4. Fortsetzung
Der Reichsführer SS ließ in München zu einem Vortrag bitten. Offiziere, Industrielle, Professoren und Gutsbesitzer kamen - neugierig, zögernd und mißtrauisch. Seit Monaten, man schrieb das Jahr 1933, war Deutschlands Oberschicht es gewohnt, von NS-Führern als dekadent und judenhörig bezeichnet zu werden.
Doch Heinrich Himmler verzichtete auf jede Kritik. Statt sie zu attackieren, rief der SS-Chef die Herren auf, aktiv dazu beizutragen, das »Zusammenfließen der verschiedenen Traditionsströme in der SS zu ermöglichen«.
Jeder Staat, so argumentierte er, benötige eine Elite. Im nationalsozialistischen Deutschland stelle die SS eine Elite dar, aber diese Funktion könne die Schutzstaffel nur ausüben, wenn sich in ihr »die Tradition echten Soldatentums, die vornehme Gesinnung, Haltung und Wohlerzogenheit des deutschen Adels und die schöpferische Tatkraft des Industriellen auf dem Boden rassischer Auslese mit den sozialen Forderungen der Zeit« verbänden.
Ein Zuhörer erzählte später Himmlers Leibarzt Felix Kersten, die Ausführungen des Reichsführers hätten »allgemeines Staunen ausgelöst«. Solche Töne war man von Nazis nicht gewohnt. Ergebnis: Fast alle Zuhörer traten in die SS ein.
Die Episode verriet, mit welcher Geschicklichkeit Himmler seine Schutzstaffel der Öffentlichkeit zu präsentieren wußte. Wie keine zweite NS-Formation genoß die SS den Ruf, sie hebe sich deutlich ab von der plebejischen Masse des braunen Fußvolks.
»Die sogenannten 'feinen Leute' bevorzugten beim Eintritt in eine der Parteigliederungen die SS«, erinnert sich SD-Führer Walter Schellenberg, und der katholische Erzbischof Dr. Gröber bekannte noch 1946, die SS habe »bei uns in Freiburg als die anständigste Organisation der Partei gegolten«.
Vielen Deutschen erschien der Elite-Anspruch der SS nicht verwerflich; Elite-Bildungen hatte es zu allen Zeiten gegeben. Kein Staat, ob demokratisch oder autoritär, kam auf die Dauer ohne Elite aus. Vom Establishment der angelsächsischen Demokratien bis zur Parteihierarchie des sowjetischen Systems zog sich die Überzeugung, daß ein Regime um so krisenfester sei, je stärker es sich auf eine staatstragende Bevölkerungsschicht stützen könne. Am Schicksal der Weimarer Republik war deutlich geworden, wie es einem Staat ergeht, der ohne staatstragende Elite existieren muß.
So klang denn die Elite-Propaganda der SS den Deutschen besonders verlockend, zumal Himmler seine Thesen aus dem Vokabular konservativer Romantik bezog.
In die SS strömten Schichten, die das soziale Bild der Schutzstaffel radikal änderten. Bis 1933 hatten drei Typen die SS geprägt: der ehemalige Freikorpsmann, der Intelligenzler mit der durch die Wirtschaftskrise abgebrochenen Berufsausbildung und der kleinbürgerliche Parteiveteran.
Von dieser Vor-1933-SS hielt sich nur eine kleine Führerclique, die allerdings bis zum Ende des Dritten Reiches die entscheidenden Positionen in der SS besetzt hielt. Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs waren 90 Prozent der alten SS in den Ruhestand getreten, nur zehn Prozent überlebten den Andrang der Neuen, die ab März 1933 (daher von den mißtrauischen SS-Veteranen »Märzveilchen« genannt) in die Schutzstaffel eintraten.
Den Anfang machte der Adel. Schon vor der Machtübernahme Hitlers waren namhafte Aristokraten zur SS gestoßen, unter ihnen der Erbgroßherzog von Mecklenburg, der Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont, die Prinzen Christof und Wilhelm von Hessen, die Grafen Bassewitz-Behr und von Pfeil -Burghauß, die Freiherren von Eberstein und von Malsen-Ponickau.
Im Frühjahr 1933 strömte weiteres blaues Blut in die SS - so der Prinz von Hohenzollern-Emden aus dem Hause Sigmaringen, der Graf von der Schulenburg - und bald glichen die Ranglisten der Schutzstaffel den Seiten des Gotha.
Die schwarzuniformierten Adligen besetzten manche Position in den oberen Rängen des SS-Führerkorps. 1938 stellten sie
- 18,7 Prozent der SS-Obergruppenführer,
- 9,8 Prozent der SS-Gruppenführer,
- 14,3 Prozent der SS-Brigadeführer,
- 8,8 Prozent der SS-Oberführer,
- 8,4 Prozent der SS-Standartenführer.
Den Adligen folgten die Söhne des mittleren Bürgertums. Sie waren im Gegensatz zu ihren Vorläufern in der SS Menschen des 20. Jahrhunderts, in der Mehrheit Intelligenzler mit akademischer Ausbildung und fast sämtlich aufgewachsen in der Gefühls- und Ideenwelt der deutschen Jugendbewegung.
Sie wanderten fast alle in die maßgeblichen Positionen des Sicherheitsdienstes ab und bildeten dort einen juristisch-intellektualistischen Typus, der sich vom Schützengraben-Sozialismus der SS-Veteranen ebenso weit entfernt fühlte wie von dem kleinbürgerlich-vulgären Nationalsozialismus der Kampfzeit.
Die Walter Schellenberg und Reinhard Höhn, die Franz Six und Otto Ohlendorf schufen das Musterbild des unsentimentalen SS-Technokraten, des »social engineer«, der die Führerdiktatur mit jeder gewünschten formalrechtlichen oder organisatorischen Formel bediente - klug, illusionslos, ohne Skrupel, kaum noch einer Ideologie verschrieben außer jener der Macht.
Eine andere Gruppe der Märzveilchen kam aus dem bürgerlichen Offizierskorps der Reichswehr und versah das ohnehin bereits uneinheitlich gewordene Menschenbild der SS mit weiteren Nuancen. Die Offiziere traten in die 1934 aufgestellte SS-Verfügungstruppe ein und überschatteten binnen kurzer Zeit die SS-Soldaten der ersten Stunde, die Feldwebel-Naturen vom Schlage eines Sepp Dietrich.
Auch im Bauerntum konnte die SS rekrutieren. Seine jüngeren Jahrgänge die ihre Zukunftsaussichten meist pessimistisch beurteilten, füllten die Reihen der KZ-bewachenden Totenkopfverbände; die intelligenteren Bauernsöhne dagegen versuchten ihr Glück auf den SS-Junkerschulen in Bad Tölz und Braunschweig, die ihnen offerierten, was die Reichswehr nicht bot: eine Offizierslaufbahn ohne abgeschlossene Vorbildung.
Als sei die SS-Typologie noch nicht verwirrend genug, schuf Himmler eine neue SS-Figur, den Ehrenführer. Einflußreichen Beamten, Parteifunktionären, Wissenschaftlern und Diplomaten verlieh Himmler einen Führertitel und das Recht, die entsprechende SS -Uniform zu tragen; die SS-Ehrenführer wurden beim Stab Reichsführer SS geführt, machten niemals Dienst und hatten auch keinerlei Befehlsbefugnisse.
Himmler hoffte offenbar, mit solchen Ehrentiteln die SS in der Öffentlichkeit gesellschaftsfähig machen und die Ehrenführer im Sinne der SS beeinflussen zu können - eine phantastische Vorstellung, der außer Himmler nur noch die Entnazifizierer nach 1945 und manche Historiker erlagen.
Daß Diplomaten wie der AA-Staatssekretär Ernst Freiherr von Weizsäcker den Rang eines SS-Brigadeführers oder Parteifunktionäre wie Martin Bormann den Titel eines SS-Obergruppenführers besaßen, verleitete einige Chronisten dazu, in jedem Schwarzuniformierten ein verschlagenes Mitglied von Himmlers Fünfter Kolonne in Staat und Partei zu wittern. In Wirklichkeit waren manche Ehrenführer sowenig Parteigänger des SS-Chefs wie die Gattin des italienischen Außenministers Graf Ciano (eine Tochter Mussolinis), der Himmler auch die SS-Ehrenmitgliedschaft verlieh.
Himmler ließ nicht davon ab, immer neue Rekruten für sein Imperium zu werben. Zeitweilig baute er sogar ganze Organisationen in die SS ein, wenn sie ihm den Zugang zur etablierten Gesellschaft ermöglichten. Einen Kanal zur Agrar-Society hatte er bereits ausgemacht: die ländlichen Reitervereine.
Himmler bemächtigte sich dieser Feste des deutschnationalen Konservativismus: Ein Teil der Reitervereine ritt zwar zur SA ab, die größte Portion sicherte sich aber die SS - alle Reiter in den Hauptpferdezuchtgebieten Ostpreußen, Holstein, Oldenburg, Hannover und Westfalen zogen die SS-Uniform an.
Die SS-Reiter garantierten Himmler manche gesellschaftliche Erfolge. Der Turnierreiter Günter Temme, SS-Unterscharführer, erritt auf »Egly« 1935 im 16. Deutschen Spring-Derby in Hamburg/Klein-Flottbek zum ersten Mal in der Geschichte des Spring-Derbys einen fehlerlosen Sieg, und 1937 gewannen die SS-Reiter sämtliche nationalen deutschen Reiter-Championate.
Diese Siege mußte Himmler freilich teuer erkaufen: Er hatte den ländlichen Reitervereinen zugesagt, jedes ihrer Mitglieder ohne Rücksicht auf dessen politische Einstellung in die SS aufzunehmen. Seither murrten die alten Kämpfer in der Schutzstaffel, die Reiter seien trotz ihrer schwarzen Uniform reaktionäre Deutschnationale geblieben.
Eröffnete der Pakt mit den Reitern Himmler den Zugang zu den Agrariern, so sollte die Allianz mit dem halbmonarchistischen Veteranen-Verein »Kyffhäuserbund« ihm das Reservoir der alten Soldaten erschließen. 1936 trat der Kyffhäuserbund geschlossen der SS bei.
Himmler fahndete jedoch nicht nur nach neuen Mitgliedern für die SS, sondern ebenso nach Geld für die immer teuereren SS-Verbände. Deutschlands Industrieherren und Wirtschaftsmanager sprangen dem Reichsführer bereitwillig an die Seite.
Sie mobilisierten sich zu einem Herrenklub, der sich »Freundeskreis Reichsführer SS« nannte und dessen Mitglieder aus mancherlei Gründen die Nähe Heinrich Himmlers suchten:
Opportunisten wie Dr. Heinrich Bütefisch vom IG-Farben-Vorstand, der 1964 das ihm bereits verliehene Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik zurückgeben mußte, weil seine enge Verbindung mit der KZ-Welt Himmlers bekannt geworden war, überzeugte Nazis wie der ehemalige Reichswirtschaftsminister Kurt Schmitt, besorgte Konzernherren wie Friedrich Flick und verkappte NS-Gegner wie der Robert -Bosch-Direktor Hans Walz fanden sich zu gemeinsamen Spenden für die SS zusammen.
Es gab kaum einen großen Wirtschaftsbetrieb, der sich nicht der Hoffnung hingab, durch Entsendung eines Vorstandsmitgliedes in den Freundeskreis und Zahlungen an die SS die eigenen Interessen vor Übergriffen der Partei zu schützen. Im Freundeskreis waren vertreten:
- die Geldinstitute Deutsche Bank,
Dresdner Bank, Commerz- und Privatbank A. G., Reichsbank und Bankhaus J. H. Stein;
- die Schiffahrtsgesellschaften Norddeutscher Lloyd und Hamburg-Amerika Linie;
- die Industriefirmen Deutsch-Amerikanische Petroleum - Gesellschaft, Continentale Ölgesellschaft, Dr. August Oetker, I. G. Farbenindustrie, Mitteldeutsche Stahlwerke A. G., Portland-Zement-Werke, Rheinmetall-Borsig, Siemens-Schuckertwerke A. G., Reichswerke A. G. »Hermann Göring«.
Von 1936 an bat Himmler die Herren auch regelmäßig zur Kasse. Dem Kölner Bankier Kurt Freiherr von Schröder, Mitglied des Freundeskreises, legte er nahe, man möge für »kulturelle, soziale und karitative Aufgaben der SS« Geld spenden. Der Bankier und seine Freunde beeilten sich, den Wunsch des hohen Gönners zu erfüllen. Jährliche Gesamtspende: eine Million Mark.
Der SS-Chef zeigte sich erkenntlich. Über die Herren des Freundeskreises ging ein Regen von SS-Titeln nieder; von den 32 nicht der SS angehörenden Mitgliedern wurden 15 zu Ehrenführern der Schutzstaffel ernannt.
Wer freilich davor zurückschreckte, die Totenkopf-Uniform anzuziehen, für den hielt die SS eine stillere und etwas billigere Form der Partnerschaft bereit:
Hitler hatte der stets gelddurstigen SS als einziger Parteiformation das Privileg eingeräumt, sich selber zu finanzieren und Fördernde Mitglieder (FM) zu werben. Darunter verstand man Sympathisierende, die das Schwarze Korps finanziell unterstützten, ihm jedoch nicht beitraten. Sie brauchten nicht den Eid auf Hitler zu leisten und unterstanden auch nicht der SS-internen Befehlsgewalt.
Nach der Machtübernahme verstärkte die SS ihre FM-Propaganda, denn sie spekulierte darauf, daß viele Deutsche lieber der im Grunde anonymen FM -Organisation als einer aktiven Parteigliederung beitreten würden. Das Signum FM bot ausreichenden Schutz vor NS-Belästigungen, zumal ein FM keineswegs der Partei angehören mußte und seinen finanziellen Beitrag selber bemessen konnte. Monatlicher Mindestbeitrag: eine Reichsmark.
Der propagandistische Vorstoß brachte den erwarteten Erfolg. Himmlers Schattenheer Fördernder Mitglieder überrundete zahlenmäßig in kurzer Zeit die aktive SS und pumpte Geld in die leeren Kassen der Schutzstaffel: 1934 zahlten 342 492 Fördernde Mitglieder 581 000 Reichsmark ein.
Indes, einer aus so verschiedenartigen Elementen zusammengesetzten SS mußte die innere Geschlossenheit fehlen. Die Veteranen der Schutzstaffel sahen plötzlich Männer in SS-Uniformen, denen es sichtlich schwerfiel, das Einmaleins des Nationalsozialismus aufzusagen. Die SS war zu einem höchst vieldeutigen Begriff geworden.
NSDAP-Reichsschatzmeister Franz Xaver Schwarz, einer der ältesten SS -Angehörigen, wollte sein Sig-Runen-Gewand nicht mehr anlegen, weil - wie Gruppenführer Berger festhielt - »zu viele diese Uniform trügen und vor allen Dingen viele SS-Führer seien, die innerlich und äußerlich dazu keine Berechtigung hätten«.
Rangabzeichen und Uniform der SS sagten wenig über die Gesinnung eines Runenmannes aus. Der künftige Gestapochef Heinrich Müller trug an seiner SS-Uniform den Ehrenwinkel des Alten Kämpfers, gleichwohl bescheinigte ihm die Gauleitung München -Oberbayern am 4. Januar 1937, der Ehrgeizling und Streber Müller, »nicht Parteigenosse«, habe noch nie innerhalb der Partei aktiv mitgearbeitet« und daher »keinerlei Verdienste um die nationale Erhebung«.
Über den SS-Hauptsturmführer Dr. Heinrich Bütefisch, einem der prominentesten Mitglieder des Freundeskreises, notierte die Personalabteilung des Reichssicherheitshauptamtes, als ehemaliger Freimaurer und durchaus konzernhöriger« Mann habe er »eine auf internationale Zusammenarbeit abgestellte Mentalität, für die es selbstverständlich ist, daß ein Konzern ein Staat im Staate ist, der seine eigenen Lebensgesetze und Lebensrechte besitzt«.
Selbst Himmler erkannte allmählich die Gefahr, die der inneren Einheit der Schutzstaffel drohte. Er verhängte eine zeitweilige Eintrittssperre und ließ in zwei Jahren 60 000 SS-Männer ausstoßen. Himmlers Säuberungs-Ukas fielen allzu auffällige Opportunisten, Alkoholiker, Homosexuelle, Männer mit unsicherem Ariernachweis und auch alte Schläger zum Opfer, die in der Kampfzeit gut genug gewesen waren, politische Gegner niederzuknüppeln, jetzt aber nicht mehr in das Bild der Hitler-Garde hineinpaßten.
Besonders hartnäckig ließ er Homoerotiker verfolgen, denn Verstöße gegen den Paragraphen 175 faßte er als eine persönliche Beleidigung auf. Homosexualität war ihm ein todeswürdiges Verbrechen, kein SS-Homosexueller entging seiner Rache - selbst Alte Kämpfer wie der erste Chef des SS-Hauptamtes, Gruppenführer Curt Wittje, mußten die SS verlassen.
Aber auch die Entdeckung nichtarischer Blutstropfen in SS-Adern erregte Himmler. Ab 1. Juni 1935 mußte jeder SS-Führer vom Sturmführer an aufwärts, ab 1. Oktober 1935 jeder Oberschar- und Hauptscharführer, bald darauf jeder SS-Mann nachweisen, daß er und seine Ehefrau keine jüdischen Vorfahren hatten.
Der Hinauswurf von 60 000 SS-Männern allein konnte der SS die angestrebte innere Einheit noch nicht sichern. Himmler wußte: Was der Schutzstaffel fehlte, war ein Korpsgeist, der alle zusammenhielt, waren straffe Organisation, verschärfte Aufnahmebestimmungen und ein Ehrenkodex, dem sich jeder SS-Mann verpflichtet fühlen mußte.
Bis dahin konnte die Schutzstaffel nicht mehr sein als eine Organisation, jetzt sollte sie ein Orden werden. Heinrich Himmler hatte bereits ein Vorbild gefunden, nach dem er seine Ordenspläne ausrichten wollte: die Gesellschaft Jesu.
Im Jesuitenorden sah Himmler, was ihm als Kernelement jeder Ordensmentalität erschien, die Doktrin des Gehorsams, der Kult der Organisation. SD -Führer Schellenberg bezeugt, die Organisation der SS sei von Himmler »nach den Grundsätzen des Jesuitenordens aufgebaut« worden.
Die Ähnlichkeit zwischen beiden Mächten war in der Tat verblüffend: hier wie dort ein mit größten Privilegien ausgestatteter Orden, frei von jeder weltlichen Jurisdiktion, geschützt durch strenge Aufnahmebestimmungen, zusammengehalten durch das Gelübde absoluten, blinden Gehorsams gegenüber dem Oberherrn, hier Papst genannt, dort Führer geheißen.
Auch die Spitzengliederung des SS -Ordens erinnerte an das geistliche Vorbild. Jesuiten-Gründer Ignatius von Loyola (1491 bis 1556) hatte an die Spitze seines Ordens einen General gestellt, beraten von Assistenten, die eine Art Ordensregierung bilden. Himmler kopierte das System, als er daranging, der SS eine zentrale Befehlsstruktur zu geben.
Statt der Jesuiten-Assistenten neben dem Ordensgeneral arbeiteten im SS -Orden an der Seite des Reichsführers fünf Hauptämter:
- die Chefadjutantur unter Brigadeführer Karl Wolff, oberstes Führungsorgan der SS, 1936 in »Persönlicher Stab Reichsführer SS« umbenannt und 1939 in den Rang eines Hauptamtes erhoben;
- das SD-Hauptamt unter Gruppenführer Reinhard Heydrich, Führungsorgan des Sicherheitsdienstes;
- das Rasse- und Siedlungshauptamt
unter Obergruppenführer Walther Darre, Wächter über die ideologische und rassische Reinheit aller SS-Mitglieder;
- der Chef SS-Gericht, Brigadeführer
Paul Scharfe, der die Sondergerichtsbarkeit der SS beaufsichtigte und 1939 ein entsprechendes Hauptamt bekam;
- das SS-Hauptamt unter Gruppenführer August Heißmeyer, verwaltungstechnische Zentrale für alle SS -Einheiten mit Ausnahme des SD.
Heißmeyers Hauptamt entwickelte sich später zu einer so überorganisierten Superbehörde, daß bei Kriegsbeginn ihre Befugnisse auf mehrere neue Hauptämter verteilt wurden. Das entfettete SS-Hauptamt übernahm Gruppenführer Gottlob Berger; an neuen Befehlsorganen wurden gebildet:
- das Führungshauptamt unter Gruppenführer Hans Jüttner, Kommando -Organ der Waffen-SS;
- das Personalhauptamt unter Gruppenführer Maximilian von Herff, maßgebliche Instanz für die Personalangelegenheiten aller SS-Führer und für die Stellenbesetzung der Allgemeinen SS;
- das Verwaltungs- und Wirtschaftshauptamt (später umbenannt in: Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt) unter Gruppenführer Oswald Pohl, dem alle Wirtschaftsunternehmen der SS und die Verwaltung der Konzentrationslager anvertraut wurden;
- das Hauptamt »Dienststelle SS-Obergruppenführer Heißmeyer«, Kontrollorgan der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten.
Nach dem Aufbau der Oberbehörden wandte sich der SS-Chef einer neuen Aufgabe zu: Den vielgestaltigen Menschentypen in der Schutzstaffel setzte er ein Vorbild - den normierten SS -Mann, jenen aufgenordeten. Herrenmenschen, der nach dem Willen Himmlers zum SS-eigenen Einheitstyp werden sollte.
Das Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) entwarf neue und verschärfte Bestimmungen für die Aufnahme von SS-Bewerbern. Hauptsturmführer Professor Dr. Bruno K. Schultz erfand eine Wertskala für die Rassenkommission des RuSHA, vor der die SS-Bewerber ihre Aufnahmeprüfung zu bestehen hatten.
Da sich Himmler, getreu der Mär nationalsozialistischer Bevölkerungspolitiker, den Herrenmenschen nur als nordisches, blond-blauäugiges Wesen vorstellen konnte und die SS allmählich von Angehörigen anderer Rassen säubern wollte, richtete auch, RuSHA -Schultz seine Werte-Welt nach dem nordischen Homunkulus aus. Seine Rassentabelle kannte fünf Gruppen:
- die »rein nordische« Gruppe,
- die »vorherrschend nordische oder
fälische« Gruppe,
- die Gruppe der aus beiden Rasen harmonisch gemischten Menschen mit »leichten alpinen, dinarischen oder mittelmeerischen Zusätzen«,
- die Gruppe der Mischlinge vorwiegend ostischen oder alpinen Ursprungs,
- die Gruppe der Mischlinge außereuropäischer Herkunft.
Als SS-würdig erschienen nur Bewerber, die unter die ersten drei Gruppen fielen. Allerdings, Rasse war nicht alles. RuSHA-Professor Schultz forderte in einem Neun-Punkte-System von dem zukünftigen SS-Mann auch einen wohlproportionierten Körperbau. Er nahm damit seinem Reichsführer den Horror
vor »Leuten, die zwar groß sind, die aber irgendwie falsch gewachsen sind«.
Schultz nahm daher nur Bewerber, die in seinem Neun-Punkte-Programm die ersten vier Noten ("ideale Statur«, »ausgezeichnet«, »sehr gut«, »gut") erhielten; Bewerber mit den untersten drei Noten fielen durch.
Leuten mit den Noten 5 oder 6 gab Schultz noch eine Chance. Diese Kandidaten durften trotz »mangelhaften« Körperbaus durch Haltung nachweisen, daß sie gleichwohl nordische Menschen seien. Dazu Himmler: »Es kommt nun also darauf an, daß er (der Kandidat) bei aller Diszipliniertheit doch nicht wie ein Knecht auftritt, daß sein Gang, seine Hände, daß all das wirklich dem entspricht, was wir als Ideal wollen.«
Hatte der Bewerber die Hürden der Rassenkommission erfolgreich überwunden, dann mußte er sich in das System anhaltender Prüfungen und Bewährungen einordnen, das Himmler wiederum den Jesuiten abgeguckt hatte.
Wie in der Gesellschaft Jesu die Novizen zwei Jahre lang schwere Exerzitien und Proben erdulden müssen, so harrten auch des SS-Kandidaten mannigfache Tests. Die einzelnen Stationen des SS-eigenen Noviziats orientierten sich nach dem nationalsozialistischen Festtagskalender.
Am 9. November, dem Jahrestag des Münchner Bierkeller-Putsches, trat der 18jährige Kandidat in die SS ein, wurde zum Staffel-Bewerber ernannt und zog eine SS-Uniform ohne Kragenspiegel an. Der 30. Januar, Jahrestag der Machtübernahme, sah den Staffel-Bewerber bereits als Staffel-Jungmann und im Besitz eines vorläufigen SS -Ausweises.
Erster Höhepunkt war dann Hitlers Geburtstag. Am 20. April schwor der neue Staffel-Anwärter, mit Kragenspiegeln und endgültigem SS-Ausweis versehen, den Eid auf seinen Führer:
Ich schwöre Dir, Adolf Hitler, als Führer und Kanzler des Deutschen Reiches Treue und Tapferkeit. Ich gelobe Dir und den von Dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod, so wahr mir Gott helfe.
Die Eideszeremonie sollte den Neuling jenes mystische Band spüren lassen, das den charismatischen Führer mit seinen schwarzuniformierten Kultdienern vereinigte. Zwischen Schwur und Einrücken zum Arbeitsdienst (1. Oktober) mußte der Anwärter das Reichssportabzeichen erwerben und den SS -Katechismus erlernen, dessen Frage und-Antwort-Spiel den Staffel-Anwärter noch tiefer in den Hitler-Kult des schwarzen Ordens einführte.
Frage: »Warum glauben wir an Deutschland und den Führer?« Antwort: »Weil wir an einen Herrgott glauben, glauben wir an Deutschland, das er in seiner Welt geschaffen hat, und an
den Führer Adolf Hitler, den er uns geschickt hat.«
Derartig weltanschaulich gedrillt, absolvierte nun der Staffel-Anwärter seine Pflichtzeit in Arbeitsdienst und Wehrmacht, um schließlich in neuer Eigenschaft wieder bei der SS aufzutauchen, als Staffel-Vollanwärter. Lauteten die Auskünfte der Wehrmacht günstig, so konnte er innerhalb eines Monats endgültig in den Orden aufgenommen werden, wieder schrieb man den 9. November: Der Kreis hatte sich geschlossen.
Dann bekam das junge Ordensmitglied den SS-Dolch und tauchte damit ein in eine bizarre, exklusive Bruderschaft, in der sich Sektenfanatismus, feudalistische Lebensgewohnheiten und romantischer Germanenkult mit modernem politisch-wirtschaftlichem Management und kaltblütigster Staatsräson vermengten.
Jetzt kam der entscheidende Akt der von Himmler geplanten Erziehung zum SS-konformen Herrenmenschen: die Begründung eines Korpsgeistes. Er war offensichtlich dem Standeskult des preußischen Offiziers nachgebildet.
Jeder Befehl Himmlers, jede kleine Äußerlichkeit im Dienstbetrieb sollte den SS-Männern ein Elitebewußtsein einhauchen, das bezweckte, die Schutzstaffel von jeder anderen Parteigliederung zu unterscheiden. Himmler gab seinem Orden eine besondere Ehre, inspiriert von mittelalterlichen Rittervorbildern.
SS-Richter Scharfe begründete, warum die SS auch in der Partei etwas Besonderes sei: »Der SS-Mann nimmt gegenüber dem einfachen Pg. natürlich eine Sonderstellung ein, insbesondere dadurch, daß er die Bewegung und ihre Führer nötigenfalls durch Hergabe seines Lebens zu schützen hat. Diese Sonderstellung ... hat selbstredend eine Sonderbehandlung des SS-Mannes im Gefolge.«
Daraus leitete Scharfe den Anspruch ab, kein Gericht des Staates, aber auch kein Parteigericht dürfe über einen SS -Mann urteilen - das komme allein den Richtern und Vorgesetzten der Schutzstaffel zu.
Es entstand eine Sondergerichtsbarkeit, die den SD, die Verfügungstruppe, die Totenkopfverbände, die Junkerschulen und praktisch alle SS-Führer ab Sturmbannführer von der weltlichen Justiz unabhängig machte. Jahrhunderte europäischer Rechtsgeschichte waren ausgelöscht: Der SS-Mann bekam eine eigene Ehre und verteidigte sie selbst.
Der empfangene Dolch wurde zum Symbol der Sonderehre des Runenmannes. Himmler: »Jeder SS-Mann hat das Recht und die Pflicht, seine Ehre mit der Waffe zu verteidigen.« Ein Fossil aristokratischer Selbstüberhebung kehrte zurück - das Duell.
Jeder SS-Mann durfte von nun an, vorbehaltlich der Zustimmung des Reichsführers, einen anderen zum Zweikampf fordern. Himmler legte in einem Befehl mit gewohnter Oberlehrer -Genauigkeit die Modalitäten des Duells fest.
Nach erfahrener Beleidigung, so verfügte er, habe der SS-Mann innerhalb von 3-24 Stunden Schritte einzuleiten, die erkennbar werden lassen, daß er sich um Aufklärung bzw. Genugtuung bemüht«; dabei zählten »Sonn- und Feiertage nicht mit«. Werde ihm die Genugtuung verweigert, so habe er dem Gegner »zu eröffnen, daß er durch seinen Beauftragten (Kartellträger) auf den Vorfall zurückkommen und ihm das Weitere mitteilen lassen« werde.
Der Kartellträger habe »möglichst im Dienstgrad des Beleidigers« zu stehen, »grundsätzlich im Dienstanzug« zu erscheinen, den Gegner seines Mandanten zum Zweikampf zu fordern und die Waffenart auszuhandeln. Schriftliche Befragung durch einen Kartellträger sei »nur in Ausnahmefällen zulässig« und müsse dann »stets durch eingeschriebenen Brief erfolgen«.
Zu seiner Vorstellung von SS-eigener Ehre gehörte auch, daß Himmler zuweilen den Selbstmord erlaubte. Auch hier bevorzugte er eine pedantisch-bürokratische Form, wie der Fall des wegen Untergebenenmißhandlung zum Tode verurteilten Obersturmführers Johannes Buchhold zeigte.
»Ich setzte ... Buchhold«, registrierte Hauptsturmführer Bleyl am 22. Juni 1943, »von der Anordnung des Reichsführers SS in Kenntnis, wonach ihm eine Pistole in die Zelle zu legen sei, und zwar für die Dauer von 6 Stunden mit dem Hinweis, daß ihm damit Gelegenheit gegeben würde, die von ihm begangene strafbare Handlung ... selbst zu sühnen. Ich übergab SS-Obersturmführer Buchhold eine Pistole 08, durchgeladen mit einem Schuß, gespannt und entsichert, und entfernte mich darauf.«
Der Todeskandidat mußte die Gnade seines Reichsführers noch schriftlich
bezeugen: »Ich bestätige die Richtigkeit der obigen Vernehmungsniederschrift und zeichne durch Unterschrift. Buchhold, SS-Obersturmführer.«
Nächste Nachricht vom Reichsführer: »Die Leiche ist den Angehörigen zur Verfügung zu stellen. Buchhold hat seine Tat mit dem Tode gesühnt. Die Angehörigen sind so zu versorgen, als wenn B. gefallen wäre.«
Das Sonderrecht, das für jeden SS -Mann galt, barg jedoch in der Optik Himmlers eine Gefahr für Disziplin und Ordnung: die Tücke der Gleichmacherei. Was einst nur dem preußischen Offizier zustand, die Wahrnehmung einer Standesehre, war in der SS auch auf den niedrigsten Dienstgrad ausgedehnt. Einer solchen Pseudodemokratisierung aber mußte Himmler durch eine verstärkte hierarchische Ordnung innerhalb der Schutzstaffel entgegenwirken.
Durch das Kollektiv der SS zog der Reichsführer eine Grenzlinie, die des Ordens Priesterschaft und Hohepriesterschaft von den Laienbrüdern trennte. Von den Freimaurern, die er fast abergläubisch fürchtete, hatte Himmler gelernt, wie man Macht und Geheimnis einer Ordenshierarchie durch Verleihung bedeutungsschwerer Insignien und Ränge steigert.
In seiner schwarzen Gegenloge führte Himmler drei Insignien ein:
Für bewährte SS-Männer, gleich welchen Ranges, ließ er einen silbernen Ring mit dem verkleinerten SS-Totenkopf entwerfen. Ursprünglich war der Totenkopfring für Alte Kämpfer gedacht, er sollte nur an SS-Männer bis zur Mitgliedsnummer 10 000 ausgegeben werden. Aber der Kreis der Ringbesitzer wurde immer weiter gezogen. 1939 besaß den Ring fast jeder SS-Führer, der eine längere Dienstzeit absolviert hatte.
Vorsichtiger ging Himmler mit einem Totem des SS-Führerkorps um, dem Ehrendegen, der zu einem der wichtigsten Requisiten des neudeutschen Rittertums avancierte.
Der Ehrendegen wurde nur an SS -Männer ab Untersturmführer verliehen, und dies nicht (wie im Falle des Totenkopfringes) nach feststehenden Regeln, sondern ausschließlich nach des Reichsführers Willkür und Huld. Nur die Edelknappen der Schutzstaffel, die Absolventen der Junkerschulen, erhielten den Degen automatisch nach bestandener Abschlußprüfung.
Den Mystiker im Reichsführer-Rock befriedigte freilich selbst diese hierarchische Nuancierung noch nicht. Geschichtsromantiker Himmler wußte aus seinen Sagenbüchern, daß der Keltenkönig Artus (500 nach Christus) die zwölf tapfersten und edelsten seiner Ritter um eine runde Tafel versammelt hatte. Die Sage muß den SS-Chef tief beeindruckt haben, denn er duldete an seiner Tafel stets nur zwölf Gäste. Und wie einst Artus die tapfersten zwölf ausgewählt hatte, so bestimmte nun König Heinrich die zwölf besten Obergruppenführer zu oberen Hierarchen des schwarzen Ordens.
Für die Auserwählten dachte sich Himmler wiederum ein besonderes Signum aus. Professor Karl Diebitsch, Leiter des für künstlerische Fragen zuständigen SS-Amtes München, bekam 1937 von seinem Reichsführer Weisung, für die wichtigsten SS-Führer Wappen zu entwerfen.
Der SS-Chef fand in Haus Wewelsburg eine Walhalla, in der er seine Artus-Tafel aufstellen und den Wappen seiner Ritter eine würdige Kulisse bieten konnte. In Himmlers Gralsburg saßen die Auserwählten in einem 35 Meter langen, 15 Meter breiten Speisesaal, rund um des Reichsführers eichenhölzerne Tafel, jeder in einem schweinsledernen Ohrensessel mit einem silbernen Plättchen, das den Namen des jeweiligen SS-Ritters preisgab.
Sie trafen sich zu regelmäßigen Meditationen und Konferenzen, die sich kaum von Spiritisten-Zusammenkünften unterschieden. Jeder der Auserwählten besaß in der Burg ein eigenes Gemach, das jeweils in einem bestimmten historischen Stil eingerichtet und einer historischen Persönlichkeit gewidmet war.
Der Burgherr, nach dem Urteil des Rüstungsministers Albert Speer »halb Schulmeister, halb verschrobener Narr«, hatte auch schon das Ende seiner Ritter bedacht. Unter dem nördlichen der drei Festungstürme lag ein Kellergewölbe aus farbigem Naturstein, das durch 1,80 Meter dicke Mauern von der Außenwelt getrennt war. Dort verbarg sich das Allerheiligste des Ordens: die Kultstätte, das Reich der Toten.
In der Mitte des Bodens öffnete sich eine brunnenartige Vertiefung, in die zwei Stufen hinabführten. Eine steinerne Schale bildete das Zentrum, rund um die Wand des Kellers zogen sich zwölf steinerne Sockel.
In der Schale sollten die Wappen toter Obergruppenführer verbrannt, Urnen mit der Wappenasche auf einem der Sockel postiert werden. Die Entlüftung durch vier faustgroße Löcher in der Kellerdecke war so konstruiert, daß sich während der Verbrennungszeremonie der Rauch wie eine Säule im Raum hielt.
Hier, in Haus Wewelsburg, wollte Himmler mit seinen Obergruppenführern das ideologische Rüstzeug des Ordens schmieden. Der Schauplatz hätte nicht idealer sein können: Die Wewelsburg, unweit von Paderborn, war die einzige Höhenfeste Westfalens, genannt nach einem ihrer frühesten Besitzer, dem Raubritter Wiwel von Büren.
Der Legende nach hatte Himmler einmal von der Prophetie gehört, den nächsten Sturm aus dem Osten werde nur eine Burg in Westfalen überstehen, und daraufhin das Land nach der Feste absuchen lassen, bis er auf die Wewelsburg stieß.
Die Wirklichkeit ist prosaischer: Der Landrat des Kreises Büren, zu dessen Aufgaben auch die Instandhaltung der Burg gehörte, war froh, dem burgennärrischen SS-Chef das Gemäuer abtreten zu dürfen. Am 27. Juli 1934 ging die Wewelsburg gegen einen jährlichen Pachtzins in Höhe von einer Reichsmark in den Besitz der SS über.
Der Romantiker Himmler hatte seine Marienburg gefunden, denn wie er in der SS einen neuen Deutschen Ritterorden sah, so sollte auch die Wewelsburg geistiges Zentrum und Stätte der Inspiration des neuen Ordens sein, analog der Marienburg in Westpreußen, in der einst die Hochmeister der Deutschritter die Herrschaft über die Slawen konzipiert und ihre berühmtesten Toten unter dem Chor der Schloßkirche begraben hatten.
In seinem Persönlichen Stab richtete Himmler ein »Amt Wewelsburg« unter dem Standartenführer Siegfried Taubert ein, der 1937 auch Burgkommandant wurde. SS-Architekt Hermann Bartels arbeitete die Umbaupläne aus, um auf seine Art zu verwirklichen, was der Jesuit Johann
Horrion schon zu Anfang des 17. Jahrhunderts so besungen hatte:
Nun hebt Wewelsburg,
auf gediegenem Felsen sich türmend, Hoch zu den Wolken der Luft kühn das erhabene Haupt.
Einst von den Hunnen (wenn Glauben du schenkst der Sage) gegründet, hat nach verschiedenen Herrn Dich sie zum Herrscher erwählt, Jetzo ein Haus, Dein würdig
Ein Kommando des Freiwilligen Arbeitsdienstes und ein Stab von SS-Experten legten die Grundlagen der Himmler-Burg. Über dem Speisesaal im Südflügel des Festungsdreiecks wurden die Privatgemächer des Reichsführers eingerichtet, daneben entstanden ein Sitzungssaal und ein Gerichtssaal für das oberste SS-Gericht.
Das Herumgeistern Himmlers in einer Burg, die ihn bis Kriegsende 13 Millionen Reichsmark kostete und heute als Jugendherberge und Museum dient, war mehr als ein historischer Mummenschanz. Ihn dünkte, die Historie oder das, was er dafür hielt, könne zu einem ideologischen Motor der Schutzstaffel werden.
Die Wewelsburg war nicht das einzige Gemäuer, das von Himmler mit der SS verbunden wurde.
1936 hatte er eine »Gesellschaft zur Förderung und Pflege Deutscher Kulturdenkmäler e. V.« gegründet, die historische Bauwerke betreute, freilich nur Monumente aus Perioden, die dem Herzen der SS-Ideologen nahestanden: aus der germanischen Vorzeit, der heidnischen Ära des frühen Mittelalters und der Epoche deutsch-kolonialer Ostmission unter dem Deutschen Ritterorden.
Geschichtsromantik, Germanen- und Heidentum als Integrationsfaktoren der aus allen Gesellschaftsschichten rekrutierten SS - das war der Sinn dieser und auch anderer Stiftungen Himmlers. Unter ihnen nahm die »König-Heinrich-I.-Gedächtnis-Stiftung« den ersten Platz ein, denn an dem deutschen, aus sächsischer Dynastie stammenden König und Slawen-Bezwinger Heinrich I. ("der Vogler") hing der Polen-Feind Himmler in schwärmerischer Verzückung.
Am tausendsten Todestag des Königs, dem 2. Juli 1936, schwor der lebende dem toten Heinrich in dessen (damals leerer) Gruft im Quedlinburger Dom, die Ostmission des Sachsen fortzusetzen und zu vollenden. Ein Jahr später ließ er die Gebeine Heinrichs I. in feierlicher Prozession in den Dom überführen.
Heinrichs Gruft sollte laut Himmler »eine Weihestätte sein, zu der wir Deutschen wallfahren, um König Heinrichs zu gedenken«. An jedem Todestag des Königs machte sich der Reichsführer auf, mit dem anderen Heinrich stille Zwiesprache zu pflegen - in der kalten Krypta des Doms, pünktlich zur Zeit, wenn die zwölf dröhnenden Glockenschläge die Mitternacht verkündeten.
Himmler nahm jede Gelegenheit wahr, mit dem hehren Toten in Kontakt zu treten. Er maß sich die Fähigkeit zu, Geister zu beschwören und mit ihnen regelmäßig zusammenzutreffen; allerdings, so vertraute er seinem Intimus Felix Kersten an, kämen nur die Geister von Menschen in Frage, die schon hundert Jahre lang tot seien.
Wenn er im Halbschlaf liege, berichtete Himmler, erscheine ihm der Geist König Heinrichs und erteile ihm wertvolle Ratschläge. Er beschäftigte sich mit seinem Helden so lebhaft, daß er sich allmählich für eine Reinkarnation des Königs hielt.
Derartiger Okkultismus entsprang jedoch nicht einer zwecklosen Liebe zur Geschichte. Der Umgang mit der Vergangenheit sollte dem SS-Orden einen Geist der Auserwähltheit imprägnieren, sollte eine historische Determiniertheit begründen, die alle SS-Männer zu jüngsten Gliedern einer langen Kette germanischer Edelinge stempelte.
Der Ahnen- und Germanenkult war von Himmler offensichtlich dazu ausersehen, der SS die ideologische Geschlossenheit zu verleihen, die der Schutzstaffel noch fehlte. Auch die künstlich nachgeahmte Ordensmystik der Runenmänner konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die SS nicht besaß, was einen Orden auch von seiner Umwelt unterscheidet: eine fugenlose Doktrin.
An weltanschaulichen Grundsätzen hatte die SS nicht mehr zu bieten als andere NS-Formationen auch: die byzantinische Hitler-Gläubigkeit, einen hypertrophierten Nationalismus und die rassistische Wahnidee. Keinerlei Doktrin hob die SS von anderen Organisationen der NSDAP ab.
Was der SS an arteigener Weltanschauung fehlte, sollten eine ideologisierte Geschichtsauffassung und ein pseudogermanisches Brauchtum ersetzen. Ein konsequentes Neuheidentum war dazu ausersehen, die SS von ihrer Umwelt abzuheben.
Der Schulmeister in der Uniform des Reichsführers griff in den privatesten Bereich des SS-Mannes ein: Liebe, Familie und Religion wurden der Vorzensur Heinrich Himmlers unterworfen, denn für ihn war die SS nicht ein Männerorden, sondern ein »Orden germanischer Sippen«.
Bereits in einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1935 forderte er, es werde »vom SS-Mann erwartet, daß er möglichst im Alter von 25 bis 30 Jahren heiratet und eine Familie gründet«. Der Heiratsbefehl des Reichsführers von 1931, dessen Einhaltung jeder SS-Mann durch Eid versprechen mußte, bot Himmler die Möglichkeit, gegen unwillkommene SS-Bräute ein Veto einzulegen.
Der SS-Mann mußte mit seiner Braut einen Fragebogen des RuSHA ausfüllen, eine erbgesundheitliche Untersuchung durch einen SS-Arzt überstehen, den arischen Stammbaum nachweisen und außerdem Badeanzug-Bilder von sich und seiner künftigen Ehefrau einreichen. Das RuSHA entschied dann, ob die beiden Heiratskandidaten würdig seien, in das »Sippenbuch« der SS eingetragen zu werden; bei SS-Führern entschied Himmler selber.
Aber auch die Hochzeit stand im Schatten der doppelten Sig-Runen. Kirchliche Trauungen waren verpönt, an ihre Stelle rückten »Eheweihen«, die nach der standesamtlichen Zeremonie im engsten Kreis der Hochzeiter vor dem örtlichen Einheitenführer abgehalten wurden. Dabei tauschten die Brautleute ihre Ringe und empfingen von der SS Brot und Salz.
Jeder Schritt der Eheleute war von Himmler dazu bestimmt, das Ordensmitglied von den christlichen Kirchen zu trennen. Wie der SS-Mann nur Führer werden konnte, wenn er der Kirche den Rücken kehrte und sich als »gottgläubig« bekannte, so durfte kein Geistlicher bei Taufe und Tod zugegen sein.
Nur wenn das Weihnachtsfest, des Deutschen liebster Moment, herannahte, geriet der Germanenführer Himmler in Schwierigkeiten. Vor allem die SS-Frau hungerte vor Weihnachten nach dem christlichen Festglanz. Der Reichsführer erfand einen Weihnachts-Ersatz, das Julfest. Alljährlich ergoß sich aus der Allacher Manufaktur ein Strom von »Jul-Leuchtern« und »Jul-Tellern« zu den SS-Familien. Himmler meditierte: »Gerade die Frau will ja, wenn sie den Mythos der Kirche verliert, irgend etwas anderes haben, was ihr und das Gemüt und Herz des Kindes ausfüllt.«
Die weltanschauliche Plackerei um das Weihnachtsfest verriet, wie wenig Ideologie und Wirklichkeit selbst in der SS übereinstimmten. Tatsächlich blieb Himmlers neuheidnisches Brauchtum überwiegend auf dem Papier.
Schon der beeidete Heiratsbefehl war so umstritten, daß ihn manche SS -Männer mißachteten. 1937 wurden 307 SS-Angehörige wegen Verstoßes gegen den Himmler-Ukas aus der Schutzstaffel ausgeschlossen. Der Unmut in der SS wuchs von Jahr zu Jahr und zwang Himmler, die Strafbestimmungen für Verletzungen des Heiratsbefehls immer mehr zu mildern.
Auch das kirchenfeindliche Programm konnte Himmler niemals durchsetzen. Zwei Drittel der Allgemeinen SS blieben- kirchlich gebunden; 54,2 Prozent bekannten sich zur evangelischen und 23,7 Prozent zur katholischen Konfession. Nur in den bewaffneten SS-Einheiten überwogen zunächst Himmlers Gottgläubige: 53,6 Prozent in der Verfügungstruppe, 69 Prozent in den Totenkopf verbänden.
Der Krieg zwang aber auch die Gottgläubigen der Waffen-SS in die Defensive. In der SS-Truppe tauchten vereinzelt katholische Kaplane auf, den Freiwilligen aus germanischen Ländern wurde der Kirchenbesuch freigestellt, und in einigen Einheiten wie jenen des Obergruppenführers Bittrich durften Kirchen sogar in den Schreibstuben für ihre Gottesdienste werben.
Noch bitterer muß den Blutsmystiker Himmler die mangelhafte Gebärfreudigkeit der SS-Frauen enttäuscht haben. Die SS-Familien unterschieden sich kaum von ihrer bürgerlichen Umgebung: Statt der von Himmler geforderten vier Kinder hatten die 115 650 verheirateten SS-Männer am 31. Dezember 1939 nach den Durchschnittsberechnungen der Statistik nur 1,1 Kinder, die SS-Führer allein nur 1,41 Kinder.
Es war offenkundig, daß sich durch Pflege des von Himmler entworfenen neugermanischen Brauchtums das verwirrend vielgestaltige Bild der SS nicht vereinheitlichen ließ. Die kirchenfeindliche Propaganda schadete der SS in der Öffentlichkeit mehr als sie ihr intern nützte: Sie hielt viele Menschen davon ab, der Schutzstaffel beizutreten.
»Eine große Gefahr ist die Abwanderung von hauptamtlichen Führern in die Industrie«, konstatierte SS-Personalchef Schmitt am 31. Dezember 1938, unter den bereits Abgewanderten seien »Führer, die zu unseren Besten gehören«. Zudem machte die Personalkanzlei eine Rechnung auf, der Himmler entnahm, daß er innerhalb kurzer Zeit 273 Männer des mittleren Führerkorps wegen mangelnder Leistungen ablösen und ersetzen müsse.
Hier aber tat sich für den Großmeister des schwarzen Ordens ein arges Dilemma auf, dessen er niemals Herr werden konnte: Die wachsenden Organisationen des SS-Imperiums und die Mängel im Führerkorps riefen nach immer neuem Personal, aber die beschwerlicher gewordene Werbung zwang Himmler, zum Teil mit Männern vorliebzunehmen, die keineswegs den nordischen Idealvorstellungen der SS entsprachen.
Die Werber der SS wären in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, hätte nicht die Schutzstaffel trotz ihres abstrusen Germanenkults eine geistige Verlockung geboten, der auch anspruchsvollere Gehirne erliegen konnten. Denn die SS besaß ein Kriterium, ein einziges, durch das sie sich von ihrer Umwelt und auch von der Partei unterschied: den eigenen Lebensstil.
Nicht Gesinnungstüchtigkeit oder nationalsozialistischer Fanatismus, wie er sich in den bizarren Befehlen Himmlers widerspiegelte, machte den echten SS-Mann aus, ihn bestimmte vielmehr »eine Verpflichtung, die nicht, wie bei der Partei, einem politischen Ziel, sondern einer Charakterhaltung galt« - so der ehemalige Reichsfinanzminister Graf Schwerin von Krosigk.
Darin kam noch einmal zum Ausdruck, daß die SS ein Ableger der alten Freikorps-Mentalität war. Deren größter Interpret, Ernst Jünger, hatte einst geschrieben: »Nicht wofür wir kämpfen, ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen.« Einer seiner Schüler, der spätere Gestapo-Justitiar und SS-Obergruppenführer Dr. Werner Best, hatte aus Jüngers Philosophie vom verlorenen Haufen einen für das geistige Profil des SS-Führers entscheidenden Gedanken formuliert, die Idee vom »heroischen Realismus«.
Best lehrte 1930: »Der Kampf ist das Notwendige, Ewige, die Kampfziele sind
zeitbedingt und wechseln. Deshalb kann es auch auf den Erfolg des Kampfes nicht ankommen ... So bleibt das Maß der Sittlichkeit nicht ein Inhalt, nicht ein Was, sondern das Wie, die Form.«
Eine solche zweckfreie Ethik gab konzentriertester Leistungssteigerung den Weg frei, die denn auch den Kern der SS-Mentalität ausmachte und von Himmler mit der klassischen Formulierung umschrieben wurde: »Das Wort 'unmöglich' darf es bei uns niemals geben.«
Die »Vergötzung der Leistung um ihrer selbst willen«, wie es der Historiker Hans Buchheim sieht, zog auch Nicht-Nationalsozialisten in ihren Bann, denen von Haus aus das heroische Getue des Himmler-Ordens zuwider war. Aber der Appell an Leistungsfähigkeit und Tatbereitschaft, die pausenlose Forderung nach Einsatz und Bewährung stürzte das Ordensmitglied in einen scheinbar urmännlichen Konkurrenzkampf, der es alle
allgemeinverbindlichen Normen vergessen ließ.
Freilich, der SS -Philosoph Best hatte 1930 noch an den »guten Kampf« und wenigstens an eine »heroische Sittlichkeit, geglaubt; sein Kämpfer war eine autonome Persönlichkeit, ehrlicher Subjektivist, nur sich selber verantwortlich.
Der heroische SS -Kämpfer aber bekam die Befehle von oben und wurde zum Gefangenen der zweckfreien Ethik, die plötzlich auch Verbrechen aus angeblich
staatspolitischer Notwendigkeit nur als Objekte menschlichtechnologischer Leistungskraft deutete.
»Wem es nicht darauf ankommt, wofür, sondern nur, wie er kämpft, der ist in einzigartiger Weise dafür disponiert, sich unter Umständen auch für verbrecherische Ziele heroisch einzusetzen«, urteilt Buchheim. »Während der heroische Kämpfer wähnt, allein auf sich selbst gestellt zu sein, wird er ... in den Dienst des totalitären Verfügungsanspruches genommen - und merkt es entweder nicht oder zu spät.«
Werner Best merkte es zu spät. Die Romantik des heroischen Realismus zerbrach, als Best an der Seite Reinhard Heydrichs begann, den Polizei- und Terrorapparat des Dritten Reiches auszubauen. Denn die Schutzstaffel hatte längst begonnen, das wirkungsvollste Instrument der Führerdiktatur in eigene Regie zu nehmen.
IM NÄCHSTEN HEFT:
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SS-Eheweihe*: Jeden Weihnachten Schwierigkeiten
* Hinter dem Tisch (v. l. n. r.): Rudolf Bingel (Siemens-Schuckertwerke A. G.), Himmler, Karl Lindemann (Norddeutscher Lloyd), Hermann Waldhecker (Reichsbank); im Vordergrund, Mitte: Helmuth Röhnert (Rheinmetall -Borsig).
* Am tausendsten Todestag König Heinrichs Juli 1936.
* Hochzeitszeremonie des KZ-Kommandanten und SS-Standartenführers Karl Koch mit Ilse Koch geb. Köhler in der Nähe des Konzentrationslagers Sachsenhausen, 1937.