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Artikel 28 / 74

Der Orden unter dem Totenkopf

Von Heinz Höhne
aus DER SPIEGEL 52/1966

10. Fortsetzung

Die antijüdische Politik der SS

Am 11. November 1941 notierte sich Leibarzt Felix Kersten: »Himmler ist heute sehr bedrückt. Er kommt aus der Kanzlei des Führers. Ich behandle ihn. Nach längerem Drängen und Fragen, was ihm fehle, erklärt er, man plane die Vernichtung der Juden.«

Es war das erstemal, daß Himmlers Intimus von der »Endlösung der Judenfrage« erfuhr. Kersten ("Ich war entsetzt") will sich sofort gegen den furchtbaren Plan schärfstens geäußert haben, doch der sonst so gesprächige Himmler verhielt sich auffallend reserviert.

Kurz darauf nahm Kersten einen neuen Anlauf. Am 16. November merkte er sich: »Ich versuchte in den letzten Tagen immer wieder bei Himmler, auf das Los der Juden zurückzukommen. Gegen alle Gewohnheit hörte er mich nur stumm an.«

Erst ein Jahr später, am 10. November 1942, wurde Himmler gesprächiger. Himmler: »Ach, Kersten, ich wollte ja die Juden gar nicht vernichten. Ich hatte ganz andere Ideen. Aber dieser Goebbels hat das Ganze auf dem Gewissen.«

Dann: »Vor Jahren bekam ich vom Führer den Befehl, die Juden aus Deutschland zu entfernen. Sie sollten ihr Vermögen sowie bewegliches Hab und Gut mitnehmen können. Ich begann die Aktion. Bis zum Frühling 1940 konnten Juden noch ungestört Deutschland verlassen, dann siegte Goebbels.«

Kersten: »Wieso Goebbels?«

Himmler: »Goebbels vertrat den Standpunkt, daß die Judenfrage nur mit der restlosen Vernichtung aller Juden zu lösen sei. Solange noch ein Jude lebe, werde er immer ein Feind des nationalsozialistischen Deutschlands sein.«

Die Gespräche mit Himmler, die der fleißige Tagebuchschreiber Kersten festgehalten hat, widersprechen dem Bild, das sich viele Zeitgenossen Himmlers und vor allem die Nachwelt über die Entstehungsgeschichte der grausamsten Aktion im aufgeklärten 20. Jahrhundert gemacht haben.

Die Vernichtung des europäischen Judentums ist so unlösbar mit der Geschichte der SS verbunden, ja, sie wird vermutlich die einzige Tat bleiben, der sich Menschen in Jahrhunderten erinnern werden, wenn der Name der SS fällt, daß die - irrige - Vorstellung sich aufdrängt, die Täter des größten Massenverbrechens der Geschichte seien auch seine Urheber gewesen.

Der erste Gestapo-Leiter, Rudolf Diels, wähnte nach dem Krieg, die Endlösung habe sich 1942 »in den Köpfen Himmlers und Heydrichs abgezeichnet«; der ehemalige Chefdolmetscher des Auswärtigen Amts, Paul Schmidt, ist ebenfalls überzeugt, die Endlösung sei »von der Gruppe Heydrich, Himmler, Streicher« geplant worden.

Selbst aktenkundige Historiker haben solche Urteile akzeptiert. Der in Frankreich lebende Historiker Leon Poliakov meint, Heydrich habe als erster NS -Funktionär noch vor Kriegsausbruch die Vernichtung der Juden projektiert, und Poliakovs amerikanischer Kollege Henry A. Zeiger behauptet gar, erst auf Heydrichs Vorschlag hin, jeden Juden in Europa zu töten, hätten Hitler und Göring 1941 die Endlösung beschlossen.

Diese Interpretationen stützen sich nicht auf konkrete Beweise. Sie fußen nur auf der Überlegung, daß die Männer, die in einer Orgie von Blut und Sadismus Millionen Juden ausrotteten, nicht über Nacht von Normalbürgern zu Massenmördern geworden sein können - mit anderen Worten: daß der Plan zur Judenvernichtung in den Herzen und Hirnen der SS bereits existiert haben muß, ehe der Befehl erging, ihn zu verwirklichen.

Dem stehen jedoch Indizien entgegen, aus denen sich folgern läßt, daß die Judenmord-Entscheidung außerhalb der SS-Führung entstanden ist:

- Bis zum Frühjahr 1941, dem mutmaßlichen Zeitpunkt der Endlösung -Entscheidung Hitlers, hat es kein Dokument irgendeiner SS-Organisation gegeben, das die physische Vernichtung des europäischen Judentums vorsah.

- Noch in seiner berüchtigten Denkschrift über die »Behandlung der Fremdvölkischen im Osten« vom Mai 1940 lehnte Himmler »die bolschewistische Methode der physischen Ausrottung eines Volkes aus innerer Überzeugung als ungermanisch und unmöglich« ab.

Was die These von der geistigen Urheberschaft Himmlers vollends fragwürdig macht, ist die unbezweifelbare Tatsache, daß Hitlers Entschluß zur Endlösung eine andersartige Konzeption zerstörte, der die Schutzstaffel jahrelang angehangen hatte. Das SS -Konzept hieß: Vertreibung der Juden aus Deutschland, euphemistisch Auswanderung genannt.

Wie gnadenlos diese ursprüngliche Judenpolitik der SS auch betrieben wurde - ein Gedanke war ihr bis zum Kriegsausbruch fremd: die Vorstellung, Juden physisch zu vernichten.

Seit die Schutzstaffel zum wichtigsten Instrument der Führerdiktatur geworden war, zogen maßgebliche Männer der SS eine Behandlung der Juden vor, die sich durch manche Nuancen von dem primitiv-demagogischen Antisemitimus der NS-Partei abhob.

Selbstverständlich stand auch die SS im Banne der inhumanen Doktrin, die das Judentum zu einer Art Gegenrasse, zu einem Inbegriff des Bösen deklarierte, das den Deutschen ihre nordischen Blutsäfte raube und auf das der Spruch des obersten Parteirichters Buch zutraf: »Der Jude ist kein Mensch. Er ist eine Fäulniserscheinung.«

Für die SS war der Antisemitismus um so mehr eine unerschütterliche Glaubenswahrheit, als in den Jahren der Wirtschaftskrise die enteigneten Söhne jenes Bauern- und Kleinbürgertums in die SS geströmt waren, das der Antisemitismus davon überzeugt hatte, die Juden seien die eigentliche Ursache des wirtschaftlichen Unglücks.

Die jungen Bürgersöhne im SS-Rock teilten den leicht sozialistisch eingefärbten Antisemitismus ihrer Väter, aber für ihr Denken wurde eine verfeinerte Art der Judenfeindschaft noch entscheidender: der Sozialdarwinismus, dessen Verfechter glaubten, die von dem britischen Naturforscher Charles Darwin (1809 bis 1882) fixierten Gesetze über die durch den Kampf ums Dasein bedingte natürliche Auslese ließen sich auf das Gebiet der Staatspolitik übertragen.

Wie in keiner zweiten Organisation der NSDAP grassierte im schwarzen Orden die von Darwin übernommene, abgewandelte Überzeugung, durch Auslese könne man die wertvollen Arten eines Volkes erhalten und verbessern. Für die Rassenmystiker der SS gab es nur eine wertvolle Art: die nordisch germanische Rasse.

Diese politisch angewandte Biologie gab Darwins Begriff vom Kampf ums Dasein einen ganz neuen Sinn. Was bei dem Engländer noch frei waltende Natur war, wollten die Sozialdarwinisten mit den Zwangsmitteln des autoritären Staates künstlich und willkürlich etablieren: das Recht der ihres Erachtens stärkeren und besseren Rasse, die niedere Art auszuschalten.

Die Zielrichtung jeder Sozialpolitik zivilisierter Staaten verkehrte sich ins Gegenteil. Nicht länger schien es selbstverständliche Aufgabe des Staates, andersartige Minderheiten, Schwache und Benachteiligte zu schützen; jetzt sollte nur noch gelten, das »gute Blut« zu stärken und die angeblich lebensuntüchtigen Elemente auszumerzen.

Nationen waren für die SS-Theoretiker nicht mehr gewachsene Wesen, sondern - wie der Historiker Buchheim formuliert - »unrationell angelegte und von Unkraut durchwucherte Pflanzungen, in denen einmal Ordnung geschaffen werden mußte, indem man die Asozialen isolierte, die 'Fermente der Dekomposition' unschädlich machte, wertvolle Elemente vermehrte und minderwertige verkümmern ließ«.

Schon die Sozialdarwinisten hatten - lange vor der SS - den Rassebegriff in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gerückt. Der Biologe Wilhelm Schallmayer schlug 1903 eine »Fruchtbarkeitsauslese« vor; durch rassenhygienische Kontrolle der Brautleute, Heiratsverbote und Sterilisierung Minderwertiger könne man erreichen, daß sich die gute Rasse durchsetze.

Hier war auch der Punkt, an dem sich der wirtschaftlich argumentierende Antisemitismus mit dem rassistisch zugespitzten Sozialdarwinismus zu jener Judenfeindschaft verband, die für das Weltbild der Schutzstaffel kennzeichnend war. Der jüdische Mensch sank in der SS-Optik zur krummbeinigen Symbolfigur des Minderwertigen herab, gegen das sich die gute Rasse behaupten müsse.

In einem Standard-Vortrag für SS-Einheiten ("Das Judentum") wurde 1936 verbreitet: »Der Jude ist ein Schmarotzer. Wo er gedeiht, sterben die Völker. Seit grauer Vorzeit bis in unsere Tage hinein hat der Jude ganz buchstäblich alle seine Gastvölker ums Leben gebracht und ausgerottet, sowie er die Macht dazu hatte ... Wenn wir den Juden aus unserem Volkskörper ausscheiden, so ist das ein Akt der Notwehr.«

Wie aber sollte man die Juden »ausscheiden«? Das war für die Antisemiten die zentrale Frage, und an ihr schieden sich im nationalsozialistischen Lager die Geister. Die jungen Intellektuellen, die vor allem in den Kommandostellen des SD saßen, bekundeten deutlich einen Horror vor den primitiven Rezepten des parteiamtlichen Anti-Juden-Kurses.

Lange Zeit wußten sie freilich nur, was sie nicht wollten. Sie wollten nicht die »Stürmer-Methoden«, jene vom Gauleiter Julius Streicher und seinem Wochenblatt »Der Stürmer« betriebene, aus wirtschaftlichen und sexuellen Haß - und Neidmotiven gemischte Hetze, die letzten Endes darauf hinauslief, niedrigste Instinkte gegen jüdische Menschen zu mobilisieren und den Juden das Lebensrecht abzusprechen.

Den SD-Intellektuellen, die ebenso radikale wie »vernünftige« Nationalsozialisten sein wollten, erschien just diese Form der Judenfeindschaft als ein »Antisemitismus, der uns schadet«, wie eine Schlagzeile im »Schwarzen Korps« besagte. Die Aufhetzung der Straße gegen Juden dünkte die SD-Führer eine Torheit brauner Primitivlinge; wer

- so räsonierten sie - die Schaufenster

jüdischer Geschäfte einschlage, beeinträchtige den Ruf des neuen Deutschlands in der Welt, ohne die Lösung der Judenfrage auch nur um einen Schritt voranzubringen.

»Die nationalsozialistische Bewegung und ihr Staat«, konnte man am 5. Juni 1935 im »Schwarzen Korps« lesen, »treten diesen verbrecherischen Machenschaften mit aller Energie entgegen. Die Partei duldet nicht, daß ihr Kampf für die heiligsten Güter der Nation zu Straßenaufläufen und Sachbeschädigungen umgefälscht wird.«

Die Männer des SD waren zu intelligent, um die niedrige antisemitische Propaganda der Partei goutieren zu können. Wäre es nach ihnen gegangen, hätten sie die Masse der Anti-Juden-Propaganda einstampfen lassen. Sie wollten die sogenannte Judenfrage auf eine kalt-rationale Art lösen. Ihrem Rotstift fiel manches Produkt des nationalsozialistischen Judenwahns zum Opfer.

Nicht einmal die Protokolle der »Weisen von Zion«, eisernes Rüstzeug jedes antijüdischen Propagandisten, fanden vor den Augen der SD -Zensoren Gnade: Bei den Büchern des

Hochmuth-Verlages handle es sich um unbedenkliche Erzeugnisse, »abgesehen davon, daß auch auf die Protokolle der Weisen von Zion Bezug genommen wird«, befand am 21. Juli 1938 SS-Oberscharführer Herbert Hagen, der Juden -Experte des SD, und der SD-Führer von Mildenstein nannte die Protokolle schlicht »Quatsch«.

Über die vom Zentralverlag der NSDAP herausgegebene Broschüre »Der Judenspiegel« von Rudolfs notierte Hagen: »In seinem Übereifer sieht (der Verfasser) auch das Werk des Judentums, wo eine natürliche und geistige Entwicklung wirksam war, die auch ohne Einwirkung des Judentums zu irgendeiner Auswirkung ... geführt hätte.«

Die SD-Gutachter ließen sich auch nicht durch ein Aufgebot einflußreichster NS-Funktionäre davon abhalten, allzu plumpe antisemitische Schwarten abzulehnen. Das berüchtigtste Produkt aus dem Julius-Streicher-Lager, das Jugendbuch »Der Giftpilz« des »Stürmer«-Chefredakteurs Ernst Hiemer, erntete höchste Lobsprüche. NS-Verlagsherr Amann: »Gehört in die Hand eines jeden deutschen Jungen und Mädels.« SA-Stabschef Lutze: »Dieses Werk (ist) in seiner Einmaligkeit geeignet ... aufklärend in der Judenfrage zu wirken.« Gauleiter Wächtler: »Garantiert auch für die Zukunft richtiges Verhalten des deutschen Menschen dem Judentum gegenüber.«

Das SD-Hauptamt urteilte dagegen trocken: »Der Ansicht der zahlreichen Begutachter kann nicht beigetreten werden, da das Buch vom Sachlichen abgesehen nicht einmal stilistisch einwandfrei ist und damit hies. E. (= hiesigen Erachtens) nicht für die Unterrichtung von Kindern geeignet ist.«

Das unverkennbare Unbehagen der SD-Elite blieb jedoch weitgehend unartikuliert, bis im Sommer 1935 der spätere SS-Untersturmführer Leopold Edler von Mildenstein eine SS-eigene Judenpolitik zu formulieren begann. Heydrich war auf den gebürtigen Prager durch den Bericht über eine Palästina-Reise aufmerksam geworden, den der gelernte Ingenieur und Globetrotter von Mildenstein im Herbst 1934 im Berliner »Angriff« veröffentlicht hatte. Mildenstein schilderte darin völlig nüchtern die Zukunftsaussichten eines jüdischen Palästina.

Der Untersturmführer war ebenso wenig Antisemit wie sein unbeholfener Adlatus Adolf Eichmann oder der SD -Hauptabteilungsleiter Reinhard Höhn, der noch 1929 in einem Buch den Antisemitismus eine »verseuchende Hetze« genannt hatte. Edler von Mildenstein durfte sich Freund prominenter Zionistenführer nennen, er war ein regelmäßiger Besucher von Zionistenkongressen, wo er auf die Idee gekommen war, die ihn mit den Zionisten verband: daß nur die Auswanderung nach Palästina die Judenfrage lösen könne.

Er hegte die Illusion, der NS-Antisemitismus könne diese Auswanderung fördern. Die SS sollte dabei helfen, denn Mildenstein wußte, daß die SS-Führung der weitgehend willkürlichen, uneinheitlichen Judenpolitik der NSDAP kritisch gegenüberstand.

Die Partei hatte sich nie schlüssig werden können, wie Antisemitismus in die Praxis umzusetzen sei. Hitler vermied in »Mein Kampf« jeden konkreten Hinweis auf eine antisemitische Gesetzgebung, und der NS-Rassenexperte Achim Gercke hielt es 1933 für »in jeder Hinsicht verfrüht, Pläne auszuarbeiten«.

Alfred Rosenberg behalf sich mit, der Formel, die Juden müßten als »eine in Deutschland lebende Nation anerkannt«, aber aus führenden Positionen in Politik, Kultur und Wirtschaft ausgeschaltet werden. Und der SS-Standartenführer Dr. Conti, später Reichsgesundheitsführer, erklärte gar, das neue Deutschland verurteile jeden Rassenhaß, Juden stellten »keine minderwertige, sondern eine andersartige Rasse« dar.

Derartige Erklärungen spiegelten die Auffassungen verschiedener Antisemiten-Gruppen in der Partei wider, deren es mindestens drei gab:

- eine völkische, Gruppe um Hermann Göring, die Juden aus dem politischen und kulturellen Leben verdrängen, ihnen aber damals noch eine begrenzte Mitarbeit in der Wirtschaft erlauben wollte;

- eine Gruppe pornographisch-neurotischer Judenfeinde um Julius Streicher;

- eine Gruppe fanatischer Rassentheoretiker, die alle Spuren jüdischen Eigenlebens in Deutschland auslöschen wollte; Wortführer: Reichspropagandaminister Goebbels. Aus der Leidensgeschichte der deutschen Juden nach 1933 läßt sich ablesen, welche antisemitische Gruppe jeweils den Kurs gegen die jüdischen Deutschen bestimmte:

In den ersten Monaten nach der NS -Machtübernahme beherrschte Streichers Antisemitismus die antijüdischen Maßnahmen des Regimes. Die blutigen Ausschreitungen gegen Juden im März 1933, der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April, die Ausschaltung jüdischer Beamter, Ärzte und Juristen, die ersten Arisierungen jüdischer Geschäfte, die Vertreibung jüdischer Menschen aus Badeanstalten, Konzertsälen und Kunstausstellungen - dies alles entstammte unverkennbar dem Judenhaß Streichers.

1934 ebbte der Terror gegen die Juden jäh ab. Das Kommando übernahmen etwas maßvollere Antisemiten. Die jüdischen Mitbürger faßten neuen Mut, sie hofften so zuversichtlich, daß der »Völkische Beobachter« am 9. Mai 1935 berichten konnte, fast 10 000 der inzwischen aus Deutschland geflohenen Juden seien zurückgekehrt.

1935 wurde die Judenfeindschaft wieder erbarmungsloser. Diesmal gab Joseph Goebbels den Ton an: »Wir wollen die Juden nicht mehr!«

Der den deutschen Juden noch belassene Lebensraum verringerte sich zusehends. Auf dem Berliner Kurfürstendamm kam es zu heftigen Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger. Wehrmacht und Arbeitsdienst wurden für Juden gesperrt, neue Schilder tauchten auf: »Juden unerwünscht« - und am Ende standen die schmachvollsten Paragraphen deutscher Justizgeschichte, die Nürnberger Gesetze, die das deutsche Judentum zu einer Pariagruppe und jeden Verkehr zwischen Juden und Nichtjuden zu einem Staatsverbrechen erklärten.

Ein Jahr später allerdings - 1936 wurde der Antisemitismus abermals duldsamer. Der permanente Verleumdungsfeldzug gegen die Juden ging zwar weiter, aber zu diesem Zeitpunkt hatte Vierjahresplan-Chef Hermann Göring durch große Vollmachten an Einfluß gewonnen, und er zögerte offenkundig, die Juden vollends aus der Wirtschaft zu vertreiben.

Dieses Spiel der Antisemiten-Gruppen in der NSDAP wollte der SS-Untersturmführer Leopold von Mildenstein beenden und die Judenfrage auf die einzige Art lösen, die nach seiner Meinung eine vernünftige und dauerhafte Regelung gewährleisten konnte: durch die Auswanderung aller Juden.

Die Idee war nicht neu; ihre Verwirklichung scheiterte jedoch immer wieder an der Unlust anderer Länder, Juden in großer Zahl aufzunehmen. Die SD -Führung sollte daher die Juden Deutschlands in das Land abschieben, das SS -Führer und Zionisten gleichermaßen für das Heimatland der alten und neuen Juden hielten - Palästina.

Leopold von Mildensteins Palästina -Plan barg eine Schwierigkeit. Nur eine Minderheit der deutschen Juden bekundete Lust, nach Palästina auszuwandern. Verzweifelt hielt die Masse der jüdischen Deutschen trotz Diffamierung und Terror an ihrem Vaterland fest.

Neben jener Mehrheit wirkte jedoch eine kleine Gruppe zionistischer Wortführer, die das traditionelle deutsch-patriotische Denken der deutschen Juden umdirigieren wollten. Ihnen war der Machtantritt des Nationalsozialismus zunächst keineswegs als Katastrophe, sondern als die einmalige geschichtliche Chance erschienen, den Zionismus zu verwirklichen: die Wiederherstellung eines jüdischen Staates und eines jüdischen Nationalgefühls.

Sie waren seltsam fasziniert von dem Sieg der deutschen Antisemiten, in dem sie zugleich eine Niederlage des westlich-aufgeklärten Judentums sahen, das durchweg vom Zionismus nichts hielt und es vorzog, in den nichtjüdischen Wirtsvölkern aufzugehen. Fast klang es wie Triumph, als die zionistische »Jüdische Rundschau« (Berlin) nach Hitlers Regierungsantritt proklamierte: »Eine Weltanschauung ist zusammengebrochen, wir wollen ihr nicht nachjammern, sondern an die Zukunft denken.«

Der 30. Januar 1933 dünkte die Zionisten ein erfreulicher Wendepunkt jüdischer Geschichte, der Beginn einer Rückkehr »des Juden zu seinem Judentum«. Der Satz stand in einer Schrift des jungen Rabbiners Dr. Joachim Prinz ("Wir Juden"), in der Hans Lamm, der Chronist des deutschen Judentums im Dritten Reich, »eine eigenartige, fast apologetische Deutung des Phänomens des Antisemitismus« entdeckte.

Prinz schrieb, es gebe »dieser Judenfrage gegenüber kein Entrinnen mehr«. Die Judenfrage sei eine Tatsache; die Emanzipation habe den Juden »zur Anonymität und zur Leugnung seines Judentums« gezwungen, ohne ihm zu nützen. Denn: »Diese Anonymität schuf in den Menschen, die den Juden trotz alldem erkannten, die Spannung des Fremdseins und des Mißtrauens.«

Welcher Weg aber führe aus dieser jüdischen Tragödie heraus? Nur einer, der Weg nach Palästina. Prinz: »Kein Schlupfwinkel birgt uns mehr. Wir wünschen an die Stelle der Assimilation das Neue gesetzt: das Bekenntnis zur jüdischen Nation und zur jüdischen Rasse.«

Welch eine Versuchung für die Zionisten, mit Hilfe der Nationalsozialisten die deutschen Juden für ihre Idee zu gewinnen, was ihnen im human-demokratischen Klima der Weimarer Republik versagt geblieben war! Wo Zionisten und Nationalsozialisten Rasse und Nation zu Maßstäben aller Dinge erhoben, da mußte sich eine gemeinsame Brücke finden lassen.

Die »Jüdische Rundschau« hatte es schon am 13. Juni 1933 offen ausgesprochen: »Der Zionismus anerkennt die Existenz der Judenfrage und will sie in einer großzügigen, konstruktiven Weise lösen. Er will hierfür die Mithilfe aller Völker gewinnen, der judenfreundlichen ebenso wie der judenfeindlichen, weil es sich nach seiner Auffassung hier nicht um Sentimentalitäten, sondern nur um ein reales Problem handelt, an dessen Lösung alle Völker interessiert sind.«

Und just an dieser Stelle setzten die Überlegungen der SD-Führer ein. Ein phantastischer Plan hatte sich ihrer bemächtigt: Die SS mußte die deutschen Assimilationsjuden wieder zu »bewußten« Juden machen, mußte die »Dissimilation« fördern, damit möglichst viele Juden den Drang nach Palästina verspürten - dem einzigen Land, das (damals) die jüdische Einwanderung kaum beschränkte.

Der Untersturmführer von Mildenstein errichtete im SD-Hauptamt ein Judenreferat, das die Amtsbezeichnung II 112 bekam, und eröffnete eine Ära SS-eigener Judenpolitik, der es nach Hans Lamm gefiel, »eine pro-zionistische Haltung einzunehmen oder vorzugeben«.

Die neue SS-Politik offenbarte sich in den Spalten des »Schwarzen Korps«, dessen antijüdische Attacken plötzlich vor den »nüchternen, ganz unsentimentalen Juden« des Zionismus haltmachten. »Die Zeit dürfte nicht mehr allzu fern sein, in der Palästina seine seit über einem Jahrtausend verlorenen Söhne wieder aufnehmen kann«, prophezeite das SS-Organ. »Unsere Wünsche, verbunden mit staatlichem Wohlwollen, begleiten sie.«

Der SD forcierte die jüdische Auswanderung nach Palästina, obwohl einstweilen formell nur die Gestapo und das Reichsinnenministerium zuständig waren. Von 1933 bis 1936 hatten 24 000 Juden nach Palästina emigrieren können: der SD verstärkte nun seinen Druck auf auswanderungswillige Juden.

Referatsleiter von Mildenstein förderte die von zionistischen Organisationen unterhaltenen Umschulungslager, in denen junge Juden auf den landwirtschaftlichen Einsatz in den Kibuzzim Palästinas vorbereitet wurden. Er verfolgte aufmerksam die Arbeit der Zionisten. Er ließ in seinem Referat große Karten entwerfen, die das Vordringen des Zionismus im deutschen Judentum markierten.

Zu den Beobachtern des Zionismus gehörte ein junger SS-Mann, der in das Referat Mildensteins versetzt worden war. Er war schon oft SS-Führern durch die grotesk-dienstbeflissene Art aufgefallen, mit der er jedem Vorgesetzten begegnete: Adolf Eichmann. Der Scharführer Eichmann, 1906 in Solingen geboren, mit der Familie nach Oberösterreich gezogen, ehedem Kumpel in einem Bergwerk; Elektro-Verkäufer und Handelsvertreter in Ölsachen, durch Zufall ins Reich verschlagen und nach kurzern Dienst bei der SS-Verfügungstruppe in den SD eingetreten, hatte es sich zur Regel gemacht, in jedem SS -Führer ein höheres Wesen zu sehen. Unermüdlich sprang er zackig in Habacht -Stellung, wenn Vorgesetzte sein Zimmer betraten, und das waren nicht wenige.

Nichts in Eichmanns Leben deutete auf antisemitische Wurzeln hin. Wie er sich lange Zeit nicht schlüssig gewesen war, ob er einer Freimaurerloge oder der SS beitreten solle, so wußte er auch kaum, was von Juden zu halten sei. Er besaß nicht mehr Vorurteile gegen Juden als andere Kameraden, eher weniger: Zu seiner Verwandtschaft zählten mehrere Juden, er hielt sich eine jüdische Freundin, er verdankte Juden seine leidliche Karriere im Geschäftsleben.

Gleichwohl entwickelte er sich unter Mildensteins Obhut schnell zum antisemitischen Experten. Er war bald ein unentbehrlicher Helfer des Juden -Referats, während Mildenstein, dessen unorthodoxe Art Himmlers Stab mißfiel, schon nach zehnmonatiger Dienstzeit aus dem SD-Hauptamt ausschied und später in die Dienste des Auswärtigen Amtes trat.

Im Referat II 112 erhielt Eichmann das Sachgebiet »Zionismus«, und rasch vermochte er so überzeugend mit hebräischen Vokabeln und zionistischen Begriffen zu renommieren, daß sich im SD -Hauptamt das Gerücht verbreitete, Eichmann sei ein alter Palästina-Deutscher mit genauer Kenntnis von Land und Leuten.

Bei dieser Arbeit war Eichmann und dem Nachfolger des inzwischen ausgeschiedenen Mildenstein, dem Journalisten und SS-Oberscharführer Herbert Hagen, erstmals aufgegangen, welchem Dilemma die SS-Förderung der zionistischen Auswanderung zusteuerte: Einerseits wollten sie alle Juden nach Palästina ziehen lassen, andererseits war ihnen die Möglichkeit unheimlich, dort könne ein starker jüdischer Staat entstehen.

Referatsleiter Hagen sah es so: »Es ist selbstverständlich, daß Deutschland die Bildung eines solchen Staatsmonstrums keineswegs billigen kann, käme doch sonst möglicherweise der Tag, wo sich seine ganzen staatenlosen Juden die palästinensische Staatsbürgerschaft holen würden, um dann als sogen. Minderheit eine Vertretung bei der deutschen Regierung zu fordern.«

Da Hagen und Eichmann nicht, wie später der einzelgängerische SD-Führer Otto Ohlendorf, vorschlagen wollten, den Juden einen Minderheitsstatus einzuräumen, blieb ihnen nur die vage Hoffnung, Palästinas Mandatsmacht - England - werde die Gründung eines jüdischen Staates niemals erlauben. Aber konnte man dessen sicher sein? Der SD beschloß, die zionistischen Organisationen noch schärfer zu überwachen.

Hagen und Eichmann begnügten sich nicht damit, die Zionisten in Deutschland zu kontrollieren. Wollten sie sich ernsthaft über die Chancen einer jüdischen Staatsgründung informieren, so mußten sie in die Zentrale der zionistischen Bewegung eindringen. Ein alter Freund Mildensteins bot ihnen eine Möglichkeit. Der Kaufmann Otto von Bolschwingh, Parteigenosse, Zuträger des SD und lange Zeit Exporteur in Haifa, unterhielt Beziehungen zu einer Gruppe Palästina-Deutscher, die ihre Kasse durch nachrichtendienstliche Nebenbeschäftigung aufbesserten. Zu ihnen gehörte auch Dr. Reichert, der Korrespondent des Deutschen Nachrichtenbüros (DNB) in Jerusalem.

Reichert wiederum verfügte über Kontakte zu einem der leitenden Männer einer zionistischen Geheimorganisation, die wie kaum eine andere Institution (vom britischen Intelligence Service abgesehen) die Phantasie des SD beschäftigte: der Hagana.

Über sie hatte Eichmann schon 1936 vermerkt: »Sämtliche in der ZO (Zionistischen Weltorganisation) zusammengefaßten Parteien und Verbände werden von einer zentralen Abwehr- und Überwachungsstelle überwacht, die im jüdisch-politischen Leben eine außerordentlich wichtige Rolle spielt. Diese Stelle führt den Namen 'Hagana' (Die Geheime).« Sie sei nicht nur die militärische Selbstschutzorganisation der jüdischen Siedler, sie unterhalte auch ein weitverzweigtes Spionagenetz.

Aus dem Führungsstab eben dieser Geheimarmee kam der am 11. September 1900 in Polen geborene Buchprüfer Feivel Polkes, der durch gelegentliche Informationen bei DNB-Reichert manches Honorar kassierte. Er bekleidete den Rang eines Kommandeurs in der Hagana, ihm oblag - so registrierte Hagen - »die Leitung des gesamten Selbstschutzapparates der palästinensischen Juden«.

II 112 bekundete Interesse für den Hagana-Kommandeur, und im Februar 1937 machte sich Polkes auf den Weg nach Berlin. Am 26. Februar durfte Adolf Eichmann seinen jüdischen Gast in Berlin begrüßen, zweimal - das eine Mal im Weinrestaurant »Traube« am Zoo - bewirtete der SS-Hauptscharführer den Hagana-Mann, beim zweiten Mai revanchierte sich Polkes: Er lud Eichmann nach Palästina ein.

Freilich, der Sendbote aus Palästina war kein gewöhnlicher Agent. Ihm gehe es darum, erläuterte er Eichmann, die jüdische Einwanderung nach Palästina zu verstärken, damit die Juden in ihrer alten Heimat das Übergewicht über die Araber bekämen; zu diesem Zweck arbeite er mit den Geheimdiensten Englands und Frankreichs zusammen, er wolle auch mit Hitler-Deutschland kooperieren.

»Er würde u. a. die deutschen außenpolitischen Interessen im Vorderen Orient tatkräftig unterstützen ... wenn die deutschen Devisenverordnungen für die nach Palästina auswandernden Juden gelockert werden«, meldete Eichmanns Referat am 17. Juni 1937. Ihm wird wohl allmählich aufgegangen sein, daß Polkes nicht aus eigenem Antrieb nach Berlin gekommen war - hinter ihm stand offenkundig die Einwanderungspolitik der Hagana.

Am 26. September 1937 pünktlich um 8.50 Uhr bestiegen Eichmann und Hagen einen D-Zug, um das sich vorsichtig anbahnende Bündnis zwischen Schutzstaffel und Hagana zu festigen. SD -Chef Heydrich hatte erlaubt, der Einladung des Polkes nach Palästina zu folgen.

Die beiden Sendboten waren nur notdürftig getarnt; Eichmann reiste als Redakteur des »Berliner Tageblatts«, Hagen als Student. Am 2. Oktober legte das Schiff »Romania« mit den zwei SD -Männern an Bord im Hafen von Haifa an, doch die arabischen Juden-Gegner störten das Konzept der deutschen Juden-Gegner: Ende September hatten arabische Nationalisten einen Aufstand entfesselt, der die britische Mandatsmacht zwang, den Belagerungszustand zu verhängen und die- Grenzen des Landes zu sperren.

Die SD-Männer mußten sich mit Polkes in Kairo treffen. Der Hagana-Kommandeur erklärte sich, wie Hagen in einem Bericht an Heydrich meldete, mit einer Monatsgage von 15 Pfund Sterling einverstanden und lieferte die ersten Informationen.

Hagen hielt als Meinung des Polkes fest: »Über die radikale deutsche Judenpolitik zeige man sich in national jüdischen Kreisen sehr erfreut, weil damit der Bestand der jüdischen Bevölkerung in Palästina so vermehrt werde, daß in absehbarer Zeit mit einer Mehrheit der Juden gegenüber den Arabern in Palästina gerechnet werden könne.«

Die Ausbeute des Palästina-Ausflugs hielt Adolf Eichmann zwar für ein »mageres Ergebnis«, gleichwohl dünkte Himmler und Heydrich die Arbeit ihres Zionismus-Experten so erfolgversprechend, daß sie ihm ein halbes Jahr später, nach dem Einmarsch in Österreich (1938), die Leitung der jüdischen Auswanderung zunächst in Österreich übertrugen.

Zum erstenmal wurde der SD auch formell in die Judenpolitik eingeschaltet. Eichmann, seit Januar 1938 Untersturmführer, war zum Judenreferenten des Inspekteurs der Sicherheitspolizei und des SD in Wien bestellt worden. Sein Auftrag: mit allen Mitteln die jüdische Auswanderung zu beschleunigen.

Bis dahin war die Auswanderung von den NS-Behörden uneinheitlich betrieben worden. Jetzt setzte Eichmann den Zwang der Sicherheitspolizei ein und bedrängte die Juden derart, daß die Auswanderung einer Austreibung gleichkam. Der neue Untersturmführer erlag einem Rausch der Organisation: Er hatte plötzlich entdeckt, daß er planen und befehlen konnte.

Dem Eichmann kam eine Idee: Er wollte das Durcheinander von Polizei -Staats- und Parteidienststellen, die allesamt mit der Auswanderung von Juden befaßt waren, beseitigen und alle Beteiligten - Behörden und Vertreter des Judentums - zusammenfassen. Für den jüdischen Zwangsauswanderer sollte nur noch eine einzige Stelle zuständig sein, »ein laufendes Band, vorne kommen das erste Dokument drauf und die anderen Papiere, und rückwärts müßte dann der Reisepaß abfallen« (Eichmann).

Aus dem Fließband wurde die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung«, die sich unter Eichmanns Leitung in einem alten Wiener Rothschild-Palais. Prinz-Eugen-Straße 20/22, niederließ. Mit Eichmann kamen die Mitarbeiter, die später zu Boten und Befehlsträgern des Rassenmordes werden sollten: die Brüder Hans und Rolf Günther, Franz Novak, Alois und Anton Brunner, Erich Rajakowitsch, Stuschka, Hrosineck - kaltblütige und unermüdliche Strategen der Juden-Austreibung.

Mit den Mitteln der Erpressung brachte Eichmanns Zentralstelle den jüdischen Exodus in Gang. Da das Gros der 300 000 Juden Österreichs mittellos war und das von den Einwanderungsländern verlangte Mindestkapital ("Vorzeigegeld") nicht besaß, andererseits das devisenschwache NS-Regime jede finanzielle Hilfestellung rigoros ablehnte, wurden die reicheren Juden gezwungen, den Auszug mit ihrem Vermögen zu subventionieren.

In Österreich begann denn auch planmäßig jene Arisierung jüdischen Eigentums, von der sich die NS-Führer Mittel zur Finanzierung der Aufrüstung und der jüdischen Auswanderung erhofften. 25 000 NS-Kommissare bemächtigten sich des jüdischen Privatbesitzes

- die völlige Auspowerung einer Menschengruppe begann.

Mit derartigen Methoden fiel es Eichmann leicht, Erfolgszahlen nach Berlin zu melden. Bis zum Spätherbst 1938 hatte die Zentralstelle 45 000 österreichische Juden abgeschoben, in knapp 18 Monaten waren 150 000 Juden aus dem Land ihrer Väter vertrieben.

Doch Eichmanns Politik kalter Zwangsauswanderung konnte nur gelingen, solange es den SS-Technokraten durch einen ruhigen Verlauf der Austreibung gelang, die Grenzen der Einwanderungsländer und die Schatullen der jüdischen Hilfsorg anisationen offenzuhalten. Eben dies aber vereitelten die Extremisten der Partei, die - über die Einmischung des SD in die Judenpolitik ohnehin verstimmt - im Sommer

1938 eine neue Hetzkampagne gegen das Judentum einleiteten.

Julius Streichers »Stürmer« machte den Anfang. In den Spalten des Blattes wurde immer wieder die Forderung erhoben, es sei höchste Zeit, die Juden aus den ihnen noch verbliebenen wirtschaftlichen Positionen zu vertreiben. Unentwegt rief der »Stürmer« die Länder Europas auf, sich zum Kampf gegen die Juden zu vereinigen und ihre Grenzen gegen den »Weltfeind Nr. 1« abzuriegeln - jene Grenzen, die Eichmann für seine Auswanderungstransporte offenzuhalten versuchte.

Vergebens bemühte sich Eichmann, das Hetzblatt zu bremsen. Ende Mai 1938 nahm sich der Untersturmführer in Wien den »Stürmer«-Chefredakteur Hiemer vor, erklärte ihm die Auswanderungspraxis der SS und hielt ihm »einen etwa zweistündigen richtungsweisenden Vortrag« (Eichmann).

Eichmann ließ sich auch von Streicher nach Nürnberg einladen, um - so Eichmann in einer Aktennotiz - »bei dieser Gelegenheit eine andere Linienführung des 'Stürmer' zu erreichen«. Die Mühe war umsonst. Ein zweiseitiger Artikel Hiemers über das Wiener Judentum offenbarte dem Eichmann -Chef Hagen, »wie schwer wir mit unserer Ansicht gescheitert sind, daß man nur auf diese Weise etwa eine Bekehrung zuwege bringen würde«.

Am 28. Juni 1938 schrieb Hagen an Eichmann: »Das tollste Stück scheint mir aber zu sein, wenn der (Hiemer) zu der durchaus erfreulichen Tatsache, daß sehr viele Juden in Wien wieder zu ihrem Judentum zurückkehren, folgende Klammerbemerkung beifügt: 'Zu einer Religion, die die Lehren des Talmuds als oberstes Gesetz anerkennt! Des Talmuds, der alle Verbrechen am Nichtjuden gestattet.' Wenn ich so etwas höre, fasse ich mich an den Kopf: was denn die noch eigentlich sollen! Vielleicht trägt der 'Stürmer' zu der radikalen Lösung bei, sie um einen Kopf kürzer zu machen, damit sie gar nicht erst auf den erfreulichen Gedanken verfallen können, sich wieder als Juden zu bekennen.«

Die Beziehungen zwischen SD und Streicher verschlechterter sich derart, daß Heydrich befahl, Eichmann solle sich bei Streicher wieder ausladen. Obersturmbannführer Six hielt fest: »(Heydrich) will, daß SS-Untersturmführer Eichmann vorläufig der Einladung (Streichers) dadurch ausweicht, indem er sagt, daß er sich gerade auf Urlaub begeben habe.«

Zu den Gegnern der SS-Judenpolitik stieß einige Wochen später ein noch weit gefährlicherer Widersacher, der Reichspropagandaminister Goebbels. Er wartete seit langem auf die Chance, die Judenpolitik des Regimes in den Griff zu bekommen; schon stand sein Propaganda-Apparat bereit, eine neue Welle antisemitischer Maßnahmen auszulösen.

Ein Heckenschützenkrieg zwischen den judenfeindlichen Führern Deutschlands und Polens half dem Minister weiter: Am 6. Oktober 1938 hatte die polnische Regierung ein Dekret erlassen, das alle polnischen Pässe für ungültig erklärte, falls sie nicht bis zum Monatsende mit einem nur in Polen erhältlichen Sondervermerk versehen worden waren.

Das Auswärtige Amt in Berlin argwöhnte sofort, die Warschauer Regierung

wolle sich mit einem Schlag der vielen polnischen Juden in Deutschland entledigen. Das NS-Regime reagierte auf seine Art.

Am 28. Oktober ließ Sipo-Chef Heydrich 17 000 polnische Juden verhaften, in Eisenbahnwaggons sperren und an die deutsch-polnische Grenze befördern. In der Nacht zum 29. Oktober 1938 wurden die Opfer der ersten jüdischen Massendeportation des Dritten Reiches über die Grenze getrieben. Sie wurden von den polnischen Grenzbehörden nur widerwillig aufgenommen.

Zwischen den Fronten deutscher und polnischer Polizisten irrte auch der hannoversche Schneidermeister Grünspan umher. In Paris hörte der 17jährige Herschel Grünspan von dem Martyrium seines Vaters. Am 7. November kaufte er sich einen Revolver und streckte mit fünf Schüssen den Dritten Sekretär der Deutschen Botschaft in Paris. Ernst vom Rath, nieder.

Das Attentat auf einen deutschen Diplomaten durch einen Juden war just ein Ereignis, auf das Joseph Goebbels gewartet hatte. Seine Propagandamaschine begann zu wüten.

Der »Völkische Beobachter« schrieb am 8. November: »Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird.« Schon rotteten sich in den Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt NS-gelenkte Demonstranten zusammen und verwüsteten jüdische Läden.

Goebbels schien die Stunde günstig: An jedem 9. November versammelten sich in Münchens Altem Rathaussaal die ältesten Kampfgefährten Hitlers zur Erinnerung an ihren Bierkeller-Putsch von 1923. Wer in der Partei Rang und Namen hatte, erschien dort

- da bedurfte es nur einer

flammenden Goebbels-Ansprache, um die Parteiformationen in die letzte Schlacht gegen die Juden zu treiben.

Was folgte, hat der Berliner Volkswitz in Anspielung auf die millionenfach zertrümmerten Fensterscheiben jüdischer Geschäfte die Reichskristallnacht getauft. Sie ist als eine Nacht der Schande in die Geschichte eingegangen: Ein Regime kommandierte Menschen zum organisierten Pogrom. Aber für die innere Geschichte des

Hitler-Regimes bedeutet die Reichskristallnacht noch etwas anderes. Sie ist ein Lehrstück nationalsozialistischer Herrschaft. Sie enthüllt wie die Röhm -Affäre und der Blomberg-Fritsch-Skandal das chaotisch-strukturlose Regierungssystem, das sich Führerstaat nannte. Und sie hat eine Fußnote voll grausiger Ironie hinterlassen: Die Endlöser der späteren Jahre waren Gegner des Goebbelsschen Coups.

Denn: In der Aktion vom 9. November 1938 wurde ein Element des parteiinternen Aufruhrs gegen die beherrschende Rolle der SS in der Judenpolitik sichtbar. Es war kein Zufall, daß Himmler und Heydrich von der Aktion erst erfuhren, als sie längst im Gange war - unter der Federführung des Reichspropagandaministers.

Goebbels war am 9. November mit der offenkundigen Absicht nach München gereist, die Alten Kämpfer zu einem blutigen Pogrom anzustacheln. Eine neue Meldung aus Paris förderte seinen Plan: Kaum hatten sich die Altnazis im Alten Rathaussaal zum Abendessen niedergelassen, da wurde die Nachricht hereingereicht, Ernst vom Rath sei um 16.30 Uhr verstorben.

»Hitler war dadurch stärkstens beeindruckt und lehnte es ab, zu sprechen, was er sonst immer tat«, bezeugt Münchens Polizeipräsident, der SS -Obergruppenführer Freiherr von Eberstein. Hitler und Goebbels steckten die Köpfe zusammen; Eberstein hielt das Gespräch für eine »außerordentlich eindringliche Unterredung«.

Kein Zweifel: In diesem Augenblick muß die Entscheidung gefallen sein. Indes, das Staatsoberhaupt Hitler durfte mit dem Pogrom nicht in Verbindung gebracht werden; Goebbels übernahm nur allzugern die Rolle des Regisseurs. Der Diktator verließ den Saal, worauf der Promi-Chef zu einer nichts- und allessagenden Rede ausholte, die man zu den Meisterleistungen nazistischer Demagogie rechnen muß.

»Diese Rede war ausgesprochen hetzerisch, und es war aus ihr zu entnehmen, daß Goebbels vorhatte, eine Aktion zu starten«, erinnerte sich später der Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Jeder hörte etwas anderes heraus: der eine den Auftrag, Aktionen gegen Juden nicht zu behindern, der andere den Befehl, Pogrome aktiv zu inszenieren, ein dritter das Gebot, Synagogen anzuzünden, ein vierter die Order, die Juden aus den Städten zu vertreiben.

Was aber hatte Goebbels konkret gesagt? Nur dies: Er, Goebbels, habe dem Führer berichtet, daß es in einigen Gauen bereits zu antijüdischen Aktionen gekommen sei. Der Führer habe daraufhin entschieden, derartige Demonstrationen seien von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren, soweit sie aber spontan entstünden, sei ihnen auch nicht entgegenzutreten.

Mehr sagte er nicht. Doch die Alten Kämpfer stürzten an die Telephone und jagten Alarmbefehle an ihre Einheiten ins Land hinaus. Endlich durften sie sich als Herren der Judenfrage fühlen, endlich konnte die Partei ihr Mitspracherecht wieder geltend machen, endlich sah die SA die Stunde gekommen, aus ihrer Schattenrolle herauszutreten.

Die offiziellen Dirigenten der nationalsozialistischen Judenpolitik aber ahnten nicht, was sich zusammenbraute. Hermann Göring, mit der Lösung der Judenfrage von Amts wegen beauftragt, rollte uninformiert in einem Nachtzug nach Berlin zurück, während Himmler mit seinem Führer zu der Vereidigung von SS-Rekruten vor der Feldherrnhalle fahren wollte und Heydrich in einem Zimmer des Münchner Hotels »Vier Jahreszeiten« mit Kameraden zusammensaß.

Der Leiter der deutschen Sicherheitspolizei wurde von der Goebbelsschen Anti-Judenaktion »völlig überrascht«, wie später der Gestapo-Justitiar Dr. Werner Best aussagte, der seinen Chef Heydrich zu dem Münchner Traditionstreffen der NS-Prominenz begleitet hatte. Best: »Ich war mit ihm zusammen, als wenige Meter von dem Hotel, in dem wir uns befanden, eine Synagoge in Brand hochging.«

Heydrich und seine Begleiter rätselten noch über die Hintergründe des Synagogen-Anschlags, da klärte sie um 23.15 Uhr ein Anruf der Stapo-Leitstelle München auf. Der Führer vom Dienst in der Leitstelle meldete: Soeben habe die Gaupropagandaleitung München-Oberbayern mit - geteilt, es seien Judenpogrome befohlen worden, in die sich die Geheime Staatspolizei nicht hindernd einmischen dürfe. Der Anrufer bat um Weisungen.

Der Sipo-Chef wußte keine. Er entsandte sofort den Gruppenführer Karl Wolff, Chef des persönlichen Stabes Reichsführer SS, mit den soeben erhaltenen Informationen zum Reichsführer. Es war 23.30 Uhr, als Wolff seinen Chef in Hitlers Privatwohnung in der Äußeren Prinzregentenstraße antraf.

Niemand schien über die Judenaktion erstaunter als Adolf Hitler. Der ahnungslose SS-Chef gab später zu

Protokoll: »Als ich den Führer fragte, hatte ich den Eindruck, daß er von den Vorgängen nichts wußte.« Doch Adolf Hitler erholte sich schnell von seiner angeblichen Überraschung. Er befahl, die SS solle sich aus der Aktion heraushalten, die Gestapo habe lediglich jüdisches Eigentum sicherzustellen und für den persönlichen Schutz der Juden zu sorgen.

Heydrich wartete auf das Eintreffen seines Chefs, um zu erfahren, wie sich die SS zu dem Goebbels-Coup verhalten solle. Endlich, um 01.00 Uhr am 10. November, traf Himmler im »Vier Jahreszeiten« ein. Er gab seine Befehle an Heydrich und die versammelten Oberabschnittsführer der Allgemeinen SS.

Heydrich wies in einem Blitz-Fernschreiben alle Dienststellen der Gestapo und des SD an: »Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen.« In Geschäftsstraßen sei besonders darauf zu achten, »daß nicht jüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden«, außerdem dürften »ausländische Staatsangehörige - auch wenn sie Juden sind - nicht belästigt werden«.

Kaum aber hatte Himmler seine Befehle erlassen, da brach sich seine Wut über den Widersacher Goebbels Bahn. Er hatte von Anfang an erkannt, was der Pogrom des 9. November bedeutete: Querschuß gegen die kalt-rationalistische Judenpolitik der SS, Attacke gegen den Primat der SS in allen Fragen der jüdischen Auswanderung.

Himmler ließ sich Untersturmführer Luitpold Schallermeier, den Persönlichen Referenten Wolffs, kommen und diktierte ihm um 3 Uhr eine Aktennotiz, die er in einem Umschlag versiegelte. Himmler: »Ich vermute, daß Goebbels in seinem mir schon lange aufgefallenen Machtbestreben und in seiner Hohlköpfigkeit gerade jetzt in der außenpolitisch schwersten Zeit diese Aktion gestartet hat.«

Wie Himmler mißfiel auch anderen SS-Führern das Unternehmen des Dr. Goebbels. Otto Ohlendorf, der spätere Chef des Inland-SD, war nach dem Zeugnis eines unpolitischen Studienfreundes von dem Pogrom »tief empört«. Gruppenführer Wolff gestand dem indischen Politiker Hafiz Khan, Deutschland habe »eine moralische Schlacht« verloren, und der Polizeipräsident Eberstein, der jede Beteiligung seiner SS -Einheiten verbot, empfand »diese ganze Aktion als ausgesprochen unanständig«.

War das alles, was die SS zum Zeichen ihres Protestes unternahm? Es war alles oder nahezu alles.

Nur die Fama freilich schrieb Himmler eine stärkere Geste des Protestes zu. Der preußische Finanzminister Popitz hörte, Himmler habe Hitler erklärt, er könne dessen Befehlen nicht Folge leisten, und ein SS-Mann namens Günther Schmitt erzählte dem Ex-Botschafter Ulrich von Hassell, der Reichsführer habe den Pogrom »mißbilligt und deshalb der Verfügungstruppe zwei Tage Kasernenarrest befohlen«.

Himmler sammelte sogar Material über die Verwüstungen und Plünderungen des von Goebbels aufgestachelten Mobs, um seinem Führer die Sinnlosigkeit des Goebbels-Coups zu beweisen und die Entfernung des Gegenspielers aus allen Staatsämtern zu fordern.

Als das Ergebnis des Schadens vorlag, rüstete sich Himmler zum offenen Kampf gegen Goebbels. Am 11. November registrierte Heydrich ein Zwischenergebnis: 815 Geschäfte zerstört, 29 Warenhäuser demoliert, 171 Wohnhäuser vernichtet, 76 Synagogen verwüstet und weitere 191 in Brand gesetzt, 36 Juden ermordet, 36 schwer verletzt, 174 Plünderer festgenommen.

Der vorsichtige Reichsführer SS sah sich nach einem Bundesgenossen gegen den mächtigen Promi-Chef um. Er fand ihn in Hermann Göring, der gleichfalls seine Kompetenz in der Judenpolitik durch Goebbels angetastet fand.

Nach dem Empfang der ersten Pogrom-Meldungen war Göring in die Reichskanzlei geeilt und hatte Hitler gebeten, die Aktion augenblicklich einstellen zu lassen. Görings Argumente ähnelten denen Himmlers, sie waren

nicht humanitärer Art, den Beauftragten für den Vierjahresplan interessierten nur die materiellen Verluste. Göring: »Diese Demonstrationen habe ich satt!«

Hitler verteidigte seinen Propagandaminister lahm, während Göring den Kampf gegen Goebbels anheizte. Auch Himmler beschuldigte Goebbels, dem Reich durch den unverantwortlichen Pogrom im Ausland unermeßlichen Schaden zugefügt zu haben.

Der Kampf gegen Goebbels erreichte am 14. November seinen Höhepunkt. Für diesen Tag hatte sich der Danziger Völkerbundskommissar Carl J. Burckhardt mit dem Reichspropagandaminister verabredet; als der Gast im Ministerium erschien, wurde ihm ausgerichtet, er könne erst später empfangen werden. Burckhardt erkannte bald, warum.

Der Völkerbundskommissar erfuhr von dem polnischen Berlin-Botschafter Lipski, im Reichskabinett sei »eine spontane Bewegung gegen Goebbels, entstanden«, und aus »direkter Quelle« (Burckhardt) erfuhr der Schweizer, es sei »die momentane Kaltstellung des Propagandaministers verlangt worden«.

Am 13. November war der Kampf noch unentschieden gewesen, aber am Morgen des nächsten Tages votierte Hitler für seinen Leibpropagandisten. Gegen 11 Uhr ließ sich der Diktator in die Privatwohnung von Goebbels fahren und bekundete ihm sein Vertrauen, am Abend erfuhren es Berlin und die Welt: Hitler zeigte sich zusammen mit Goebbels In einer Vorstellung des Schiller-Theaters.

Nachdenklich reiste Burckhardt nach Danzig zurück. Dort fand er die Notiz vor, Himmler habe angerufen und bitte ihn dringend, sofort In die Reichshauptstadt zu kommen. Der SS-Chef hatte den Kampf gegen Goebbels noch nicht aufgegeben: Noch konnte das Argument zünden, Goebbels habe der deutschen Außenpolitik geschadet.

Freilich, der Außenminister Joachim von Ribbentrop war dem Propagandachef bereits an die Seite gesprungen und hatte ihm bescheinigt, von einer Schädigung außenpolitischer Interessen des Reichs könne keine Rede sein. In dieser Lage konnte nur noch Burckhardt helfen, der Konfident aller jener NS-Führer, die der Mann des Völkerbundes für Widersacher der radikalen Note in der Politik Adolf Hitlers hielt.

Als Burckhardt schließlich In der Prinz-Albrecht-Straße eintraf, hatte Himmler bereits resigniert. Statt des Reichsführers SS empfing Gruppenführer Karl Wolff den Besucher. Sein Chef sei leider erkrankt, berichtete Wolff, die Ereignisse der letzten Woche hätten Himmlers Nerven zu stark belastet. Aber: Der Reichsführer verurteile die verderblichen Methoden gegenüber den Juden.

»Die innere Lage in diesem Lande ist unerträglich geworden, etwas muß geschehen«, erklärte Wolff. Der Verantwortliche sei »Herr Goebbels, der einen unleidlichen Einfluß auf den Führer« ausübe. »Wir hofften schon, ihn wegen der Propaganda, die er in bezug auf die Tschechenkrise machte, zur Strecke zu bringen, und diesmal glaubten wir definitiv, unserer Sache sicher zu sein, aber auch diesmal hat ihn der Führer gerettet. Das kann so nicht weitergehen, man wird handeln müssen.«

Reichlich verwirrt zog sich Burckhardt zurück. Er wußte noch nicht, daß die Einladung nach Berlin nur das Rückzugsgefecht einer Schlacht war, die Himmler gegen Goebbels verloren hatte.

Allerdings mußte auch Goebbels einen hohen Preis zahlen. Er blieb auf seinem Posten, aber er durfte sich nicht mehr in die Judenfrage einmischen. Hitler hatte verfügt, daß es auf diesem Gebiet allein Göring zukomme, »jetzt die entscheidenden Schritte zentral zusammenzufassen«, wie es Göring in braun deutsch umschrieb.

Das hieß in der Praxis: Noch stärkere Drangsalierung des deutschen Judentums, restlose Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben und vor allem Fortsetzung der Auswanderungspolitik des SD. An Heydrich erging am 24. Januar 1939 der Göring-Befehl, die Juden-Auswanderung mit allen Mitteln zu fördern.

Heydrich kopierte nun im Reichsmaßstab, was Eichmann in Österreich vorexerziert hatte. In Berlin wurde eine »Reichszentrale für die jüdische Auswanderung« geschaffen, in der nach dem Wiener Vorbild alle Reichsbehörden und die Zwangsvertretung der deutschen Juden ("Reichsvereinigung der Juden in Deutschland") am Exodus der Juden mitwirkten.

Die Leitung der Reichszentrale wurde Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei unterstellt, der seinerseits einen Geschäftsführer ernannte, den SS-Standartenführer Heinrich Müller, Chef der Abteilung II im Geheimen Staatspolizeiamt. Mit neuen Pressionen wurden die jüdischen Führer angetrieben, ihre Gefolgsleute zur Auswanderung bereitzustellen.

Heydrichs und Müllers Reichszentrale konnte zunächst Rekordzahlen vorweisen. 1939 verließen 78 000 Juden des Altreichs (1938: 40 000) das Land Adolf Hitlers. Unter dem Druck Eichmanns, der inzwischen in Prag eine weitere Zentralstelle für jüdische Auswanderung errichtet hatte, räumten knapp 30 000 Juden das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren.

Die Auswanderungs-Experten Heydrichs ließen keine Gelegenheit aus, Juden außer Landes zu befördern. Sie liierten sich sogar mit einer zionistischen Geheimorganisation, die auf ihre Art verwirklichen wollte, was Eichmann und Hagen schon 1937 gemeinsam mit ihrem jüdischen Konfidenten Feivel Polkes geplant hatten: die massierte Auswanderung deutscher Juden nach Palästina.

Den Plan hatte die britische Mandatsmacht durchkreuzt. Nach blutigen Auseinandersetzungen zwischen Arabern, Juden und der Mandatsmacht im Herbst 1937 war die britische Regierung dazu übergegangen, die jüdische Einwanderung ins Heilige Land zu drosseln.

Gegen Englands neue Einwanderungspolitik formierte sich eine zionistische Widerstandsgruppe, hinter der nicht zuletzt jene Hagana stand, der auch Eichmann-Konfident Polkes angehörte. 1937 entstand im Zimmer des mächtigen Hagana-Führers Eliahu Golomb eine Geheimorganisation, die sich »Mossad le Allyah Bet«, Büro für Einwanderung, nannte.

Das Mossad knüpfte in Europa ein Netz von Vertrauensleuten, die jüdische Einwanderer heimlich auf kleinen Schiffen nach Palästina dirigierten. Die Männer des Hagana-Führers Golomb waren auch unsentimental genug, mit Hilfe der SS Juden nach Palästina zu bringen und damit das zu wagen, was die britischen Publizisten Jon und David Kimche den »Pakt mit dem Teufel« nennen.

Etwa um die Zeit der Kristallnacht fuhren zwei Beauftragte des Mossad, Pino Ginzburg und Moshe Auerbach, in das Reich Adolf Hitlers, um den Herren des schwarzen Ordens ihre Hilfe bei der Auswanderung der Juden anzubieten. Die beiden Mossad-Männer schlugen vor, das zionistische Umschulungsprogramm für auswanderungswillige Juden zu beschleunigen und die Juden nach Palästina zu schleusen.

Der SD griff zu und ließ das Mossad gewähren, zumal die Auswanderungsziffern immer mehr zusammenschrumpften. II 112 hielt am 15. Juni 1939 als »Ziele deutscher Judenpolitik« fest: »Mit allen Kräften Auswanderungen fördern. Einwanderung der Juden immer schwieriger. Alle Auswanderungspläne, wohin auch, fördern.«

Da mußte der SD jedem dankbar sein, der deutsche Juden im Ausland unterbrachte. Freilich, die Judenexporteure der SS durften nicht offenen Visiers mit den Zionisten zusammenarbeiten. Das Auswärtige Amt Joachim von Ribbentrops war ein heftiger Gegner aller jüdischen Auswanderung nach Palästina, auch die Auslandsorganisation der NSDAP intrigierte gegen die unbegreifliche Hilfestellung der SS beim Aufbau eines jüdischen Staates.

In einem Runderlaß an alle diplomatischen Missionen und Konsulate des Reichs am 25. Januar 1939 brachte das Auswärtige Amt die Auffassung der Israel-Gegner zum Ausdruck: Statt dem Weltjudentum einen »völkerrechtlichen Machtzuwachs« zu ermöglichen, müsse eine fortgesetzte »Zersplitterung des Judentums« Ziel der deutschen Politik sein. Die deutschen Auswanderertransporte des Mossad - das war die mündlich gestellte Bedingung des SD - durften auf keinen Fall Palästina als Bestimmungsland nennen.

Beauftragter Pino Ginzburg zog ins Zionistenhauptquartier in Berlins Meineckestraße ein und begann, Transporte zusammenzustellen. Heydrich forderte, die Ginzburg-Organisation müsse jede Woche 400 Juden bereitstellen und sie auf dem Seeweg nach Palästina befördern; die Reichszentrale stellte später sogar einen deutsch-griechischen Reeder, dessen Schiffe sich allerdings bald als verschrottungsreife Seelenverkäufer entpuppten.

Planer Golomb in Palästina beschaffte bessere Transportmittel; zunächst hatte er sich mit Booten begnügen müssen, die nur 50 Passagiere faßten, dann stellte er Schiffe für 800 Menschen. Doch noch fehlte den Mossad-Leuten in Deutschland das Geld zur Finanzierung dieser Vorhaben.

Immerhin hatte Ginzburg im März 1939 sein erstes Kontingent beisammen. Es umfaßte 280 Auswanderer, als deren Bestimmungsland der Reichszentrale augenzwinkernd Mexiko genannt wurde. Die 280 vereinigten sich mit einer von Moshe Auerbach organisierten Gruppe in Wien und gingen allesamt im jugoslawischen Hafen Susak an Bord der »Colorado«. Im Seegebiet um Korfu wurden die Einwanderer von einem anderen Mossad-Schiff, der »Otrato«, aufgenommen und nach Palästina gebracht.

Von Aktion zu Aktion liefen die Juden-Transporte des Mossad flüssiger, wurde die Zahl der Auswanderer größer. Im Sommer stach die »Colorado« mit weiteren 400 Einwanderern in See, kurz darauf folgte die von Holland startende »Dora« mit 500 Flüchtlingen.

England wehrte sich erbittert gegen die illegalen Einwanderer. Die britische Marineleitung verlegte eine Zerstörer -Flottille vor die Küste Palästinas und ordnete verstärkte Luftbeobachtung an, in den europäischen Küstenstädten wurden Vertrauensleute des britischen Geheimdienstes stationiert, um das Auslaufen von Auswandererschiffen zu meiden.

Englands Kolonialminister konnte unter den Buh-Rufen der Opposition manchen Sieg über die hilflosen Einwanderer melden. Am 21. Juli 1939 berichtete er im Unterhaus, britische Streitkräfte hätten innerhalb von zwei Monaten 3507 illegale Einwanderer gefaßt. Im Juni war die »Astir« mit 724 Juden aufgebracht worden, im August stoppte die Royal Navy fünf Schiffe mit 297 deutschen Juden, kurz darauf ein Schiff mit 800 Personen. Aber einige kamen durch, so Ende August die »Parita« mit 850 illegalen Einwanderern.

Je härter die britischen Behörden reagierten, desto hilfsbereiter gerierte sich Heydrichs Reichszentrale. Im Hochsommer genehmigte sie Ginzburg, seine Schiffe nach Emden und Hamburg zu dirigieren, damit die Auswanderer Deutschland auf direktem Wege verlassen konnten; für Oktober 1939 hatte Ginzburg bereits vier Schiffe gechartert, insgesamt sollten 10 000 Juden auf dem Direkt-Weg ausreisen.

Da setzte Adolf Hitlers Zweiter Weltkrieg der unfreiwilligen Partnerschaft zwischen SS und Zionisten ein Ende und machte die letzte große Chance zunichte, das deutsche Judentum zu retten.

Das bedeutete zugleich das Ende der autonomen Judenpolitik des SD. Nichts war dafür bezeichnender als die Tatsache, daß nun die Judenfrage in den alleinigen Kompetenzbereich jener Gestapo rückte, die politische Probleme nur mit der groben Einheits-Elle des polizeistaatlichen Denkens maß und noch starrer als der SD Menschen auf die Funktion beschränkte, jederzeit verfügbare Objekte der Staatsallmacht zu sein.

Die Männer der Gestapo waren befehlsgewohnte Beamte aus der Umerziehungsschule Reinhard Heydrichs, Zöglinge des Führerkults, die nicht selten durch dienstlichen Übereifer den Mangel an nationalsozialistischer Gläubigkeit kompensierten. Für sie war die Judenfrage einzig einSektorderStaatssicherheit, deren Grenzen und Erfordernisse die politische Führung bestimmte.

Dieses subalterne Denken hätte sich kaum treffender verkörpern können als in dem Hauptsturmführer Adolf Eichmann, der bald an die Spitze der Gestapo-eigenen Judenpolitik treten sollte.

IM NÄCHSTEN HEFT

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Waren die Täter ...

... auch die Urheber des größten Verbrechens der Geschichte?: Ausgebürgerte Juden vor Berliner Reisebüro. 1939

»Stürmer«-Herausgeber Streicher

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Judenboykott in Berlin: Glaube an das gute Blut

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... folgte eine Nacht der Schande: Grünspan-Opfer vom Rath

Zerstörte Synagoge in München (9. November 1938): Nach den ersten Morden ...

... ein gemeinsamer Theaterbesuch: Juden-Verfolger Hitler, Goebbels, Göring

Mossad-Agent Ginzburg

Zur Stärkung des Zionismus ...

Hagana-Führer Golomb

... ein Pakt mit dem Teufel

Illegale Landung jüdischer Einwanderer der »Parita« an der Palästina-Küste: Augenzwinkernd Mexiko genannt

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