. Das Glücksgefühl der 19jährigen Nicole wird auch durch Garys Wunsch, sie solle ihr Schamhaar wegrasieren, nicht gestört. Es wird eher noch gesteigert, als es zwischen ihr, Gary und einer als Babysitterin engagierten Minderjährigen zu fröhlichen Petting-Triolen kommt.

Erste Schatten fallen auf ihre Beziehung, als ein Nachbar Gary verdächtigt, mit der 12jährigen Tochter seiner Cousine Tony geflirtet zu haben, und Gary sich mit diesem Nachbarn so blindwütig prügelt, daß der sich hinterher tödlich bedroht fühlt: »Gary will mich umbringen. Mich oder jemand anderen.«

Vergebens versucht Gary einen Arbeitskollegen zum gemeinsamen Diebstahl eines Lastkraftwagens zu verführen. Ärger über die Weigerung eines Gebrauchtwagenhändlers? ihm einen Wagen auf Kredit zu verkaufen, schlägt Gary wieder auf die Potenz. Als er aus einem Kaufhaus ausgerechnet ein Paar Wasserskier stiehlt, ist Nicole -- die nichts gegen seinen gelegentlichen Bierdosen-Klau hat -- zum erstenmal sauer auf ihn.

Gary stiehlt mehrere Pistolen. Auf einer Party provoziert er wieder eine Prügelei, bei der er unterliegt. Bei einer Autofahrt mit Nicole und den Kindern kommt es zum Streit, zu gegenseitigen Schlägen und zur ersten Trennung.

In einem Supermarkt versucht er ein Stereogerät zu stehlen, wird aufgehalten, braust mit dem Auto los und rammt auf dem Parkplatz zwei andere Wagen. Er stellt sich der Polizei, die ein Protokoll aufnimmt und ihn wieder laufenläßt.

Er schreibt Nicole einen Brief: »Ich bin einer von den Typen, die es wahrscheinlich gar nicht geben dürfte.« Sie nimmt ihn wieder auf. Wieder hat er Potenzstörungen? Orgasmusschwierigkeiten. Bei einer Familienfeier erschreckt er Nicoles Vater mit der unvermittelten Frage: »Haben Sie schon mal den Drang verspürt, irgend jemanden zu töten?«

Während Gary zur Arbeit fort ist, trifft Nicole ihren Ex-Ehemann Jim Barrett wieder und schläft mit ihm. Nach neuem Streit bringt Gary Nicole zu ihrer Mutter und schreit: »Ich will dich nicht wiedersehen.« Als er sie dann doch wiederholen will, ist sie in eine andere Wohnung umgezogen, wo sie sich, voller Angst vor Garys gewalttätigem Jähzorn, versteckt.

Verzweifelt hockt Gary in Nicoles verlassenem Haus. Als sie noch einmal zurückkommt, um einen Staubsauger abzuholen, will er sie festhalten, aber sie bedroht ihn mit einer seiner gestohlenen Pistolen und fährt davon. Kurz darauf gesteht Gary seiner Cousine Brenda: »Ich schaffe es nicht ... Ich glaube, ich werde Nicole umbringen.« Das Desaster nimmt seinen Lauf.

An dem Abend, an dem er den Tankwart Jensen umbrachte? hatte Gilmore Nicoles 1 7jährige Schwester April aufgegriffen. Das leicht geistesverwirrte Mädchen, das als 15jährige im Drogenrausch vergewaltigt worden war, hatte ihn gebeten, in seinem Wagen mitfahren zu dürfen.

April saß draußen im Wagen, als Gilmore in der Tankstellentoilette Jensen erschoß; sie bekam, wie sie sagte, nichts davon mit. Nach der Tat fuhr Gary mit ihr ins Autokino, und sie sahen seinen Lieblingsfilm: »Einer flog über das Kuckucksnest«. Die Nacht verbrachten sie in einem »Holiday Inn«-Motel. Sie rauchten Marihuana, und Gary wollte mit April schlafen, aber sie wies ihn ab.

Am nächsten Morgen ging das Mädchen nach Hause. Gary erschien zur Arbeit. Am selben Tag hatte er eine Aussprache mit seinem Bewährungshelfer: Er sagte ihm, daß er mit dem Trinken aufhören wolle, um dadurch Nicole zurückzugewinnen. Am Abend erschoß er Bushnell. Ein Zeuge sah ihn mit der Waffe in der Hand aus dem Motel kommen. Daß sie ihn schon in derselben Nacht fassen konnte, verdankte die Polizei einem Tip von Brenda. Eine bittere Ironie im Leben des Gary Gilmore, aufgezeichnet von Norman Mailer, bestand darin, daß sich dem Mann jetzt, nach seinen Schreckenstaten, jene Beachtung und sogar Sympathien zuwendeten, die er in früheren Lebensstadien offenkundig entbehrt hatte.

Schon der Polizeileutnant Nielsen, der Gary als erster verhörte, empfand Mitgefühl mit dem Mann, der »keine Erklärung« für seine Taten wußte und die Hoffnung äußerte, hingerichtet zu werden. Gilmore: »Ich komme mit dem Leben nicht zurecht.«

Staatsanwalt Noall Wootton, der für Gary die Todesstrafe forderte, bei der Hinrichtung aber nicht zuschauen wollte, war durch Gilmores Auftritt vor Gericht gleichwohl irritiert. Gary präsentierte sich selbst als Beweis dafür, daß der Strafvollzug seinen Rehabilitierungszweck nicht erfülle. Wootton erkannte, daß Gilmore ihm in gewisser Weise an Intelligenz und Bildung überlegen war: »Jesus, Allmächtiger, das System hat bei diesem Mann wirklich versagt.«

Ähnliche Verunsicherungen weiß Mailer auch von anderen Amtspersonen zu berichten. Richter Bullock, der Gilmore verurteilt, hegt doch grundsätzliche Zweifel an der Todesstrafe. Garys Anwälte, die seinen Verzicht auf Berufung zunächst für einen theatralischen Bluff halten, gewinnen, je besser sie ihn kennenlernen, um so mehr Achtung vor der Haltung des Verurteilten. Ebenso wird es, über alle einschlägigen Erfahrungen seiner Karriere hinaus, Larry Schiller ergehen.

Vor allem aber Nicole fühlt nun und zum ersten Mal, daß sie Gary »immer lieben« wird.

Sie besucht ihn im Gefängnis und in der Klinik, wo er auf seinen Geisteszustand untersucht wird. (Alle Ärzte und Psychologen erklären ihn für voll zurechnungsfähig.) Als sie einmal nicht zu ihm gelassen wird, schreit sie von außen zu seiner Zelle hoch: »Gary Gilmore, ich liebe dich!«

Sie will ihm treu sein, hat aber während seiner Haft weiterhin Verkehr mit wechselnden Partnern. Sie schneidet sich mit einer Rasierklinge die Pulsader auf, bricht aber den Selbstmordversuch ab. Aus der Zelle, in der er allabendlich ein Fitness-Training absolviert -- Kniebeugen, zehn Minuten Kopfstand -, bestürmt er sie in leidenschaftlichen Briefen, keine anderen Männer mehr zu haben »Ich kann die Vorstellung nicht ertragen.«

Er beschwört -- mit heftiger, stellenweise durchaus poetischer Obszönität, ein kleiner Henry Miller -- die Erinnerung an ihre gemeinsamen Sex-Freuden, besingt ihren Körper; er klagt sich selbst an, jammert und flucht.

Er berichtet ihr, mit Wut und Sarkasmus, von seinen wirklich niederschmetternden, persönlichkeitszerstörenden Knast-Erfahrungen, räsoniert über Meditation, Seelenwanderung, Karma, »rachsüchtige Geister«, Tod und Jenseits.

Und er suggeriert ihr, ein so abgründiger wie unwiderstehlicher Verführer, sie solle ihn in den Tod, ins Jenseits begleiten.

Gilmores Hinrichtung wird auf den 15. Dezember angesetzt. Aber seine beiden Pflichtverteidiger erwirken einen Aufschub. Gary schäumt: »Haben die Leute von Utah nicht den Mut, zu ihren Urteilen zu stehen?« Er feuert die Pflichtverteidiger und heuert Dennis Boaz, einen kalifornischen Anwalt ohne Praxis, Möchtegern-Literaten und

* Gilmore-verwandte Ida und vern Damico (1. u. 3. v. l.), Anwälte Stanger und Moody am Tag vor der Hinrichtung.

Halb-Hippie, der sich ihm als Sympathisant und Biograph angedient hat.

Gary bittet Boaz, ihm 50 Seconal in die Zelle zu schmuggeln. Boaz, bei aller Sympathie, lehnt ab.

Einige Tage später schlucken die Selbstmord-Partner Gary und Nicole je 35 Schlaftabletten -- zu wenige. Gary ist nach 48 Stunden wieder fit, Nicole kommt in eine Nervenklinik.

Vom wem und vor allem auf welche Weise, trotz strenger Kontrollen, die Tabletten ins Gefängnis geschmuggelt wurden, blieb damals ungeklärt -- Mailers Buch enthüllt auch dieses Geheimnis im Detail.

Nicole hatte die Tabletten während einer Woche bei verschiedenen Ärzten erschwindelt. Sie hatte sie halbiert, die Dosis für Gary in die unaufgeblasene Hülle eines Luftballons gefüllt, sich das Päckchen tief in die Vagina eingeführt und so, trotz einer Leibesvisitation, ins Gefängnis bringen können.

Im Besucherraum saß sie einige Minuten auf Garys Schoß; die Aufseher gestatteten den Häftlingen und ihren Besucherinnen gelegentlich ein paar Zärtlichkeiten.

An diesem Tag konnten Gary und Nicole, während der Aufsichtsbeamte wegsah, »ein bißchen Intensivpetting« treiben -- allerdings ohne den in diesem Fall erstrebten besonderen Erfolg. Nicole selbst holte schließlich die Hülle mit den Pillen aus ihrem Versteck und steckte sie Gary zu, der sie sich seinerseits ins Rektum schob und so unbemerkt in seine Zelle verbrachte.

Als Larry Schiller nach Provo kam, hatte er bereits Verfilmungsverhandlungen mit der Fernsehgesellschaft ABC angeknüpft. Und er wußte auch, so schreibt Mailer, »daß diese Gilmore-Story seine Reputation nicht verbessern würde, aber er konnte sie einfach nicht sausenlassen«.

Hinter der Story waren schon andere her. Boaz hatte ein Gilmore-Interview für 500 Dollar an den Londoner »Daily Express« verkauft, Nicole sich für 2000 Dollar vom US-Skandalblatt »National Enquirer« interviewen lassen.

Die junge Reporterin Tamera Smith von den »Deseret News«, einem Regionalblatt im Besitz der Mormonen-Kirche, hatte von Nicole Einblick in Garys Zellenbriefe erhalten. »urne« hatte Tamera um Zitate und Informationen gebeten, der Filmproduzent David Susskind aus New York bei Boaz angerufen und 20000 Dollar für die Gilmore-Verfilmung geboten.

Schiller überspielte sie alle. Er bootete den windigen Boaz aus, spannte Tamera Smith für sich ein, warf Susskind aus dem Rennen. Er ging den konventionell im Hilton von Salt Lake City lungernden Presse-»Affen« vorsorglich aus dem Weg, mietete sich im »Travelodge«-Motel von Orem ein und ließ sich von Onkel Vern und Gilmores neu verpflichteten Anwälten Bob Moody und Ron Stanger als angeblicher Vermögensberater Zutritt zu Gary verschaffen, den vorbereiteten Copyright-Vertrag in der Tasche.

Gilmore faßte schnell Vertrauen zu Schiller. Bei ihrer ersten Begegnung im Besuchsraum der Haftanstalt war seine erste Frage: »Wer spielt mich im Film?« Er wünsche sich, sagte er scheinbar ganz ernst, den Hauptdarsteller aus »Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia«, Warren Oates.

Als Schiller ihm behutsam klarzumachen begann, daß er eine solche Bedingung nicht in den Vertrag aufnehmen könne, grinste Gary plötzlich und sagte: »Ich hasse Warren Oates.« Befragt, wen er denn wirklich für seine Rolle wünschte, sagte er: »Gary Cooper.« Alle lachten, und nachdem Schiller fort war, erklärte Gary seinem Onkel: »Ich mag Schillers Art, Geschäfte zu machen.«

Mit gratis gespendeten, aber sorgfältig dosierten Informationsbrocken lenkte Schiller Zeitungs- und TV-Kollegen von der Hauptfährte. Zusammen mit Tamera Smith und seiner Freundin Stephanie (die seine Art, Geschäfte zu machen, gar nicht mochte) kopierte er Garys Briefe an Nicole -- auf den für eine Nacht gemieteten Xerox-Maschinen einer Weihnachtskarten-Druckerei in Provo.

Bei seinen finanziellen Einsätzen spielte er va banque -- fraglich, ob er sie je wieder hereinkriegen würde. Der Schlagersänger Paul Anka bot ihm 75 000 Dollar

Produktionsbeteiligung an einem Gilmore-Film, in dem er, Anka, die Hauptrolle

* Zeichnungen von Gilmore.

spielen würde. Die Universal-Film wollte einsteigen -- aber nur, wenn es tatsächlich, geschäftsfördernd, zur Hinrichtung käme.

Ob es dazu kommen würde, war immer noch ungewiß. Auf Antrag des Anwalts Richard Giauque, der die Bürgerrechtler-Vereinigung »ACLU« vertrat, hatte Utah-Gouverneur Rampton einen neuen Aufschub und eine Überprüfung des Urteils durch den Begnadigungsausschuß angeordnet.

Gary beharrte auf seine Hinrichtung: »Macht?s doch endlich, ihr Feiglinge!« Der Ausschuß, dessen Vorsitzender Latimer einst den My-Lai-Schlächter Calley als Anwalt verteidigt hatte, verwarf den Aufschub mit drei gegen zwei Stimmen.

Aber dann bewog Anwalt Giauque Garys Mutter in Portland zu einem Appell an den Supreme Court in Washington, und ein Bundesrichter verfügte neuerlich Aufschub der Exekution.

Gilmore, der seit seinem Selbstmordversuch keinen Kontakt mit Nicole mehr haben durfte, war aus Protest gegen diese Absperrung in einen Hungerstreik getreten. Er brach ihn ab, als der Supreme Court, mit fünf zu vier Stimmen, den letzten Hinrichtungsaufschub wiederaufhob.

Auch Larry Schiller war inzwischen der Zutritt ins Gefängnis versperrt. Moody und Stanger, die Anwälte, interviewten Gary nach seinen Anweisungen; sie trugen kleine Recorder unterm Mantel versteckt in den Besuchsraum, wo sie mit Gilmore durch eine

* Gilmore-Photo, das Nicole sich bei ihrem Selbstmordversuch auf die Brust gelegt hatte.

Glasscheibe über Mikrophon sprechen konnten.

Schiller hatte bald erkannt, daß er allein nicht in der Lage sein würde, Gilmore so intensiv auszufragen, wie es bei dessen Charakter notwendig war. Zur Ausarbeitung neuer und tiefer schürfender Interview-Fragen engagierte er den Reporter Barry Farrell, einen ehemaligen »Life«-Kollegen. Er engagierte ihn, obwohl (oder gerade weil) Farrell bereits einen kritischen Artikel über Schillers Manöver in Provo veröffentlicht hatte: »Die Vermarktung von Gary Gilmores Todestanz«.

Mit Farrells Hilfe holte er aus Gilmore Jugend- und Kindheitserinnerungen heraus, fragte er sich durch seine Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode, von Reinkarnation und Vergeltung im Jenseits hindurch, bohrte er beharrlich nach den verborgenen Motiven, nach dem Ursprung von Garys Fehlentwicklung, nach einem Ur-Trauma -- freilich ohne letzten Erfolg.

Schon als Kind, sagte Gary, sei er stets »auf trouble aus« gewesen, hätten Erwachsene ihn »angeschaut, wie man ein Kind sonst nicht anschaut«. Er erinnerte sich seiner frühen »starken Überlegenheitsgefühle«, er hatte einen tough-guy-complex, wollte ein mobster werden. Alles im Leben, sagte er, sei eine Sache von Gewohnheiten, von Verhaltensmustern, er sei eben »der ewige Rückfäller«.

Fragen nach Sex wies er barsch zurück: »Das ist billig.« Die Interviewer replizierten: »Offenbar finden Sie es leichter, über Mord zu reden als über Sex.«

Hatte ihn seine Mutter geschlagen? »Nein«, sagte Gary, »nie

Wurde er mal, als Junge in der Besserungsanstalt oder später im Gefängnis, homosexuell vergewaltigt? Gary verneinte.

Und auch Barry Farrell fühlte -- wie Schiller, wie Moody und Stanger, wie so viele, die mit ihm zu tun hatten -- zunehmend Sympathie für den Mann in der Zelle. »Ihre Arbeit«, sagte der protestantische Gefängnisgeistliche Campbell zu Farrell, »ist ein Gottesgeschenk -- es ist Garys einmalige und einzige Chance, sich mitzuteilen.«

Der Autor des »Executioner's Song« teilt diese Sympathie, ohne doch seine Hauptfigur zu verklären oder zu entschuldigen. Das Böse in Gary Gilmore, dem gewalttätigen »Soziopathen«, wird bei Mailer nicht etwa nur einer bösen Gesellschaft angelastet.

Als Gilmore über die Anwälte Schiller unter Druck setzte, ihm ein Telephongespräch mit Nicole durch Bestechung von Aufsichtsbeamten zu ermöglichen, lehnte der Reporter ab und schickte Gary ein Telegramm: »Ich bin hier, um Zeitgeschichte aufzuzeichnen, nicht um in sie einzugreifen.« »In Wirklichkeit«, dachte er, »bin ich schon mittendrin. Ich selbst werde ein Teil der Story.«

Gary mokierte sich über die vielen Bibeln, die er ins Gefängnis geschickt bekam. Er erhielt Fan-Post aus allen Teilen der USA und sogar aus dem Ausland, die üblichen, oft neurotischen Heiratsangebote. Er erhielt auch Bitten um Organspenden. Seine Hypophyse vermachte er der kranken Tochter seiner Cousine Brenda, seine Augen sprach er nach einigem Überlegen nicht einem 9Ojährigen, sondern einem 20jährigen erblindenden Bittsteller zu.

Er verteilte das Geld, das er von Schiller bekam, an Verwandte und Freunde und bedachte dabei auch jene Frau aus Provo, deren Windschutzscheibe er bei ihrem mißglückten Auto-Rendezvous zertrümmert hatte. 2000 Dollar überwies er an einen Mithäftling namens Gibbs, dem er den Tip für Nicoles Pillenschmuggel verdankte.

Dieser Gibbs, ein ehemaliger Polizeispitzel, wurde kurz darauf aus der Haft entlassen und versuchte mit Schiller ins Geschäft zu kommen: Er forderte für seine Gilmore-Informationen 10 000 Dollar und einen Auftritt in der Johnny-Carson-Talkshow. Schiller speiste ihn mit ein paar hundert Dollar ab.

Am 15. Dezember setzte das Gericht ein neues Hinrichtungsdatum fest: den 17. Januar 1977. Gilmore tobte, er wolle nicht mehr so lange warten. Kurz darauf unternahm er einen zweiten Selbstmordversuch, diesmal mit Phenobarbital aus der Gefängnisapotheke. Wieder wurde er gerettet.

Schiller sandte sofort neue Interviewfragen, auch eine nach einer möglichen Todesvision Garys: »Haben Sie irgendwas gesehen, wie es auf der anderen Seite ist?« Bei sich interpretierte er Garys zweiten Suizidversuch als einen Akt »kindischer Rachsucht ... vielleicht war das überhaupt der Charakterzug, der es Gary unmöglich machte, im Leben zurechtzukommen«.

Die Hektik um Gilmore eskalierte, makabre Hysterie breitete sich aus. Schiller, durch den Kontakt mit dem Unterweltler Gibbs verschreckt, heuerte einen beurlaubten Polizisten. Jerry Scott, als Leibwächter an. Er ließ zum Abtippen der Tonband-Interviews zwei Sekretärinnen aus Los Angeles kommen. Mit ihnen und Farrell und extra installierten Telephonanschlüssen und eigenen Kopiergeräten residierte er schließlich in sieben Zimmern des Travelodge-Motels, seiner »Festung«.

Eine fixe Firma warf T-shirts mit einem Gilmore-Porträt und der Inschrift »Todeswunsch« auf den Markt. Gary selbst hatte eines erhalten und juxte mit Onkel Vern, ob er es nicht bei der Exekution tragen solle, Vern könne es dann, mit den Einschußlöchern, lukrativ versteigern lassen -- »bei Sotheby?s«, sagte Gary.

Sein jüngerer Bruder Mikal besuchte ihn im Gefängnis und machte, auf Betreiben des ACLU-Anwalts Giauque, einen letzten Versuch, Gary doch noch zur Wahrnehmung seines Rechts auf Berufung, zum Weiterleben zu überreden -- vergebens.

Dem katholischen Gefängnisgeistlichen Pater Meersman, mit dem er über Gott und Geschichte redete, über Cäsar, Napoleon, Muhammad Ah und den neuen US-Präsidenten Jimmy Carter, zeigte er stolz, daß »Time« sein Porträt in die Rubrik »Bilder des Jahres 1976« aufgenommen hatte.

Fünf Personen seiner Wahl durfte der Verurteilte zu seiner Hinrichtung einladen; er benannte Nicole, Onkel Vern, seine beiden Anwälte und Larry Schiller. Alle anderen Journalisten blieben auf Verfügung des Gefängnisdirektors Sam Smith ausgesperrt. Gary schrieb Einladungskarten unter dem Namen seiner Mutter: »Mrs. Bessie Gilmore lädt Sie zur Hinrichtung ihres Sohnes ein ...«

Der New Yorker Reporter Jimmy Breslin bot Schiller bis zu 50 000 Dollar, wenn er ihm seinen Augenzeugenplatz bei der Hinrichtung abträte.

Schiller wurde von Bill Moyers, dem ehemaligen Pressechef Präsident Johnsons, für CBS-Fernsehen interviewt -- stehend und gehend in der Redaktion der »Deseret News«, so hatte Schiller sich ausbedungen, denn in seinem Motelzimmer sitzend würde er, so fürchtete der Beleibte, allzu sehr dem Negativ-Image des »Scheckbuch-Journalisten« und Sensationsausbeuters entsprechen.

Mitten ins Moyers-Interview hinein platzte die Nachricht, daß Schillers Verfilmungs-Partner, die Fernsehgesellschaft ABC, sich aus dem Gilmore-Geschäft zurückzog. Auf Betreiben der Frau eines ABC-Chefs, die an einem Journalisten-College studierte, war entschieden worden: »Kein Entertainment mit Gilmore bei ABC.«

Das Finale beginnt. Drei Tage vor der Exekution erhält Schiller ein »unglaubliches« Angebot des New Yorker Pressemoguls Rupert Murdoch: Er zahlt 125 000 Dollar, wenn Schiller exklusiv für Murdochs »New York Post« über die Exekution berichtet.

Im Motelzimmer mit sich, seinen überstrapazierten Nerven und der »wirklich verführerischen« Offerte allein. erleidet Schiller eine Art Katharsis:

Er denkt an die 25 000 Dollar, die er einst für Marilyn Monroes Nacktphoto bekommen hat, und daß er jetzt das Fünffache mit dem Bericht über die Erschießung eines Mannes verdienen kann. Er bricht in Tränen aus, kann sie nicht aufhalten, »weiß nicht mehr, ob das, was ich mache, moralisch vertretbar ist«. Vom Weinkrampf geschüttelt, stürzt er ins WC und -- so Mailers Beschreibung -- »macht die längste, beschissenste Scheißerei seines Lebens durch, von Anfang bis Ende Diarrhöe«.

Dann faßt er den Entschluß, Garys Hinrichtung auf keinen Fall in keiner Weise zu »verkaufen": »Ich bin mir das schuldig, egal was ich bin, Journalist oder Unternehmer. Vielleicht werde ich niemals irgendwas sein, aber ich bin mir das schuldig, ich muß Integrität gewinnen.

Er ruft Murdoch an und erklärt, daß er seinen Augenzeugenbericht von der Hinrichtung »verschenken« wird, gleich hinterher, »an alle Medien gleichzeitig«. Dann geht er hinaus auf die Straße, nimmt seinen Notizblock in die Hand, beobachtet den Verkehr und übt, das Beobachtete leserlich auf zuschreiben, ohne die Augen nur einmal aufs Papier zu senken: Bei der Exekution, Montagmorgen, soll ihm kein Detail entgehen.

Im Travelodge formuliert Barry Farrell letzte Interview-Fragen an Gary Gilmore. Die Sekretärinnen Debbie und Lucinda arbeiten rund um die Uhr.

Um den Medien-Auftrieb unter Kontrolle zu behalten, verfügt Sam Smith, daß die von der Exekution ausgesperrten Journalisten, die am Montag wenigstens im Gefängnis anwesend sein wollen, sich schon am Vorabend auf dem Parkplatz der Anstalt einfinden und dort die Nacht über bleiben müssen.

Nicole schreibt Gary aus der Klinik, sie habe geträumt, als ein »kleiner weißer Vogel« zu ihm zu fliegen: »Träume von mir, und ich will Dich in meine Träume hineinträumen ...«

Pater Meersman erklärt Gary, warum ihm bei der Exekution eine Kapuze über den Kopf gezogen werden müsse: Die Schützen könnten durch den Blick seiner Augen irritiert werden. Die Todesstrafen-Gegner der ACLU unternehmen letzte juristische Schritte, um die Hinrichtung doch noch einmal hinauszuschieben. Und Earl Dorius, Assistent des Justizministers von Utah, überprüft die Flugverbindungen von Salt Lake City zum 600 Kilometer entfernten Denver: Es könnte notwendig werden, gegen einen in letzter Stunde erwirkten Einspruch vor dem in Denver residierenden Appellationsgericht anzutreten.

Für den Fall, daß der Supreme Court in Washington noch einmal eingeschaltet wird, verabredet Dorius mit dem Sekretär des obersten US-Gerichts, Michael Rodak, einen Code. Wenn er tatsächlich eine neue Entscheidung des Supreme Court zu übermitteln hat, wird Rodak sich bei Dorius am Telephon mit seinem Spitznamen melden: »Hier spricht Mickey aus Wheeling,«

So soll sichergestellt werden, daß nicht »irgendein Spinner oder Über-Engagierter noch im letzten Moment das Gefängnis anruft, sich als Supreme Court meldet und die Hinrichtung aufhält«.

Im nächsten Heft beginnt der SPIEGEL mit dem Vorabdruck der Kapitel aus Norman Mailers Buch »Das Lied vom Henker«, in denen die letzten Stunden und die Hinrichtung Gilmores geschildert werden.

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