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Artikel 28 / 90

Der Orden unter dem Totenkopf

Von Heinz Höhne
aus DER SPIEGEL 43/1966

1. Fortsetzung

Der Eisenbahnzug stampfte in monotonem Rhythmus gegen Norden, das Gesicht des Reisenden wurde immer abweisender. Seit Stunden hörte Albert Krebs, Hamburgs erster NS-Gauleiter, auf die Rede eines ihm gegenüber sitzenden Mannes, der mit Krebs in Elberfeld den Zug bestiegen hatte.

Der Mann war mittelgroß, recht kräftig gewachsen und hatte das etwas aufgedunsene Alltagsgesicht eines mittleren Angestellten. Das kleine, fast fliehende Kinn verriet eine gewisse Weichheit, während die graublauen Augen, die hinter einem Kneifer die Umwelt lebhaft musterten, eher eine beträchtliche Willensstärke andeuteten.

Ebensowenig ließ sich die Derbheit seines Auftretens mit der Zartheit seiner kleinen, wohlmanikürten und beinahe femininen Hände vereinbaren; auch die weißen, kerngesunden Zähne kontrastierten eigenartig zu dem kränklich-faltigen Hals des fast 29jährigen Mannes.

Dem Gauleiter Krebs fiel freilich damals - im Frühjahr 1929 - das widersprüchliche Wesen seines Mitreisenden nicht auf. Er registrierte nur mit wachsendem Grimm, was der neue Reichsführer SS Heinrich Himmler zur politischen Lage zu sagen hatte.

In der Politik, dozierte Himmler, komme es auf die geheimen Zustände an. Es sei entscheidend wichtig zu wissen, wie der SA-Führer Conn zu seinem seltsamen (nach dem jüdischen Cohn klingenden) Namen gekommen sei; man müsse untersuchen, ob der Gauleiter Lohse als ehemaliger Bankangestellter in die Abhängigkeit jüdischen Kapitals geraten sei. Krebs schüttelte den Kopf.

Noch 30 Jahre später erschienen ihm Himmlers Ausführungen, die Krebs »in schrecklicher Erinnerung« geblieben sind, als eine »merkwürdige Mischung von martialischer Großsprecherei, kleinbürgerlichem Stammtischgeschwätz und eifernder Prophetie eines Sektenpredigers«.

Wie Albert Krebs den Parteigenossen Himmler auf dessen erster Inspektionsreise zu den Schutzstaffeln der NSDAP erlebte, so sahen auch andere Nationalsozialisten, die sich die Freiheit des eigenen Denkens bewahrt hatten, den neuen Herrn der SS: als einen etwas lauten, unsicheren und ziemlich provinziellen Apparatschik Adolf Hitlers.

Später mischten sich in das Bild des Sektierers und Stammtischredners dämonische, unheimliche Züge. Je mehr Macht die Frauenhände Himmlers umkrallten, desto unirdischer, desto geisterhafter, desto unmenschlicher wurde der Reichsführer SS den Deutschen.

Himmler war bald eine unpersönliche Abstraktion, eine blutlose Verkörperung des nationalsozialistischen Polizeistaates, ein Unhold, der andersdenkende Menschen um jeden Preis zu vernichten und dem dabei alles Menschliche fremd zu sein schien. Kein persönliches Detail aus seinem Leben enthüllte, was für ein Mensch hinter dem Titel »Reichsführer SS steckte - die Deutschen wissen es noch heute nicht genau.

Wer ihn zu Lebzeiten gekannt hatte, konnte nachher kaum faßlich beschreiben, wie Himmler eigentlich gewesen war. An einem einheitlichen Himmler-Porträt störte so vieles, daß Zeitgenossen und Biographen mehrere Himmlers präsentierten: Himmler, den Henker, Himmler, den gütigen Menschen, Himmler, den fanatischen Ideologen des Rassismus, Himmler, den unbestechlichen Sauberkeitsapostel, Himmler, das willfährige Werkzeug des Führers, Himmler, den nachdenklichen Gesprächspartner der innerdeutschen Widerständler.

»Dieser Mann, der böse Geist Hitlers, kalt, berechnend, machtgierig, war wohl die zielstrebigste und skrupelloseste Erscheinung im Dritten Reich«, urteilte Hitlers ehemaliger Wehrmachtadjutant, General Friedrich Hoßbach, und der Panzer-Generaloberst Guderian fand: »Er lebte nicht auf diesem Planeten.«

Der Schweizer Carl J. Burckhardt, ehedem Hochkommissar des Völkerbundes in Danzig, sezierte ihn so: »Er war unheimlich durch den Grad von konzentrierter Subalternität, durch etwas engstirnig Gewissenhaftes, unmenschlich Methodisches mit einem Element von Automatentum.«

Dem V-2-General Walter Dornberger kam er dagegen vor »wie ein intelligenter Volksschullehrer, bestimmt nicht wie ein Mann der Gewalt«; Himmler habe »die seltene Gabe aufmerksamen Zuhörens« besessen und sei »ein Mann der stillen, unpathetischen Gesten« gewesen, »ein Mann ohne Nerven«. Auch der Schweden-Graf Bernadotte, mit dem Himmler 1945 verhandelte, staunte: »Ich fand an ihm wahrhaftig nichts Diabolisches.«

Manche Diplomaten wußten sein zuweilen nüchternes Urteil zu schätzen, und selbst Alliierte und deutsche Widerstandskämpfer glaubten bis 1943, Himmler sei der einzige NS-Führer, mit dem sich Hitler stürzen lasse. Das Ungeheuer Himmler - so der britische Historiker Trevor-Roper - hatte manche seltsamen Qualitäten, die es zu einer irgendwie unglaublichen, rätselhaften Gestalt machten«.

Die Biographen Himmlers dachten sich schließlich eine Hypothese aus, um wenigstens notdürftig die Existenz so vieler Menschen in einer Person erklären zu können: Der Schlüssel zum Rätsel Himmler, so las man, liege in den Jugend- und Jünglingsjahren des Mannes; der einsame Bürgersohn habe im Schatten eines pedantischen Vaters und einer herzenskalten Mutter gestanden und sei so lange ohne Anerkennung in der Nachkriegsgesellschaft umhergeirrt, bis ihm die NS-Bewegung die fehlende Geborgenheit des Elternhauses ersetzt habe.

Die Hypothese klingt hübsch und entspricht der Neigung des Zeitalters, Unerklärliches psychoanalytisch zu entschlüsseln. Sie geht jedoch an der Wirklichkeit vorbei. Tatsache bleibt: Himmler entstammte einer bajuwarischen Bürgerfamilie, wie man sie sich normaler kaum vorstellen kann.

Nichts konnte Himmlers innige Beziehungen zu den Eltern und zu seinen zwei Brüdern, dem älteren Gebhard (1898 geboren) und dem jüngeren Ernst (1905 geboren), trüben. Mochte er sich immer missionarischer in seine SS-Arbeit hineinsteigern, mochte seine nervös-lamentierende Ehefrau Margarete ("Ich muß immer tief Luft holen, wenn ich an deine Eltern denke") die Eintracht unter den Himmlers stören - der Reichsführer ließ sich nie von der Familie trennen.

Als seine Mutter 1941 starb, hielt Himmler, obwohl selber krank, eine Nacht lang die Totenwache. Bei der Beerdigung reichte er über dem Sarg seinen beiden Brüdern die Hand und schwor mit der ihm eigenen schwerflüssigen Feierlichkeit: Wir wollen immer zusammenbleiben!"*

Stets fühlte er sich als selbsternannter Protektor der Familie. »Gelt, Vati soll nicht gar so arbeiten, sondern soll in der Woche öfters spazierengehen, daß er sich nicht überarbeitet«, schrieb Himmler als Student 1921 an sein »liebes Mutterle«. Den Brüdern fiel es nicht immer leicht, Heinrichs schulmeisterlichen Pedanterien zu entfliehen.

Bruder Gebhard hatte das Unglück, sich mit der Weilheimer Bankierstochter Paula Stölzle verbunden zu haben, die dem hölzernen Sittenrichter nicht behagte. Flugs teilte es ihr Heinrich schwarz auf weiß mit.

»Soll Euer Bund«, schrieb er am 18. April 1923 an Paula, »ein glücklicher werden für Euch zwei und zum Heil für das Volk, das sich auf gesunden, sittlich reinen Familien aufbauen muß, so mußt Du an die Kandare gehalten werden mit barbarischer Strenge.« Wer dazu berufen sei, erfuhr Paula einen Satz später: »Da Du Dich selbst nicht streng u. hart behandelst, u. Dein künftiger Mann zu gut ist für Dich, muß es jemand anderer tun ... fühle ich mich dazu verpflichtet.«

Das Münchner Detektivbüro Max Blüml erhielt von Heinrich, der Zeit seines Lebens die Edelfrauen der germanischen Sage mit den Frauen des 20. Jahrhunderts verwechselte und jeden vorehelichen Verkehr als Verstoß gegen die von ihm postulierte Reinheit brandmarkte, die Order, Paulas Vorleben zu untersuchen.

Noch ehe Rechercheur Blüml am 14. März 1924 einen Bericht vorlegen konnte, setzte Himmler einen weiteren Informanten an. Himmler an einen Beamten namens Rössner: »Darf ich Sie nun bitten, was Sie über Fräulein Stölzle, und namentlich über ein Verhältnis mit Ihrem Kollegen Daffner, wissen, mir umgehend mitzuteilen?«

Bruder Gebhard strich die Flagge und löste die Verlobung mit Paula. Die Episode verriet, daß Heinrich Himmler wie wenige Naziführer in der Sicherheit einer ungebrochenen und stickigen Bourgeoisie aufgewachsen war. Der zweite Sohn des Geheimen Studienrats Gebhard Himmler fühlte sich lange Zeit als ein echter und bewußter Zögling der Mittel- und Beamtenklasse.

Als Heinrich am 7. Oktober 1900 im zweiten Stock des Hauses Nr. 2 der Münchner Hildegardstraße geboren wurde, durfte Vater Himmler der gesellschaftlichen Anerkennung seines Sohnes sicher sein. Einer der Großen im Königreich Bayern hielt seine Hand über das Baby: Studienrat Himmlers königlicher Schüler, der Wittelsbacher Prinz Heinrich.

Seinen Namen trug das Lehrerskind, der Prinz war denn auch zur Übernahme der Patenschaft bereit gewesen, sobald ihm Geheimrat Himmler untertänigst angezeigt hatte, der neue Stammhalter wiege sieben Pfund und 200 Gramm. Name und Taufpate verpflichteten den Jungen schon früh zu dem konventionellen Lebensstil des königstreuen Bürgertums.

Nie kam dem Schüler Heinrich der Gedanke, die Autorität der Eltern oder gar die Gesellschaftsordnung seiner Zeit in Frage zu stellen. Vater Himmler lehrte ihn, die Ahnen seien immer gut gewesen, und legte die Grundlagen für eine Geschichtsromantik, in der sich - getreu der spätwagnerianischen Ära - germanische Edelinge und hehre Frauen tummelten, die sich später im braunen Zeitalter nur in deutsch-nordische Herrenmenschen zu verwandeln brauchten, um den Erfordernissen des Regimes gerecht zu werden.

Der Junge lernte früh, seiner Umwelt die schuldige Reverenz zu erweisen. Selbst Heinrichs unschuldiges Schülertagebuch dokumentiert soziale Artigkeit: Stets treten die in ihm vorkommenden Personen mit vollen Titulaturen auf.

Wer aber einen Prinzen zum Paten hatte, mußte natürlich Offizier werden. Hier liegt ein Schlüssel zum Wesen Himmlers: Er träumte sich stets an die Spitze siegreicher Truppen und konnte doch die Vision der Kindertage nie ganz verwirklichen.

Zunächst hatte der augenschwache Lehrerssohn zur Kaiserlichen Marine gehen wollen, doch die Flotte nahm keine Brillenträger. Himmler entschied sich dann für die Armee. Am 26. Juni 1917 registrierte Geheimrat Himmler: Mein Sohn Heinrich hat den dringenden Wunsch, Infanterieoffizier von Lebensberuf zu werden.«

Der Junge konnte es kaum noch erwarten, in den Krieg zu kommen. Als Bruder Gebhard 1915 zum Landsturm eingerückt war, kritzelte Heinrich in sein Notizbuch: »Ach, wie sehr wünschte ich, auch so alt zu sein, um an die Front zu gehen.«

Heinrich drängelte so hartnäckig, daß Vater Himmler seine Freunde bei Hof bitten mußte, den Jungen vorzeitig in die Armee einzuziehen. Ende 1917 rückte Himmler zum 11. Bayerischen Infanterie-Regiment »Von der Tann« ein.

Doch die Soldatenkarriere war zu Ende, ehe sie noch recht begonnen hatte. Zwar erzählte der Reichsführer dem schwedischen Grafen Bernadotte kurz vor seinem Tode, er sei mit seinen Männern ein »die Schlacht« gezogen - tatsächlich hatte der Fahnenjunker Himmler die Front nie gesehen.

Der Krieg ließ ihm keine Zeit mehr: Nach halbjähriger Grundausbildung in Regensburg absolvierte Infanterist Himmler den Fahnenjunkerkurs in Freising vom 15. Juni bis zum 15. September 1918, dann durchlief er den Maschinengewehrkurs der 17. MG-Kompanie in Bayreuth vom 15. September bis zum 1. Oktober 1918. Sechs Wochen später entließ ihn die 4. Kompanie im Ersatzbataillon des 11. Infanterie-Regiments aus ihren Diensten.

Da schienen die Nachkriegswirren dem abgerüsteten Fahnenjunker doch noch eine militärische Laufbahn zu eröffnen. Während der Kämpfe gegen die bayrische Räterepublik marschierte der Fahnenjunker Himmler in einem kleinen Freikorps mit, der Schar des Leutnants Lautenbacher.

Wiederum kam er zum Kampf zu spät. Himmlers Einheit rückte nicht in die gefallene Räte-Festung München ein, der Fahnenjunker blieb ein Paradesoldat. Vater machte der Soldatenspielerei ein Ende. Geheimrat Himmler hatte beschlossen: Angesichts des Fortfalls der königlichen Protektion und der steigenden Inflation aller Werte sei es höchste Zeit, daß Heinrich nach dem Kriegsabitur einen soliden Beruf erlerne. Vater wußte einen: Landwirt.

Der verhinderte Feldherr willigte ein, neben dem Soldatentum hatte ihn die Landwirtschaft schon immer interessiert. Freilich, auch die Agronom-Karriere stand unter einem Unstern. Kaum hatte Himmler auf einem Bauernhof bei Ingolstadt die landwirtschaftliche Lehre begonnen, da warf ihn eine Typhusepidemie aufs Krankenbett. Ein Arzt namens Grünstadt entschied: »Unterbrechung für ein Jahr und Studium.«

Am 18. Oktober 1919 ließ sich Himmler an der Technischen Hochschule der Münchner Universität als Student der Landwirtschaft einschreiben. Hatten ihn die Mißerfolge niedergedrückt, war er ein »lonely wolf« geworden, der isolierte Einzelgänger am Rande der Gesellschaft, wie ihn die Legende sieht? Keineswegs. In München eröffnete sich ein heiter-beschwingter Lebensabschnitt Himmlers, der die Biographen vor schwere Rätsel stellt.

Niemand hätte in dem freundlichen, hilfsbereiten und ein bißchen langweiligen Studiosus, der auf Münchner Kostümbällen als Türken-Sultan Abdul Hamid auftrat, eine Dame namens Maja Loritz unglücklich liebte und nach kulinarischen Genüssen lechzte, den späteren Architekten des Massenmordes erkannt.

Gewiß, die Politik und das Soldatenspielen nahmen ihn zuweilen noch gefangen. Er ließ sich, wie ein »Empfangs -Schein« vom 16. Mai 1920 ausweist, zur Einwohnerwehr Münchens überschreiben und nahm dafür von der Schützenbrigade 21 insgesamt 1 Gewehr und 50 Patronen, 1 Stahlhelm, 2 Patronentaschen, 1 Brotbeutel (älterer Art)« entgegen. Den 1. Dezember 1921 hielt er für einen besonderen Tag in seinem Leben: Die Reichswehr teilte ihm mit, er könne sich von nun an Fähnrich nennen.

Er bereitete mit anderen nationalistischen Studenten und Offizieren einen Putsch vor, der das Ziel hatte, den Grafen Arco-Valley, Mörder des linkssozialistischen Bayern-Premiers Kurt Eisner, aus dem Gefängnis zu befreien. Aber als die Todesstrafe des Grafen in lebenslängliche Haft umgewandelt wurde, gaben die Verschwörer den Plan auf. Himmler war nicht deprimiert, gelassen notierte er sich: »Nun, dann ein anderes Mal.«

Himmler plagten diffizilere Sorgen. Er war im November 1919 einer schlagenden Verbindung, der Burschenschaft »Apollo«, beigetreten und grübelte darüber, wie er sein neues Leben mit den erzkatholischen Auffassungen seines Elternhauses und der Empfindlichkeit seines Magens in Einklang bringen könne: Duelle verbot die Kirche, das auf Kneipabenden geübte Biertrinken untersagte der Arzt.

Das Bierproblem wußte er schnell zu lösen; er erwirkte eine Sondergenehmigung seiner Burschenschaft, die ihn vom Bierkonsum befreite. Freilich, den Abstinenzler nahmen Apollos Kneipbrüder nicht sonderlich ernst; sie ließen den Kandidaten Himmler bei einer folgenden Funktionärswahl durchfallen.

Peinigender als das Bierproblem erwies sich das religiöse Duell-Tabu. Die Himmlers waren immer überzeugungstreue Katholiken gewesen, ein Vetter Heinrichs, August Wilhelm Patin, hatte es zum Stiftskanonikus der Münchner Hofkirche gebracht. Auch Heinrich Himmler durfte als eifriger Katholik gelten.

Die Sonntagsmesse war ihm kein äußerliches Ritual, sondern innerliches Bedürfnis. Er notierte sich jeden von ihm besuchten Gottesdienst, Immer wieder hielt er fest: »In dieser Kirche fühle Ich mich wohl.« Als er von einem Mädchen, das er schüchtern umschwärmte, erfuhr, sie empfange täglich die Kommunion, vertraute er seinem Tagebuch an: »Dies war die größte Freude, die ich in diesen letzten acht Tagen erlebt habe.«

Doch der Eintritt In die schlagende Verbindung lädierte das Verhältnis Himmlers zur Kirche. Der Bruch kam nicht über Nacht, aber er wurde von Monat zu Monat deutlicher. Himmler versuchte zunächst, sich seine und der Kirche Abneigung gegen Duelle zu erhalten, doch der im Elternhaus gelehrte Drang zur sozialen Anpassung war stärker als die religiösen Traditionen.

»Ich glaube, ich bin mit meiner Religion in Konflikt geraten«, hielt Himmler am 15. Dezember 1919 fest. Und der Mann, der später Zehntausende von SS -Männern zum Kirchenaustritt zwang und den Papst öffentlich hinrichten lassen wollte, schrieb damals: Was auch kommen mag, ich werde immer Gott lieben, werde zu Ihm beten und werde der katholischen Kirche treu bleiben und werde sie selbst dann verteidigen, wenn sie mich verstoßen sollte.«

Das gebrochene Verhältnis zur Kirche irritierte Himmler, aber es erschütterte ihn nicht. Seine Interessen waren weltlicherer Art: Mehr als Religion und Politik kümmerten den Studenten das Amüsement der bürgerlichen Gesellschaft Münchens, die Mahlzeiten am Mittagstisch der Frau Loritz und die Sexprobleme der Studenten.

»Lernst Du auch das Tanzen?« hatte ihm Regimentskamerad Robert Kistler noch nach Landshut geschrieben, wohin die Familie gezogen war, und in München nahm Himmler sofort Tanzstunden, die ihm freilich schwerfielen. Im Januar 1920 beherrschte er den Boston. Mit seinem Freund Ludwig, genannt »Lu«, war er ein unermüdlicher Gast Münchner Faschingsfeste.

Er war mit Partys so beschäftigt, daß dem pedantischen Tagebuchschreiber der in München zur selben Zeit abgehaltene Parteitag der NSDAP ganz entging. Den amerikanischen Historikern Werner T. Angress und Bradley F. Smith erscheint der damalige Himmler als nein junger Mann, der in konventionellen Begriffen dachte, die hergebrachten Werte der bayrischen Mittelklasse hegte und offenbar besonders gutmütig, farblos und normal war«.

Seine Betriebsamkeit kannte keine Grenzen. In der Weihnachtszeit las er einem Blinden vor, buk einer alten Rentnerin einen Kuchen, spielte in einer Wohltätigkeits-Show für arme Wiener Kinder mit und lief von einer Versammlung zur anderen.

Ein Mann mit solcher Beflissenheit hatte keine Schwierigkeiten, sich seiner Umgebung anzupassen. Auch Himmlers politische Auffassungen spiegelten nur die Urteile und Vorurteile der ihn umgebenden Gesellschaft wider: Sie sind nationalistisch-bürgerlicher Art, aber ihnen fehlt der Fanatismus und der Gespensterglaube nationalsozialistischer Weltanschauung.

Er konnte als ein bayrischer Konservativer gelten: Der Student Himmler lieh sich Zylinder und Gehrock aus, um dem verstorbenen Ex-König Ludwig III. die letzte Ehre zu erweisen, er war stolz auf sein Bajuwarentum, aber er entschied sich bei AStA-Wahlen für die deutschnationale Liste.

Selbst seine antijüdischen Kommentare bewegten sich in gleichsam kontrollierten Bahnen. Der von Nationalisten ermordete Reichsaußenminister Rathenau (Himmler: »Ich bin froh") ist ihm immerhin noch nein fähiger Kopf«, seinen ehemaligen Mitschüler und demokratischen Gegner Wolfgang Hallgarten nennt er eher gemütlich als verächtlich »den Judenlauser«, und die jüdische Kabarett-Tänzerin Inge Barco, die wegen einer Liaison mit einem Studenten von ihrem Elternhaus boykottiert wird und mit der sich Himmler in der Reichsadler-Bar trifft, erscheint ihm als nein Mädchen, das Respekt verdient«.

Nur in einem Punkt offenbaren seine Tagebücher die politische Aggressivität des späteren Himmler: Er konnte sich nicht damit abfinden, daß es mit seiner militärischen Karriere vorbei sein sollte. Als Maja Loritz, die von ihm begehrte Tochter der Mittagstisch-Wirtin, den

tapsigen Werber abwies, erschienen ihm Krieg und Soldatentum als sicherste Auswege aus seinem Liebesschmerz.

Am 28. November 1919 notierte er: »Wenn Ich doch jetzt nur Gefahren ins Auge blicken könnte, mein Leben aufs Spiel setzen, kämpfen könnte, es wäre für mich eine Befreiung.« Am 22. November 1921 schreibt er, und hier führt schon der ältere Himmler den Griffel: »Wenn es zu einem neuen Krieg im Osten kommt, werde ich mitmachen. Der Osten ist für uns am wichtigsten. Der Westen wird schnell sterben. Im Osten müssen wir kämpfen und kolonisieren.«

Da trat in Heinrich Himmlers Leben ein Mann, der sich mit Ihm blutigdramatisch verbinden sollte: Hauptmann Ernst Röhm versprach, das militärische Gelüst des unglücklichen Liebhabers zu befriedigen.

Wann sich die beiden Männer kennengelernt haben, läßt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Ihre Wege hatten sich schon öfter gekreuzt: Röhm diente Ende 1918 in Landshut beim Stab der 12. Bayerischen Infanterie-Division und wirkte dann als Bewaffnungs- und Ausrüstungsoffizier der 21. Schützenbrigade in München, aus deren Händen der Wehrmann Himmler im Mai 1920 seine Waffen empfangen hatte.

Zudem war Röhm der geheime Zeugmeister der im Halbdunkel zwischen Legalität und Illegalität agierenden Wehrorganisationen, die sich die Reichswehr als eine Art Miliztruppe hielt, und auf einer Tagung dieser Verbände in Münchens »Arzberger Keller« traf Himmler den Hauptmann im Januar 1922.

Himmler merkte sich: Hauptmann Röhm und Major Angerer (Himmlers ehemaliger Kompaniechef) waren auch da; sehr freundlich. Röhm pessimistisch hinsichtlich des Bolschewismus.«

Er ließ sich von Röhm beeindrucken. Nie konnte der anpassungswillige Fähnrich vergessen, daß der andere um einige Sprossen höher auf der Leiter militärischer Hierarchie stand als er, stets war ein leises Hackenklappen in Himmler, wenn er dem Herrn Hauptmann gegenübertrat.

Der vieldekorierte Kompanieführer des Ersten Weltkriegs und der verhinderte Krieger, der homosexuelle Landsknecht und der sittenstrenge Bürgersohn mit dem Jungfrauenkomplex gaben ein seltsames Paar ab. Dennoch wußte Röhm den Studenten für sich zu begeistern - Himmler war bereit, für den Hauptmann alles zu wagen.

Nachdem Himmler am 5. August 1922 die Diplom-Hauptprüfung für Landwirte bestanden und die Stellung eines landwirtschaftlichen Assistenten bei der »Stickstoff-Land G. m. b. H.« in Schleißheim angenommen hatte, trat er einer nationalistischen Organisation bei, die ihm Röhm empfohlen hatte. Sie nannte sich »Reichsflagge«.

Agrar-Assistent Himmler war froh, endlich wieder eine Uniform tragen zu dürfen, und sei es auch nur die hellgraue Windjacken- und Wickelgamaschen-Uniform der »Reichsflagge«. In solcher Montur nahm er auch an dem Münchner Novemberputsch von 1923 teil, der ihn erstmalig mit Adolf Hitler verband.

Die »Reichsflagge« hatte sich Inzwischen nach internen Kabalen in ,Reichskriegsflagge« umbenannt und der Führung Röhms und Hitlers unterstellt. Röhm, seit langem Mitglied der Hitler-Partei, wußte seine Freunde, auch Himmler, zum Eintritt in die NSDAP zu bewegen. Aber noch war Himmler kein Nazi, noch sah er an Stelle Hitlers in Röhm den kommenden Mann, noch schienen ihm nicht Hakenkreuze, sondern die Farben der Monarchie Zeichen der Zukunft.

Mit der kaiserlichen Kriegsflagge in der Hand brach denn auch Himmler im Münchner »Löwenbräukeller« auf, als am Abend des 8. November 1923 in einer Versammlung der »Reichskriegsflagge« die Nachricht eintraf, Hitler habe mit vorgehaltener Pistole im »Bürgerbräukeller« die führenden Politiker und Militärs Bayerns gezwungen, endlich in den Schlag gegen die Berliner »Novemberverbrecher« einzuwillgen.

Röhm übergab seinem Adlatus Himmler die alte Reichskriegsflagge, auf die der Verband kurz zuvor vereidigt worden war, dann rief er seine Männer auf die Straße. Wenige Minuten später hatte sich der wilde Haufe zur Marschkolonne formiert, Tritt wurde gefaßt - in Richtung des »Bürgerbräukellers«, wo Hitler mit Bayerns Gewaltigen, dem partikularistischen Generalstaatskommissar von Kahr und dem Reichswehrgeneral von Lossow, über die »nationale Revolution« parlierte.

An der Briennerstraße stoppte ein Melder aus dem »Bürgerbräukeller« die Röhm-Kolonne. Er überbrachte den Befehl, das in der Schönfeldstraße gelegene Kriegsministerium, Sitz des Wehrkreiskommandos VII (Bayern), zu besetzen.

Hauptmann Röhm gehorchte. Eine knappe Stunde später war das Kriegsministerium in seinem Besitz. Drohend schoben sich die Läufe der Maschinengewehre des 400-Mann-Haufens der »Reichskriegsflagge« aus den Fenstern des Hauses, denn allmählich ahnte auch Röhm, daß etwas schiefgegangen war: Die überrumpelten Politiker und Generale Bayerns schlugen zurück.

Im Morgengrauen des 9. November brachte der Motorenlärm heranfahrender Panzer den Besetzern des Kriegsministeriums Gewißheit. Einheiten der Reichswehr und der Landespolizei schoben sich heran, riegelten Haus um Haus ab, brachten MGs und Geschütze in Stellung.

Röhm mußte schließlich vor Reichswehr und Landespolizei kapitulieren und seine Waffen abliefern, nur die unbewaffneten Männer der »Reichskriegsflagge"l durften die Postenketten passieren. Die Bewegung Hitlers und Röhms brach zusammen. Hinter dem Hauptmann schlossen sich die Gittertore des Gefängnisses Stadelheim.

Der Fahnenträger Himmler stand allein, ohne Uniform, ohne Idol, ohne Glauben. Er trieb einer Krise entgegen: Die berufliche Stellung hatte er aufgegeben und fand trotz zahlreicher Bewerbungen keine neue Arbeit, Maja Loritz hatte ihm endgültig den Laufpaß gegeben und die Politik war ihm auch zur Enttäuschung geworden.

Gleichwohl beschloß der gescheiterte Putschist, in der Politik zu bleiben. Himmler entschied sich für die eine der beiden völkischen Gruppen, die sich nach dem Verbot der NSDAP befehdeten: für die »Nationalsozialistische Freiheitsbewegung« unter dem Patronat des Generals Ludendorffs.

Zur Freiheitsbewegung gehörte auch ein flüchtiger Bekannter Himmlers, der Landshuter Apotheker Gregor Strasser, ein angriffslustiger und bauernschlauer Nationalsozialist, der als eigentlicher Kopf der Bewegung galt. Strasser erkannte das organisatorische Talent Himmlers und setzte ihn sofort ein.

Im Mai 1924 standen Reichstagswahlen bevor; zum ersten Mal wagten es die schärfsten Feinde der Republik, Waffe und Wohltat der Demokratie für sich zu nutzen - zum Schaden der Demokratie.

Strasser wollte unter Ausnutzung des Aufsehens, das der Hitler-Putsch in ganz Deutschland erregt hatte, seine Nazis endlich in den Reichstag bringen. Der Spektakel eines noch nie dagewesenen Wahlkampfes übertönte Bayern, und in ihm knatterte auch ein schwedisches Motorrad mit einem schwer vermummten Propagandisten, der in Niederbayern von Dorf zu Dorf jagte, die Botschaft des Gregor Strasser zu verbreiten.

Motorradfahrer Himmler zog alle Register nationalsozialistischer Demagogie. Er wetterte gegen Juden und Freimaurer, er hetzte die Bauern gegen das Finanzkapital auf, er malte eine nur vom edlen Bauern bestimmte Welt aus, er donnerte gegen den Bolschewismus, er diffamierte Demokratie und alle Arten rationaler Politik.

Wie im Fluge jagten die Bäume der Landstraßen und die Äcker Niederbayerns an dem Motorradfahrer vorbei, glich ein Dorf dem anderen. Aus dem Terminkalender einer Woche: 23. Februar 1924, Reden in Eggmühl, Langwaid und Birnbach. 24. Februar, Ansprachen in Kelheim und Saal, anschließend »Einzelaufklärung«. 25. Februar, anderthalbstündige Rede in Rohr.

Seine Mühe wurde gelohnt: Die Bewegung Strassers gewann fast zwei Millionen Wählerstimmen und zog mit 32 Abgeordneten in den Reichstag. Doch der Erfolg machte Himmler nicht recht froh, in ihm stieg der Zweifel auf, ob er sich wirklich einer zukunftssicheren Bewegung verschrieben habe. Seinem Freund Kistler schrieb er über das »entsagungsvolle Arbeiten von uns Völkischen, ein Arbeiten, das in der nächsten Zeit niemals sichtbare Frucht bringen wird«, ja, er fühlte sich auf einem »vielleicht verlorenen Posten«.

Das Gezänk zwischen Völkischen und Nationalsozialisten, die Kabalen zwischen den Anhängern und Gegnern des eingekerkerten Parteiführers Hitler irritierten den weichen Mann, der richtungslos zwischen den braunen Cliquen stand und nach dem Idol Ausschau hielt, das ihm die früh gelehrte Anpassung wieder ermöglichen werde. Himmler wußte nur zu gut, daß er allein das Heil nicht erringen werde, daß er zum Willensmenschen nicht geboren war. Immer wieder nagte an seinem Selbstbewußtsein giftige Skepsis, nie konnte er sich restlos dazu überreden, sich für eine beherrschende Figur zu halten. In seinem Tagebuch hatte er niedergeschrieben, was er in Wahrheit von sich hielt.

Er fand oft, Ihm fehle die Sicherheit des Auftretens, 'er rede zu viel und habe eine Lust, dumme Witzchen zu erzählen. Himmler: Was für eine armselige Kreatur ist doch der Mensch.

»Ich bin ein Spruchmacher und Schwätzer

und ohne Energie, mir gelingt nichts«, hatte er am 29. Januar 1922 ins Notizbuch eingetragen. »Sie halten mich für einen Jungen, der sich amüsiert und sich um alles kümmert: 'Der Heini macht es schon.'« Er wußte es besser.

Er konnte seine selbstquälerischen Zweifel erst allmählich meistern, als er in das Kraftfeld des Mannes trat, der ihm hinfort zum Ersatz-Gott wurde: Im Dezember 1924 verließ Adolf Hitler die Festung Landsberg. Er machte sich umgehend daran, die verbotene und gespaltene NSDAP zu erneuern.

Was Himmler im Lager der Völkischen irritiert hatte, wußte Hitler in einem knappen Jahr zu beseitigen. Am 27. Februar 1925 gelang es Hitler, das Gros der Völkischen und Nationalsozialisten Bayerns in die neue NSDAP unter seiner Führung zu ziehen, zwei Monate später gründete er die Schutzstaffel und setzte sich gegen alle Rivalen im braunen Lager durch, bis er Ende 1926 schließlich die SA als parteieigene Armee gründen konnte.

Der Unterwerfungsinstinkt des Heinrich Himmler witterte, daß er sein Idol gefunden hatte. Im August 1925 erwarb er bereits eine Mitgliedskarte der erneuerten Nazipartei, kurz darauf saß er mit einem Monatsgehalt von 120 Mark als Sekretär Gregor Strassers in einem ärmlich möblierten Zimmer.

Strasser, der die Parteipropaganda in Niederbayern leitete, hatte manchen Auftrag für den Adlatus. Himmler hielt engen Kontakt zu den entlegensten NS-Ortsgruppen und war mit seinem Motorrad für braune Hinterwäldler die Verkörperung der Parteileitung. Bald durfte er sich Geschäftsführer des Gaues Niederbayern nennen.

Die Historiker wähnten später, Himmler habe sich ähnlich wie-der Rheinländer Joseph Goebbels dem Hitler-Gegner Strasser ideologisch verschrieben. Tatsächlich hatte sich Himmler stets als Angestellter der Parteileitung gefühlt, niemals als Gefolgsmann Strassers. Als sein Chef nach Berlin zog und zum norddeutschen Gegenpol Hitlers wurde, rückte Himmler enger an Hitler heran.

Die Chronisten wissen noch heute nicht, wann Himmler zum ersten Mal Hitler begegnet ist. Nie konnte er die Scheu überwinden, mit dem größten Gehirn aller Zeiten«, wie er Hitler nannte, persönlich zu verkehren.

Schon im Landshuter Strasser-Büro empfand er eine schuljungenhafte Verehrung für den Führer. Himmler-Freund Hans Erhard erzählte dem britischen Schriftsteller Frischauer, an die Wand des Büros sei ein Hitler-Bild befestigt worden, mit dem Himmler oft halblaute Zwiesprache geführt habe.

Selbst bei Telephongesprächen mit Hitler schlug er die Hacken zusammen, und als später, im Kriege, Leibarzt Kersten einmal einen Anruf Hitlers entgegengenommen hatte, konnte sich Himmler über so viel Glück kaum noch fassen: Herr Kersten, wissen Sie, mit wem Sie gesprochen haben? Sie haben die Stimme des Führers gehört. Welch ein Glück für Sie! Schreiben Sie das nur gleich Ihrer Frau! Wie wird sie sich freuen, daß Sie eine solch einzigartige Möglichkeit hatten.«

Die Kampfzeit« an der Seite Hitlers erschien ihm als der größte Augenblick seiner Karriere. »Das war eine herrliche Zeit«, berauschte er sich noch 1945. »Wir Mitglieder der Bewegung schwebten ständig in Lebensgefahr. Aber Angst hatten wir keine. Adolf Hitler führte uns, hielt uns zusammen. Diese Jahre bleiben die wunderbarsten meines Lebens.«

Immer und immer wieder holte er das Motorrad hervor und raste für seinen Führer über die Landstraßen, ein in sich verkrampfter Mensch, von brennendem Ehrgeiz und von Magenschmerzen heimgesucht, die ihn oft an den Rand einer Ohnmacht brachten. »Fabelhaft, was Sie sich alles vornehmen«, feierte ihn eine Berliner Verehrerin Ende 1927, »Ihr Magen rächt sich nur für die ihm immer wieder zugefügte Unbill. Verständlich, da das Recht auf seiner Seite ist.«

Hitler versagte ihm nicht den Lohn, Himmler stieg von Stufe zu Stufe in der Parteihierarchie empor: 1925 stellvertretender Gauleiter des Gaues Niederbayern-Oberpfalz, 1926 stellvertretender Gauleiter von Oberbayern -Schwaben, im selben Jahr stellvertretender Reichspropagandaleiter, 1927 stellvertretender Reichsführer SS.

Aus dem unsicheren und richtungslosen Studenten entwickelte sich in wenigen Jahren ein fanatischer Hitler-Anhänger, der sich seinem Führer durch ein ungewöhnliches Organisationstalent empfahl. Doch Organisation genügte Himmler nicht. Er wollte mehr sein, er wollte seiner Umgebung Erzieher und Lehrer werden, wollte Partei und Volk an die wahren Quellen des Lebens führen.

Der lange Aufenthalt im Bauernland Niederbayern hatte ihm den Stein des Weisen entdeckt: Himmler wurde immer mehr zu einem besessenen und närrischen Schüler der Blut-und-Boden-Philosophie.

Seit er denken konnte, erschien seiner romantischen Geschichtsvorstellung das Bauerntum als Urquell der Nation. »Der freie Bauer auf freier Scholle«, schmachtete Himmler, »ist das stärkste Rückgrat deutscher Volkskraft und völkischer Gesinnung.«

Nach seiner Studentenzeit, schon im Bannkreis völkischer Propaganda, malte er sich eine Gesellschaft aus, die in erster Linie vom Bauern geprägt ist. Als Urzelle des Zurück-zum-Lande-Staates konzipierte er in einer undatierten Aufzeichnung eine Bauernhofschule, deren Lehr- und Schülerpersonal »das Bild des wahrhaft deutschen Staatswesens entrollt« und gleichsam die neue Gesellschaft vorlebt.

Lehrer der Schule und des Bauernvolkes sind »Meister«, »Gesellen« und »Lehrlinge« beiderlei Geschlechts. Die männlichen Meister müssen »Führereigenschaften« besitzen, außerdem sollen ihnen »Lug und Trug der Welt genau bekannt sein«; die Meisterinnen hingegen sind »lebensfreudige, sittenreine Frauen von echtem mütterlichen Empfinden, frei von den Krankheiten der heutigen entarteten Frauen der Städte, stark und doch holdselig im täglichen Leben das letzte Wort gerne den Männern überlassend«.

Himmler fand sogar Freunde, die bereit schienen, seinen bäuerlich-völkischen Edelkitsch in die Tat umzusetzen. Sie kauften ein Bauerngut in Niederbayern und stellten es Himmler zur Verfügung. Doch seine Hoffnung, es könnten sich »noch eine ganze Anzahl von edelsten Menschen finden, die ... entsprechend ihrem Vermögen und ihrer Kraft eine Stiftung« errichten würden, zerschlug sich. Die Bauernhofschule blieb eine Halluzination.

Er ließ indes von seinen bäuerlichen Utopien nicht ab. Der Sohn des Studienrats glaubte in sich das pädagogische Genie entdeckt zu haben, er meinte sich zum großen Erzieher geboren, der immer lehren und Nutzanwendungen ziehen müsse.

Stets belehrte er seine Umgebung, was die Altvorderen In diesem oder jenem Falle getan hätten, und immer wußte er ein Beispiel aus der Geschichte, um die Gegenwart zu erhellen und die Zeitgenossen zu schulen.

Auch für das Debakel der Bauernhofschule hatte Himmler eine Nutzanwendung, freilich nur die Nutzanwendung des Utopisten und des Sektierers. Zum ersten Mal stand er den wirtschaftlichen Nöten des Bauerntums gegenüber, er zog aus ihnen eine aberwitzige Schlußfolgerung.

Was der Bauernmystiker Himmler sah, war nicht jene Strukturkrise der deutschen Landwirtschaft, die spätestens nach dem Ende der Schutzzollpolitik Bismarcks eingesetzt hatte, war nicht die zwingende Notwendigkeit zu Rationalisierung und Abbau der lebensunfähigen Zwergbetriebe. Er sah etwas anderes: das schillernde Netzwerk eines Unholds, genannt »internationales Judentum«.

»Schlimmster Feind« des Landvolks, schrieb er etwa 1924 in einer Notiz, sei das »internationale jüdische Kapital«, weil es »das Stadtvolk gegen das Landvolk aufhetzt« - und das geschehe so: »Durch Spekulation und Börsenspiel sorgt es für niedrige Erzeugerpreise und hohe Verbraucherpreise. Der Landwirt soll wenig verdienen, der Städter soll viel bezahlen. Den hohen Zwischengewinn schluckt das Judentum und die ihm verbündeten Kreise.«

Bis zum Novemberputsch von 1923 hatten in Himmlers Tagebüchern Juden wenigstens noch individuelle Züge getragen, jetzt erstarrte jüdisches Wesen zur Fratze, wurde jeder »Nichtarier« zum Partisanen einer vermeintlichen jüdischen Weltgefahr. Von nun an sind im Denken Himmlers jüdische Menschen nur noch Gegenstand kollektiver Diffamierung - der künftige Reichsführer SS hatte seinen Feind gefunden.

Und in derselben Notiz entdeckte er noch einen zweiten Erzgegner, ohne den er hinfort nicht mehr auskommen konnte: den Slawen. Nur im Kampf gegen den Slawen, argumentierte er, werde sich deutsches Bauerntum bewähren und kräftigen, denn nur im deutschen Osten liege die Zukunft.

»Namentlich im Osten«, schrieb er, »stehen heute gewaltige Landmassen aus dem Besitzstand der großen Güter zum Verkauf. Ihre Besiedlung mit Bauern- und Landarbeitersöhnen ist notwendig, damit nicht, wie bisher, die 2. und 3. Söhne der deutschen Landwirte zur Abwanderung In die Städte gezwungen werden. Nur durch starke Siedlung

kann es erreicht werden, daß das Landvolk wieder zu entscheidendem Einfluß in Deutschland kommt.«

Neusiedlung ist mithin auch ein Kraftakt des deutschen Nationalismus. Himmler: »Vermehrung des Bauerntums bedeutet zugleich die einzig wirksame Abwehr gegen das Eindringen der slawischen Arbeitermassen von Osten. So soll der Bauer wie vor 600 Jahren berufen sein, dem deutschen Volke im Kampf gegen das Slawentum den Besitz der heiligen Mutter Erde zu erhalten und zu mehren.«

Ohne es zu wissen, hatte Heinrich Himmler er zwei Kernpunkte des späteren SS-Programms formuliert, Überzeugungen, die den Ausgangspunkt der antijüdischen und antislawischen Politik des Dritten Reiches bestimmten. Der Kampf gegen den slawischen »Untermenschen« und gegen das »internationale Judentum« wurde zur fixen Idee. Noch fehlte diesem Programm der fanatische Akzent, die pseudoreligiöse Besessenheit - aber hier ist gleichwohl der Punkt, wo in Himmler der Prozeß politischer Wahnideen einsetzt.

Die NSDAP war jedoch damals viel zu unbedeutend, als daß sie Himmler die Möglichkeit bieten konnte, seine völkische Bauernpolitik zu verwirklichen. Himmlerschloß sich einer Gruppe an, die mit dem Zurück zum Lande Ernst machen wollte: den Artamanen.

Sie kamen vom völkischen Flügel der deutschen Jugendbewegung und waren nationalistische Idealisten, die sich vorgenommen hatten, auf eigener Scholle zu siedeln. Das Gros der Artamanen gehörte nicht zur NSDAP (obwohl ihr Führer Georg Kenstler Mitglied der Partei war), aber auch diese Jugendlichen schworen auf »Blut und Boden', auch sie peinigte der antislawische Komplex: Sie wollten die polnischen Landarbeiter in Ostelbien zur Heimkehr zwingen.

1924 brach die erste Artamanen -Gruppe auf, um in einem sächsischen Gut zu leisten, was sie für ihre wirtschaftliche und nationale Pflicht hielt. 2000 Jugendliche schwärmten auf Ostdeutschlands Bauernhöfe und formierten sich zum Abwehrkampf gegen die Slawen.

Im Bund der Artamanen begegnete Himmler auch dem Mann, der den Vorurteilen des völkischen Bauernpolitikers erst ideologischen Schliff gab und sie in das System einer Rassenlehre einordnete, der Lehre von der Überlegenheit der nordischen Rasse. Richard Walther Darre, ein Argentinien-Deutscher, geboren 1895, Zögling der King's College School im britischen Wimbledon, ehemaliger Beamter des preußischen Landwirtschaftsministeriums und künftiger Agrarexperte der NSDAP, nahm den um fünf Jahre jüngeren Himmler in die Schule.

Er lehrte ihn, was er seit Jahren predigte: Das Problem der Landwirtschaft sei in erster Linie keine Wirtschaftsfrage, sondern heine Frage des Blutes«; das Bauerntum (wie Darre in einer späteren SS-Publikation formulieren ließ) habe »immer die allein tragfähige blutliche Grundlage unseres Volkes gebildet«, mithin sei es Aufgabe des Staates, die bäuerliche Blutsgrundlage zu verbreitern, und zwar durch Siedlungsprojekte, Förderung der Geburten, Drosselung der Abwanderung in die Städte.

Entscheidend komme es, so Darre, darauf an, »die besten Blutslinien unseres Volkes so schnell wie möglich mit dem Boden unlösbar zu verbinden«.

Als bester Blutslieferant erschien ihm jenes legendäre Wesen, das schon die Köpfe der völkischen Jugendbewegung verwirrte: die nordische Rasse. Nur »Träger nordischen Blutes«, dies wollte der Blut-Ideologe Darre in der Geschichte entdeckt haben, hätten die Welt gestaltet.

Das aber hieß für die Gegenwart: Zurückdämmung aller dem nordischen Blutmythos abträglichen Einflüsse, Ausmerzung aller humanistisch-internationalen Kräfte von der (durch NS-Propagandisten In den Rang einer weltbeherrschenden Großmacht erhobenen) Freimaurerei bis zur völker- und menschenversöhnenden Religion des Christentums.

Fasziniert sah Himmler vor sich eine Welt erschlossen, deren Vorhandensein er dunkel geahnt, die er aber nie klar erkannt hatte. Jetzt öffnete ihm der Blut-und-Boden-Prophet die Augen, und was er sah, war wundersam: Er sah die völkische Elite der Zukunft, er sah die Herrscher der neuen Germanen, von denen er immer gewußt hatte, er sah den Männerorden der SS.

Den Blut-und-Boden-Mythos lehrte Himmler nun auch selber in der niederbayrischen SS, die er aufgebaut hatte. Die Parteioberen wurden auf den seltsamen Bauerntheoretiker in der SS -Uniform aufmerksam, Himmler winkte die Chance, Chef der Gesamt-SS zu werden.

Doch noch war er sich nicht sicher, ob seine Zukunft dem Boden oder dem Orden der SS gehörte. Er glaubte, einen Partner für bäuerliches Siedeln gefunden zu haben.

1926 stürzte er, um Schutz vor einem Regenfall zu finden, in die Halle eines Hotels in Bad Reichenhall und zog vor einer Dame seinen nassen Jägerhut so schwungvoll, daß der Hotelgast über und über bespritzt wurde. Als Himmler verlegen aufblickte, stand vor ihm die germanische Göttin seiner Visionen: blond, blauäugig, walkürenhaft.

Sie hieß Margarete Boden und war die Tochter eines deutschen Gutsbesitzers aus Goncerzewo, einem Ort in der Nähe der westpreußischen Stadt Bromberg. Sie hatte im Ersten Weltkrieg als Krankenschwester gearbeitet, war nach Berlin gezogen und hatte dort nach kurzer Ehe mit Geldern des Vaters eine kleine Privatklinik aufgebaut.

Dem keuschen NS-Propagandisten erschien die Liebe auf den ersten Blick, die Eltern aber waren von der Akquisition ihres Sohnes wenig erbaut. Marga, wie sie sich nannte, war acht Jahre älter als Heinrich und zu allem Überdruß auch noch protestantisch und geschieden. Lange Zeit zögerte Himmler, mit Marga vor die Eltern zu treten. Himmler zu seinem Bruder Gebhard: »Lieber würde ich allein einen Saal mit tausend Kommunisten ausräumen!«

Die Eltern fügten sich und überließen das Paar seinen Illusionen. Heinrich und Marga, am 3. Juli 1928 getraut, dachten sich ein gemeinsames Siedlerleben aus.

Marga verkaufte die Privatklinik, und mit dem Erlös erwarb das Ehepaar in Waldtrudering bei München ein Grundstück, auf dem es ein kleines Holzhaus errichtete: Im Erdgeschoß lagen zwei Zimmer, darüber drei weitere Räume; Heinrich zimmerte einen Hühnerstall, denn die Himmlers hatten eine große Hühnerfarm projektiert.

»Liebchen, ich muß so oft an das Stückchen Land denken, das wir dann besitzen werden«, hatte sich Marga schon Monate vor der Hochzeit gefreut und in dem schäkernden Ton, den sie anfangs gegenüber Himmler anschlug, geschrieben: »Liebchen, ich glaube, der böse Mann muß dafür sorgen, daß gespart wird. Du weißt ja, die böse Frau gibt immer soviel Geld aus, wie sie hat.«

Die Eheleute legten sich 50 Zuchthennen zu, aber das Siedlungs- und Farmprojekt scheiterte an Geldsorgen und an Heinrichs Parteikarriere. Himmlers 200-Mark-Gehalt als stellvertretender Reichsführer SS reichte nicht aus, die Hühnerfarm in Schwung zu bringen.

Am 6. Mai 1929 ließ Marga ihren Mann wissen: »Die Hühner legen furchtbar schlecht 2 Eier pro Tag. Ich ärgere mich so, wo wir davon leben wollten und dann noch zu Pfingsten sparen. Immer Pech. Ich spare so, aber das Geld ist gleich wieder alle.« Stets neue Geldsorgen: »Du hast nicht geschrieben, das ist bös. Das Geld wird nun nicht mehr morgen vormittag kommen und so kann (das Dienstmädchen) Berta nicht Deine Schuhe mitbringen.«

Zu den Finanznöten gesellte sich eine Ehekrise, die schneller kam als beide für möglich gehalten hatten. Die kühle, nervöse und kaum Gemütlichkeit ausstrahlende Hausfrau in Waldtrudering irritierte den sensiblen Eheherrn bald so, daß er immer öfter der Wohnung fernblieb. Nach der Geburt der Tochter Gudrun, Ihres einzigen Kindes, lebten sich die Himmlers auseinander.

Vergebens hoffte Marga, die NS-Politik werde ihr den Hausvater und Gatten eines Tages wieder zurückgeben. -Du, Du wirst immer um mich sein, wenn die Wahlen vorüber sind, dann ist ja wenigstens für einige Jahre Ruhe damit«, erwartete sie. In einem anderen Brief: »Du böser Landsknecht, Du wirst doch mal in diese Gegend kommen.« Und wiederum: Wenn Du auch nur auf zwei Tage kommst, Du kommst.«

Doch allmählich ahnte Marga, daß Heinrich ihr verloren war. Manchmal bin ich doch traurig, daß ich immer zu Hause sitzen muß. Heute habe ich mir ausgedacht, wie wir Deinen Geburtstag feiern werden. Lieber, gehen wir zusammen mal in irgendeine Ausstellung? Waren wir noch nie«, eröffnete sie ihm.

Und bei anderer Gelegenheit: Mir geht es nicht gut. Was soll nur werden. Man muß immerzu daran denken ...

Ach Guterchen, was wird bloß mit mir.«

Heinrich Himmler wußte es nicht. Er stand längst im Banne des Führerbefehls, der ihn am 6. Januar 1929 an die Spitze der Schutzstaffel gerufen hatte. Jetzt konnte SS-Mitglied Nr. 168 beweisen, was es bei Gregor Strasser und Walther Darre gelernt hatte. Die SS war da - sie wartete nur, so dünkte Himmler, von einer Meisterhand zum völkischen Orden, zur Elite des Nationalsozialismus ausgebaut zu werden.

IM NÄCHSTEN HEFT:

Hitler erhebt die SS zur Parteipolizei

-Ein Putsch erschüttert die NSDAP

- »SS-Mann, Deine Ehre heißt Treue«

- Parteirichter Buch will Röhms Homosexuellen-Clique liquidieren

* Ernst Himmler, Diplomingenieur und Cheftechniker am Reichssender in Berlin, starb 1945. Gebhard Himmler war Ministerialdirigent Im Reichserziehungsministerium und arbeitet heute im Europäisch-Afghanischen Kulturinstitut in München.

* Die andere Gruppe nannte sich »Großdeutsche Volksgemeinschaft« und zählte Alfred Rosenberg und Julius Streicher zu ihren führenden Mitgliedern.

SS-Führer Himmler (l.), Chef (1927): »Skrupelloseste Erscheinung im Dritten Reich«

Bankierstochter Paula Stölzle

»An die Kandare ...

... mit barbarischer Strenge": Brüder Heinrich, Gebhard Himmler

Himmler-Pate Prinz Heinrich

Königliche Protektion ...

... für den Sohn des Geheimrats: Vater Himmler, Ehefrau

Volksschüler Himmler (X)

»Ich bin ein Spruchmacher ...

Student Himmler (X)

... und ein Schwätzer ...

Himmler-Domizil in München*

... und mir gelingt nichts«

Beisetzung Ex-Königs Ludwig III. in München (1921): Mit geliehenem Zylinder die letzte Ehre erwiesen

Fahnenträger Himmler, Chef Röhm (X)*: Liebe gescheitert, Putsch mißglückt

Himmler-Chef Gregor Strasser (l.)*: »Der Heini macht es schon«

Himmler-Ehefrau Margarete

»Du böser Landsknecht ...

NS-Propagandist Himmler

... Du wirst doch mal kommen«

* Haus in der Amalienstraße, in dem Himmler von 1904 bist 1913 wohnte.

* Vor dem Kriegsministerium in München

am 9. November 1923.

* Mit NS-Verteidiger Roland Freisler, dem

späteren Präsidenten des Volksgerichtshofes, während eines Prozess 1930.

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