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Artikel 14 / 57

Der Orden unter dem Totenkopf

Von Heinz Höhne
aus DER SPIEGEL 11/1967

21. Fortsetzung und Schluß Von der SS zur Hiag

Heinrich Himmler war tot, die Geschichte der Schutzstaffel hatte sich vollendet. Im Flammenrauch der braunen Götterdämmerung löste sieh der schwarze Orden auf, furchtbarstes Instrument und Gleichnis einer Epoche, die im Spiegelbild der SS offenbarte, wohin Machtrausch und Staatsomnipotenz, Personenkult und kritiklose Gläubigkeit die Menschen treiben können.

Nur wenige SS-Führer folgten dem Beispiel des Ordensmeisters und machten ihrem Leben ein Ende. Der Judenmörder Globocnik nahm Gift, der Reichsarzt-SS Grawitz jagte sieh und seine Familie in Berlin mit zwei Handgranaten in die Luft, der Höhere SS- und Polizeiführer Krüger legte an der Ostfront Hand an sich, und der HSSPF Prützmann entleibte sich unweit von Lüneburg.

Die Masse der SS-Männer aber zog in die Gefangenschaft, eitlem Schicksal ausgeliefert, das kein Verdammungsurteil und kein Freispruch lindern kann. Die unter ihrem Oberarm eintätowierte Blutgruppe wurde ihnen zum Verhängnis: Wie einst die SS ihren Opfern das Kainsmal der KZ-Nummer auf dem Arm eingebrannt hatte, so fiel sie jetzt selber der eigenen Brandmarkung anheim.

In den Holzbaracken und auf den Appellplätzen der alliierten Kriegsgefangenenlager aber eröffneten die Enttäuschten und Geschlagenen, die Trotzigen und Uneinsichtigen eine Debatte, die heute noch andauert und die Geister scheidet, weil in ihr die Frage eingeschlossen liegt, ohne deren eindeutige Beantwortung Deutschland nicht zur Ruhe kommen wird: wie die Nation mit ihrer jüngsten Vergangenheit und mit dem SS-Erbe fertig werden kann. Schuld und Sühne quälten damals manchen SS-Mann -- und die bohrende Frage, wie es hatte kommen können, daß junge Menschen mit Begeisterung und Hingabe zu gewissenlosen Werkzeugen der Gewalt geworden waren, zu Dienern eines pervertierten Treue- und Ehrbegriffs, der jedes Mitglied dieser Schutzstaffel zu einem sittlich wehrlosen Vollzugsfunktionär des Führerwillens gemacht hatte.

Gewiß, die meisten unter ihnen rechneten sich aus und fanden Entlastung von einer Kollektivschuld darin, daß allenfalls 50 000 von anderthalb Millionen SS-Männern an den beklemmenden Verbrechen teilgenommen hatten. Aber einige der Fragenden begnügten sich nicht mit dieser Antwort, sie forschten tiefer: Nein, in ihnen war etwas gewesen, was sie anfällig gemacht hatte für die Barbarei, für den vaterländisch und sozialistisch verschleierten Machtwahn entfesselter Kleinbürger.

Wie ein Film rollte vor ihnen noch einmal die Chronik der SS ab. Sie erzählte die Geschichte einer verlorenen Generation, aufgewachsen in dem schwarzen Pessimismus des antibürgerlichen Kulturekels und angelockt von einem Orden, der ihnen Erlebnis und Abenteuer einer urmännlichen Gemeinschaft verhieß -- im Dienste eines vorgeblichen Genies und seiner Idee.

Sie hatten sich willig anvertraut, weil sie glaubten, was man ihnen predigte: Volksgemeinschaft, Dienst für das Vaterland, eine neue soziale Ordnung. Und merkten gar nicht, wie der Orden vermeintlicher Elitemenschen von Stufe zu Stufe herabsank auf das Niveau einer Knüppelgarde, die keinen anderen Zweck mehr kannte als Handlangerdienste für einen haltlosen Diktator und dessen Clique.

»Haben wir in unserem Innersten nein gesagt, als nach München unsere Truppen ins Protektorat einmarschierten?« rief in einer Lager-Diskussion der ehemalige Untersturmführer Erich Kernmayr, der 1945 noch einen Blick für die »Entartung des Nationalsozialismus« hatte. »Haben wir damals, auch nur innerlich, nein gesagt? Nein, tausendmal nein ... Wir waren berauscht vom Machttraum. Er packt die Völker wie ein großer Rausch. Der Rausch von der Macht.«

Mancher war entschlossen, Konsequenzen zu ziehen. Der SS-Obergruppenführer Dr. Leonardo Conti, Reichsärzteführer der NSDAP, schnitt sich im Nürnberger Gefängnis die Pulsadern auf, weil ihn der Gedanke plagte, falsche Aussagen gemacht zu haben, und der SS-Obergruppenführer Herbert Backe, Darrés Nachfolger als Reichsernährungs- und -landwirtschaftsminister, schrieb vor seinem Selbstmord einen Brief an den ehemaligen Buchenwald-Häftling Eugen Kogon, in dem er um Vergebung dafür bat, daß er die Hungerrationen in den Konzentrationslagern verschuldet hatte.

Andere, längst dem Stacheldraht der Gefangenenlager entronnen, konnten sich der Schatten ihrer Vergangenheit nicht mehr erwehren. Fast klang es wie Erleichterung, als der SS-Sturmbannführer Wilhelm Greiffenberger, der Beihilfe zum Mord an 8000 Juden im Raum Wilna angeklagt, in seinem Schlußwort erklärte: »Ich drücke mich nicht vor der Verantwortung. Keine Strafe kann die seelische Qual und die Last der Verantwortung von mir nehmen.«

Indes, solche Zeugnisse der Läuterung blieben einsame Stimmen in einem Chor, der zusehends von den Klagerufen des falschen Selbstmitleids übertönt wurde. Denn die schüchterne Selbstkritik der Ehemaligen verkehrte sich jäh ins Gegenteil, als sich die SS-Männer dem konfrontiert sahen, was sich als Danaergeschenk für die deutsche Nachkriegsdemokratie erweisen sollte: der Kollektiv-Verdammung durch die Sieger.

Lange Zeit hatten sich die Alliierten nicht darüber einigen können, wie die Machtträger des NS-Regimes behandelt werden sollten. US-Präsident Franklin D. Roosevelt schlug summarische Exekutionen vor, Amerikas berühmtester Zeitungsverleger, Joseph Pulitzer, wollte 1,5 Millionen Nazis hingerichtet, der Kongreßabgeordnete Dewey Short alle SS-Männer erschossen wissen.

Die Sowjets »stimmten begeistert zu«, als ihnen US-Außenminister Cordell Hull, wie er sich erinnert, im Oktober 1943 erklärte, man müsse mit den Nazis »kurzen Prozeß« machen; nur Englands Außenminister Anthony Eden verlangte einen fairen Prozeß für die NS-Funktionäre. Allmählich konnten sich die Briten durchsetzen.

Eine in Moskau aufgesetzte »Erklärung über deutsche Grausamkeiten im besetzten Europa« kündigte am 1. November 1943 im Namen Englands, Amerikas und Sowjetrußlands an, nach dem Sieg würden deutsche Funktionäre zur Bestrafung in die Länder überstellt werden, »in denen ihre abscheulichen Taten begangen wurden«; hingegen sei die Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher Sache der Großen Drei.

Knapp zwei Jahre lang verhandelten die drei Mächte in London, bis sie sich über das große Strafgericht gegen die NS-Prominenz verständigt hatten. In dem Londoner Abkommen vom 8. August 1945 beschlossen die Großen Drei, ein Internationales Militär-Tribunal zu errichten, das in Nürnberg die 24 wichtigsten Führer Hitler-Deutschlands wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen wider die Menschlichkeit aburteilen sollte; Prozeß und Urteil in Nürnberg waren dazu ausersehen, eine Reihe weiterer Prozesse gegen NS-Führer zu eröffnen.

Die amerikanische Delegation bei den Londoner Drei-Mächte-Verhandlungen befürchtete, die Deutschen hätten allzu viele Dokumente zerstört und es sei mithin kaum möglich, die individuelle Schuld eines NS-Prominenten festzustellen. Die Amerikaner schlugen daher vor, in Nürnberg nicht nur einzelne Personen, sondern auch Organisationen für verbrecherisch zu erklären; fehle später bei einem Angeklagten der dokumentarische Beweis seiner Schuld, so könne man ihn wegen Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation verurteilen.

Die Londoner Konferenz akzeptierte das Prinzip der Kollektivschuld. Eine verhängnisvolle Entwicklung bahnte sich an: Die undifferenzierte Praxis der Kollektiv-Verdammung tötete in jenen SS-Männern, die zu Läuterung und Selbstbesinnung bereit waren, das Gefühl für individuelle Verantwortung ab und warf sie wieder mit der Masse uneinsichtiger SS-Männer zusammen.

Den amerikanischen Richtern gelang. was nicht einmal Himmler zustande gebracht hatte: den Mitgliedern der kollektiv angeklagten SS ein Gefühl der Gemeinsamkeit einzuhauchen. Unterschiedslos sah sich jetzt ein anständiger Soldat der Waffen-SS mit dem Folterknecht der Konzentrationslager angeklagt, stand der mit einem SS-Dienstgrad angeglichene Beamte der Ordnungspolizei gemeinsam mit dem Einsatzgruppen-Chef vor den Schranken alliierter Militärgerichte.

Die SS-Männer verfielen dem »automatischen Arrest«, den der amerikanische Generalstab am 26. April 1945 angeordnet hatte. Die Direktive JCS 1067/6 machte es der US-Besatzungsarmee zur Pflicht, ausnahmslos alle Mitglieder der Gestapo und des SD, sämtliche Angehörigen der Waffen-SS bis herunter zum Unterscharführer (Unteroffizier) und alle Polizeioffiziere vom Oberleutnant an zu verhaften und in Sonderlager zu überführen.

Die Richter des Internationalen Militär-Tribunals lieferten nach, was die amerikanische Generalstabs-Direktive vorweggenommen hatte. Am 30. September 1946 erklärten die IMT-Richter die SS zu einer verbrecherischen Organisation und hielten alle Personen des Verbrechens verdächtig, »die offiziell als Mitglieder in die SS aufgenommen waren ... und Kenntnis davon hatten. daß sie für die Begehung von Handlungen verwendet wurden, die ... für verbrecherisch erklärt sind«.

Im Besitze eines so pauschalen Verdammungsurteils, begannen die Sieger. gegenüber den Unterlegenen und Schuldigen Justiz zu üben. US-Brigadegeneral Telford Taylor. Chef der Abteilung für Nachfolge-Verfahren, stellte eine Liste mit 5000 deutschen Funktionären zusammen, die von amerikanischen Militärgerichten abgeurteilt werden sollten.

Zwar wurde die Abschußliste schließlich auf 200 Namen reduziert, gleichwohl rekrutierten sich die Angeklagten der insgesamt zwölf Nürnberger Nachfolge-Verfahren aus dem Führungskorps der Schutzstaffel. Schlag auf Schlag verurteilten die Militärrichter 56 der höchsten SS-Führer, darunter

> die prominentesten SS-Ärzte, die an den berüchtigten medizinischen Versuchen an KZ-Häftlingen teilgenommen hatten (sieben Todesurteile), > den Obergruppenführer Oswald Pohl und die oberste Bürokratie der Konzentrationslager (drei Todesurteile),

> den Ausland-SD-Chef Walter Schellenberg und den SS-Hauptamt-Chef Gottlob Berger (keine Todesurteile),

* Am 16. April 1947 im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz.

> den Inland-SD-Chef Otto Ohlendorf und die führenden Männer der Einsatzgruppen (14 Todesurteile).

Auch in anderen Teilen des besetzten Deutschlands richteten die Alliierten Führer und Mannschaften der SS. Amerikanische Militärgerichte in Dachau verhängten zwischen Herbst 1945 und Dezember 1947 insgesamt 420 Todesurteile, britische Militärgerichte schickten elf hohe KZ-Funktionäre, so den Bergen-Beizen-Kommandanten Josef Kramer, unter den Galgen, während ein sowjetisches Militärgericht die KZ-Schergen von Sachsenhausen verurteilte.

Schier pausenlos verließen alliierte Transporter das Land, um verhaftete SS-Führer den Sondergerichten der ehemals von den Deutschen besetzten Länder auszuliefern. Der HSSPF Hanns Rauter wurde in den Niederlanden hingerichtet, den HSSPF Karl Hermann Frank und den Eichmann-Vertrauten Dieter Wisliceny ereilte ihr Schicksal in der Tschechoslowakei, der SS-Ehrenführer Arthur Greiser, der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höfl und der Warschauer Getto-Liquidator Jürgen Stroop endeten an polnischen Galgen, der HSSPF Friedrich Jeckeln erlebte seine letzte Stunde im Rigaer Getto.

Wer dem alliierten Strafgericht entkam, wurde vom Automatismus der sogenannten Entnazifizierung erfaßt. Auch sie ging auf das Nürnberger Kollektivurteil zurück: Die von den Alliierten eingerichteten und kontrollierten, allerdings mit deutschem Personal besetzten Spruchkammern vereinigten wiederum, was einst in der SS auseinanderstrebte, die Mörder und die Soldaten, die Ehrgeizlinge und die Idealisten.

Die Offiziere der Waffen-SS bis zum Sturmbannführer hatten als »Hauptschuldige« von den Spruchkammern die gleiche Höchststrafe zu gewärtigen wie die Spitzenfunktionäre des Reichssicherheitshauptamtes, nämlich zehn Jahre Arbeitslager. Und in der Gruppe der »Belasteten« (Höchststrafe: fünf Jahre Arbeitslager) sah sich ein unpolitischer Kriminalkommissar nicht anders abgeurteilt als der einer Einsatzgruppe zugeteilte Polizeioffizier.

Eine derart undifferenzierte Behandlung der ehemaligen SS-Angehörigen konnte schwerlich den Prozeß der Selbstbesinnung fördern. Die Vermischung von Sieger-Justiz und notwendiger Vergangenheits-Bewältigung verhärtete die Gemüter selbst einsichtiger SS-Männer.

Besonders verhängnisvoll mußte sich auswirken, daß es alliierte Militärgerichte und deutsche Spruchkammern unterließen, einen sauberen Trennungsstrich zwischen Kriegsverbrechen und NS-Verbrechen zu ziehen. Die Vernichtung von Millionen Juden, der Mord an Hunderttausenden »unheilbarer Kranker« und die menschenfeindlichen Versuche in den Konzentrationslagern waren Verbrechen, die allein das NS-Regime verüben konnte; Kriegsverbrechen hingegen sind in der bestialisierten Form, die der moderne Krieg angenommen hat, nicht das Vorrecht einer Seite.

Gewiß, die Waffen-SS oder zumindest einige ihrer Einheiten hatten ungeheure Kriegsverbrechen verübt. Aber die alliierten Militärgerichte waren schwerlich dafür disponiert, die Kriegsverbrechen der anderen Seite unbefangen abzuurteilen. Allzu offenkundig erschien die Einäugigkeit ihrer Rechtsprechung:

> Am 29. Dezember 1945 verurteilte ein kanadisches Kriegsgericht in Aurich den SS-Brigadeführer und Generalmajor Kurt Meyer zum Tode, später zu lebenslänglicher Haft, weil es ihn der »Aufhetzung von Untergebenen zum Gefangenenmord« für schuldig hielt. Das Gericht konnte jedoch nie Meyers Verantwortung für die Erschießung von 41 kanadischen Kriegsgefangenen während der Invasionsschlacht im Sommer 1944 beweisen und ignorierte zudem, daß gleichzeitig deutsche Kriegsgefangene von Kanadiern erschossen worden waren.

> Am 16. Juli 1946 verurteilte ein US-Militärgericht in Dachau 43 Angehörige der Leibstandarte-SS »Adolf Hitler« zum Tode, weil sie an der Erschießung amerikanischer Kriegsgefangener während der Ardennen-Offensive Ende 1944 mitgewirkt hatten. Die angeblichen Geständnisse der Angeklagten waren jedoch mit Gestapo-ähnlichen Methoden erpreßt worden, die der amerikanische »Nationalrat für Kriegsverhütung« so detaillierte: »Schlagen und brutales Stoßen, Zähne ausschlagen und Kiefer brechen, Scheingerichtsverhandlungen, Torturen mit brennenden Spänen, Freispruch-Versprechungen.« > Am 31. Oktober 1951 verurteilte ein italienisches Militärgericht in Bologna den SS-Sturmbannführer Walter Reder zu lebenslänglicher Festungshaft, weil es ihn und seine Einheit für die bei Kämpfen 1944 entstandenen Verluste unter der Zivilbevölkerung der Stadt Marzabotto verantwortlich machte. Das Gericht behinderte die Verteidigung Reders und ließ unbeachtet, daß Reders Einheit zuvor von einer gefürchteten Partisanengruppe, der Brigade Stella Rossa (Roter Stern), in Kämpfe verwickelt worden war, bei denen allerdings viele Bewohner Marzabottos ums Leben kamen.

Das allzu schablonenhaft praktizierte Sieger-Recht förderte in den Angehörigen der SS eine Selbstgerechtigkeit, die gerne retouchiert, daß manches

* In Berlin-Pankow.

** Auf dem Friedhof in Celle (Niedersachsen).

Unrecht, das Soldaten der Waffen-SS durch Gerichte der Alliierten widerfuhr, in keinem Verhältnis zu den ungeheuerlichen Verbrechen stand, die einst von Männern in der Uniform der SS begangen worden waren. --

Das Bewußtsein persönlicher Verantwortung aber mußte vollends ersterben, als die westlichen Alliierten im Zeichen des Koreakrieges und der gewünschten Aufrüstung Westdeutschlands das Strafgericht gegen die Mitglieder des schwarzen Ordens ebenso hastig abbrachen, wie sie es eröffnet hatten.

Schon im April 1950 war in der Bundesrepublik ein amerikanischer Gnadenausschuß aufgetreten, der von Militärgerichten verhängte Urteile überprüfen sollte. Je lautstärker die deutsche Wiederaufrüstungs-Debatte wurde, desto weitherziger gerieten die Vorschläge und Revisions-Empfehlungen des Gnadengremiums.

Amerikas Hochkommissar John J. Mc-Cloy vollzog, was man offensichtlich in Washington wünschte. 1951 und 1952 entließ er 77 Verurteilte aus amerikanischer Haft, unter ihnen prominente SS-Führer wie Gottlob Berger, Walter Schellenberg und Heinz Jost, wandelte neun der insgesamt 14 Todesurteile des Ohlendorf-Prozesses in langjährige Haftstrafen um und ließ sich auch später bewegen, die Hafttermine der letzten Gefangenen (ihre Zahl war auf 50 zusammengeschrumpft) zu überprüfen.

Die Bonner Bundesprominenz raffte sich auf, die Entlassung verurteilter SS-Männer mit anerkennenden Reden zu begleiten. Selbst SPD-Chef Kurt Schumacher wollte wissen: »Die Waffen-SS ist als eine Art vierter Wehrmachtteil geführt worden und als Massenformation ... für Kriegszwecke geschaffen worden.«

»Ich weiß schon längst, daß die Soldaten der Waffen-SS anständige Leute waren«, rief Konrad Adenauer mit sicherem Blick auf das Reservoir der alten Soldaten. »Aber, solange wir nicht die Souveränität besitzen, geben die Sieger in dieser Frage allein den Ausschlag, so daß wir keine Handhabe besitzen, eine Rehabilitierung zu verlangen. Machen Sie einmal dem Ausland ... deutlich, daß die Waffen-SS keine Juden erschossen hat, sondern als hervorragende Soldaten von den Sowjets gefürchtet war!«

In solchen Sprüchen spiegelte sich freilich nicht nur die derbe Spekulation auf wahlpolitische Bundesgenossen für die hektische Wehrdebatte wider, die damals Westdeutschland spaltete; aus den Reden der Politiker klang auch die Erleichterung darüber, daß sich die Masse der SS-Männer von Versuchen einiger ihrer einstigen Führer fernhielt, im alten Geist weiterzumarschieren.

Es hatte nicht an Unternehmen gefehlt, die Ressentiments der Ehemaligen gegen die neue Demokratie mobil zu machen. Der SS-Sturmbannführer Franke-Gricksch stieß schon früh zur Sozialistischen Reichspartei, die später wegen ihres unverhüllt neonazistischen Kurses für verfassungswidrig erklärt und verboten wurde; 1947 flog eine Untergrundorganisation auf, die fast ausschließlich von ehemaligen SS-Führern geleitet wurde, so von dem Brigadeführer Heinz Kling und dem Obersturmbannführer Walter Teich.

Auch manche der illegalen Hilfsorganisationen, die flüchtige SS-Männer wie

* Mitte: Professor Carlo Schmid. den Judenliquidator Eichmann ins Ausland schleusten, starben an Auszehrung und mangelndem Interesse.

Ebenso verschlossen sich die 55-Heimkehrer den Lockrufen jener, die ins Ausland retiriert waren. Die ägyptische Geheimpolizei-Karriere des Standartenführers Leopold Gleim und die syrischen Abenteuer des Gruppenführers Fritz Katzmann, der 1953 im Bagdad-Damaskus-Expreß umkam, blieben Ausnahmen.

Willig gingen sie, begünstigt von den psychologischen Bedürfnissen des Kalten Krieges, in der neuen Gesellschaft der Bundesrepublik auf. Der Durchschnittsdeutsche war froh, nicht länger an die lästige Vergangenheit erinnert zu werden; da auch er Kriegs- von NS-Verbrechen kaum zu unterscheiden vermochte und ihm Verurteilungen durch alliierte Sieger-Gerichte oder Spruchkammern eher als Kavaliersdelikte erschienen, akzeptierte er den SS-Mann.

Die meisten der Ehemaligen dankten der Demokratie die Befreiung von der Kollektivschuld durch Loyalität und Eifer. Bald gab es keinen Bereich· des Staates oder der Wirtschaft, in dem nicht SS-Männer mitarbeiteten, bald keine Partei und keine Gewerkschaft, die nicht ehemalige Himmler-Jünger in ihren Reihen wußte. Dem -- Publizisten Joachim Besser erschienen sie schon 1954 als »Menschen wie wir alle. Viele haben umgelernt, viele bemühen sich noch, einige sind unbelehrbar«.

Manche wagten sieh sogar in exponierte Stellungen. Der ehemalige SD-Professor Reinhard Höhn übernahm die Leitung der in Bad Harzburg residierenden Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft, der einstige SS-Oberführer Franz A. Six verband sich den Porsche-Werken, der ehemalige SD-Referent Leopold von Mildenstein avancierte zum Public-Relations-Berater der Coca-Cola-Werke, der ehemalige Reichsbevollmächtigte Dr. Werner Best trat in die Firma Hugo Stinnes Persönlich ein.

Einige mochten auch nicht mehr den politischen Boden missen, auf dem sie schon einmal zum Verhängnis ihrer Nation agiert hatten. Der Höhere SS- und Polizeiführer a. D. Otto Winkelmann brachte es zum Kieler Ratsherrn der Christlich-Demokratischen Union, der SS-Gruppenführer und Polizeigeneral Heinz Reinefarth ließ sich zum Bürgermeister von Westerland und zum schleswig-holsteinischen Landtagsabgeordneten des BHE küren, SS-Oberführer Kohnert schwang sich zum Bundessprecher der Landsmannschaft Westpreußen auf.

Auch in die Führungsgremien demokratischer Parteien drangen Ehemalige vor. Der Sturmbannführer Derichsweiler wurde Generalsekretär der kurzlebigen Freien Volkspartei, und der Höhere SS- und Polizeiführer George Ebrecht, der gemeinsam mit dem Generalfeldmarschall Paulus gesamtdeutsche Offizierstagungen in Ost-Berlin abhielt, rückte in den bayrischen Landesvorstand der DFU auf.

Wen konnte es da verwundern, daß die einstigen Führer der Waffen-SS die Stunde der Wiederbewaffnung und der Neubelebung alter Soldatenvereine nutzten, um auch ihre Truppe vor der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. 1951 gründeten die SS-Generale Paul Hausser, Felix Steiner und Herbert Gille eine Vereinigung, die in kurzer Zeit zu der maßgeblichen Interessenvertretung ehemaliger Waffen-SS-Männer wurde: die »Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS«, kurz Hiag genannt.

Skeptikern und Kritikern konnten Hiag-Funktionäre entgegenhalten, daß die soziale und versorgungsrechtliche Lage der Waffen-SS-Soldaten eine Organisation wie die Hilfsgemeinschaft dringend erforderlich mache. Die rund 400 000 Waffen-SS-Veteranen in der Bundesrepublik mußten das Odium auf sich nehmen, eine »internationale faschistische Brigade« gewesen zu sein wie der Publizist Kurt Hirsch formulierte.

Davon wurden vor allem die Hinterbliebenen der 300 000 gefallenen SS-Soldaten und die noch lebenden Berufssoldaten der Waffen-SS arg getroffen. Auf Weisung der Militärregierungen verweigerte man den Kriegsversehrten und Hinterbliebenen Renten und Versorgungsbezüge, da man in der Waffen-SS nur einen Waffenträger der NS-Weltanschauung sah, dem der demokratische Staat keine Pensionen zahlen wollte.

Gegen diese einseitige Interpretation der Waffen-SS zog die Hiag zu Felde. Ihre Juristen konnten Bonns Gesetzgeber dazu bewegen, die Ausnahmebestimmungen zu revidieren. Schon das Bundesversorgungsgesetz von 1950 hatte allen Kriegsopfern, also auch denen aus den Reihen der Waffen-SS, die gleiche Versorgung zuerkannt, kurz darauf legte der Bundestag fest, die Waffen-SS habe nicht der Partei zugehört, sondern einen öffentlichen Dienst verrichtet.

Bonn ließ auch die SS-Berufssoldaten in den Genuß einer Sonderklausel des Bundesversorgungsgesetzes kommen wonach Angehörige des öffentlichen Dienstes, denen nach dem Gesetz keine Alters- und Hinterbliebenenversorgung zusteht, für ihre berufsmäßige Dienstzeit Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung beanspruchen können und als nachversichert gelten.

Der Bundestag konnte sich lange Zeit nicht entschließen, auch die Angehörigen der Verfügungstruppe (VT) Vorläuferin der Waffen-SS -- in die Nachversicherung einzubeziehen, weil die VT weit mehr als die Waffen-SS mit der übrigen Schutzstaffel und folglich mit der Partei verbunden gewesen war.

Diese ablehnende Haltung mußte manchen VT-Mann schwer treffen, der bei Übungen der Verfügungstruppe Opfer eines Unfalls und erwerbsunfähig geworden war; erst später wurden auch die Angehörigen der Verfügungstruppe nachversichert.

Der Not vieler SS-Soldaten nahm sich die Hiag mit einer Solidaritätsaktion an, in der sich der alte Korpsgeist der ehemaligen Waffen-SS wieder bewährte. Die Hiag gründete das »Sozialwerk Paul Hausser e. V.«, das die Lage der alten SS-Grenadiere linderte und manchem Veteranen wieder Mut machte.

Hätte sich die Hiag auf diese soziale Arbeit beschränkt, wäre schwerlich der Verdacht aufgekommen, hinter dem Suchdienst und der Kameradenhilfe der Hiag verberge sich eine Gruppe unbelehrbarer SS-Führer, die Heinrich Himmlers Schutzstaffel und die Gewaltpolitik der SS rechtfertigen wolle. Gewerkschaften, linke Sozialdemokraten und besorg-

* Auf dem Marsch zur Gefallenenehrung. Hinter den Kranzträgern (von rechts): Waffen-SS-Generale Gille und Steiner.

te Demokratie-Schützer wurden denn auch nicht müde, das Verbot der Hiag zu fordern.

Die regelmäßigen Zusammenkünfte der Hiag konnten zuweilen auch wohlmeinende Beobachter irritieren. Die wohldisziplinierten Marschkolonnen zivilgekleideter SS-Männer, denen nicht selten das alte Nazi-Kampflied »Das ist die schwarze Garde, die Adolf Hitler liebt« auf die Lippen trat, der demonstrative Applaus für rechtmäßig verurteilte SS-Führer wie Sepp Dietrich, manche Spektakelrede gegen Linksintellektuelle und 20.-Juli-Verräter« wirkten alarmierend.

Immer deutlicher wurde, daß im Schutze der groben Parolen des Antikommunismus alte, gleichsam nur aktualisierte SS-Schlagworte wieder auftauchten. Die Waffen-SS wurde von Hiag-Sprechern zu einer Vorläuferin der Nato-Streitkräfte umgefälscht, zu einer Truppe, die bereits »ein Miniatur- oder Zukunftsbild der Vereinigten Staaten von Europa« dargestellt und »in erster Linie der Abwehr des Bolschewismus« gedient habe, wie der Hiagnahe »Wiking-Ruf« schrieb.

Andere Heißsporne sahen überhaupt keinen Anlaß mehr, die Rolle der Waffen-SS in der nationalsozialistischen Diktatur selbstkritisch zu überprüfen, erhob doch der Erste Bundessprecher der Hiag allen Ernstes den Anspruch, »daß die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS die Korsettstangen der Bundeswehr sein müssen«.

Reporter notierten Stichworte aus den Reden einiger Hiag-Funktionäre: »Die politischen Prozesse in der Bundesrepublik dienen nur den Feinden der Einheit Deutschlands« (Hiag-Tagung, 21. September 1958). »Wohl keine andere Einheit hat so sehr Gott gesucht wie die Waffen-SS« (mag-Tagung in Olpe, November 1958). »Wir büßten für alles, was dieses geschlagene Volk zu büßen hatte, und büßten mehr. Wir gingen an die Arbeit und kauften, oft mit knirschenden Zähnen, dem Pack der Gewinnler, den Gleichgültigen, den Verhetzten und Vergeßlichen den Schneid ab« (Hiag-Tagung in Hameln, September 1959).

Solche Rhetorik offenbarte, wie sehr sich manche SS-Männer gegen jede Form des Umdenkens verstockt wehren. Die Integration der Ehemaligen in die neue Gesellschaft war gelungen, aber sie beschränkte sich, wie so vieles in dieser Republik, auf den materiellen Bereich; die Anpassung an die Demokratie drang nicht in tiefere Bewußtseinsschichten.

Die notwendige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit blieb den einstigen Gefolgsleuten Himmlers erspart, solange die populären Schlagworte des Antikommunismus eine Art bundesrepublikanische Volksgemeinschaft suggerierten, die Westdeutsche jeder Überprüfung vergangener Verhaltensweisen enthob, weil die Nation nur allzugern glauben mochte, an der Seite mächtiger Verbündeter den Anschluß an eine neue Ära deutscher Großmachtpolitik gefunden zu haben.

Als sich indes die Politik der Stärke, dieser Schein-Ersatz für den nicht gewonnenen Krieg, als eine Utopie erwies, da sah sich die Nation gleichsam jäh auf sich selber zurückgeworfen. Plötzlich brach auf, was der Kalte Krieg und die antikommunistischen Gemeinschaftsformeln überkleistert hatten: die Frage nach der eigenen Vergangenheit, die politische Selbstsäuberung, die unabdingbar ist, weil sie Maßstäbe für die Zukunft setzen muß.

Es war symptomatisch, daß die Lawine der bundesrepublikanischen NS-Prozesse, in denen sich jene Selbstsäuberung äußert, ausgelöst wurde, weil ehemalige SS-Führer allzusehr auf das Vergessen-Wollen ihrer bürgerlichen Umwelt bauten.

Der einstige SS-Oberführer Bernhard Fischer-Schweder, an Massenerschießungen litauischer Juden beteiligt, klagte als ehemaliger Polizeidirektor von Memel auf Wiederaufnahme in den Staatsdienst und inaugurierte damit unfreiwillig den ersten deutschen Einsatzgruppen-Prozeß, in dem er dann 1958 zu einer zehnjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde.

Der Himmler-Intimus Karl Wolff annoncierte in einer Illustrierten seine Taten im Dritten Reich und machte die Staatsanwälte neugierig. Ergebnis: 15 Jahre Zuchthaus wegen Beihilfe zum Judenmord.

Der SS-Reiterführer Franz Magill plauderte ungefragt ein Judenmassaker im Raum Pinsk aus und ritt damit den schillerndsten Offizier seines Regiments, den als alliierten Geheimagenten und Rüstungshändler gleichermaßen begabten Obersturmführer Hans-Walter Zech-Nenntwich herein. Folge: vier Jahre Zuchthaus.

Erst allmählich ging den Ehemaligen auf, daß die Staatsanwaltschaften mit der Verfolgung des staatspolitischen NS-Verbrechens und der Staat mit der Aufarbeitung der Vergangenheit Ernst machten. Die Erkenntnis traf manchen schwer, denn niemand hatte die ehemaligen SS-Männer auf die Vergangenheitsbewältigung vorbereitet.

Das galt besonders für die Hiag. Ihre Sprecher hatten offenbar bis dahin darauf gebaut, der Kalte Krieg werde den SS-Männern eine Brücke zimmern, über die sie schmerzlos in die Zukunft gelangen würden. Die immer härtere Debatte über das NS-Regime und seine Untaten aber konfrontierte die SS-Männer einer Gefahr, die sie mehr als alles andere fürchten: noch einmal, wie 1945, zum Paria der Nation zu werden.

Das mag auch der Mann gespürt haben, der sich 1959 an die Spitze der Hiag gestellt hatte. Mancher Demokrat war erschrocken, als er sah, wen sich die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit zum Ersten Sprecher erwählt hatte: den Brigadeführer Kurt Meyer, als »Panzermeyer« und Kommandeur der Division »Hitler-Jugend« einst Idol der Waffen-SS, der 1954 auf Fürsprache prominenter Kanadier und Deutscher aus der alliierten Haft entlassen worden war.

Die derbe Landsersprache Panzermeyers, offensichtlich noch dem Stil früherer NS-Schulungsbriefe verhaftet, schockierte die Kritiker. Selbst einer der wärmsten Meyer-Verteidiger, Pfarrer Herbert Ashford, war entsetzt, als er seinen Schützling in der Bundesrepublik wiedersah: »Ein unverbesserlicher Nazi. Ich habe einen Fehler, einen großen Fehler begangen, als ich für seine Freilassung eingetreten bin.«

Doch die Kritiker irrten. Panzermeyer beteiligte sich zwar an manchem Ausfall gegen Demokraten und wurde auch gern von der Zeitschrift »Kampftrupppen« traditionalistischer Bundeswehroffiziere als beispielhafter Soldat gefeiert, aber allmählich erkannte er, daß die alten Klischees die SS-Männer in die Isolierung und in eine neue Kollektiv-Verdammung treiben würden. Der Hiag-Sprecher, inzwischen zum Verkaufsleiter der Andreas-Brauerei in Hagen-Haspe avanciert, setzte eine vorsichtige Absetzbewegung von der Vergangenheit in Szene.

Meyer: »Extremisten wollen das ewige Gesetz vom rollenden Rad der Geschichte nicht wahrhaben. Sie leben noch im Gestern und jagen nationalen Träumen nach ... Soviel sollten gewisse Träumer eigentlich mitbekommen haben, um zu wissen, daß man heute keinen jungen Menschen mehr mit nationalen Phrasen formen und erziehen kann, die erbärmlich, verlogen und heuchlerisch auf eine Jugend wirken, die heute noch unter den Auswirkungen des letzten Krieges leidet.«

Diese Sprache hatte man in der Hiag noch nicht gehört. Die SS-Männer in den rauchigen Hiag-Versammlungen ließen sich Meyers Abrechnung mit der Vergangenheit gefallen, denn sie wurde vorgetragen mit der Autorität des ehemaligen Kommandeurs, der keinen Widerspruch duldet, und mit der unverwechselbaren Sprache des alten Landsers.

* Auf einem Hiag-Treffen in Augsburg, 1959.

Er suchte und gewann die Mitarbeit namhafter Sozialdemokraten, die Panzermeyer ermunterten. Er erklärte, die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS müßten sich der »Untat von Oradour schämen«, er distanzierte sich von Nazi-Verbrechen: »Wir haben nichts damit zu tun, aber wir dürfen diese grausige Wahrheit nie leugnen!«

Panzermeyer fand Mitarbeiter, die anfingen, ebenfalls Vergangenheitskritik zu üben. Die Hiag-Ortsgruppe von Groß-Gerau wollte sich mit politisch und rassisch Verfolgten zu einer gemeinsamen Aussprache treffen, der schleswig-holsteinische Hiag-Sprecher Willy Schäfer bekundete, »daß wir Scham über die Verbrechen in jenen Tagen empfinden. Dort, wo das Verbrechen beginnt, hört für uns grundsätzlich die Kameradschaft auf«.

»Ein gutes, ja erlösendes Wort«, fand der »Sozialdemokratische Pressedienst«, auch »Christ und Welt« hörte »neue Töne«. Kurt Meyer hat sie nicht mehr lange gehört. Er starb 1961 an seinem 51. Geburtstag und hinterließ eine Frage, die heute noch nicht endgültig zu beantworten ist.

Einsichtsvolle Hiag-Funktionäre wie der Bundessprecher Enseling ("Hinrichtungsschergen und Mordschützen haben in der Hiag keinen Platz") oder der Hamburger Sturmbannführer a. D. Karl Heinz Augustin setzen die Arbeit Panzermeyers fort, aber ebenso unverkennbar ist, daß die Vergangenheitsbewältigung der Hiag ihren Schwung schon wieder verloren hat. Noch weiß mancher Hiag-Funktionär nicht, daß allein die eindeutige Stellungnahme zu dem Unrecht deutscher Vergangenheit den ehemaligen SS-Mann zum vollgültigen Mitglied der demokratischen Gesellschaft machen wird.

Schon wieder will der Oberstgruppenführer Hausser die »einseitige« Scham über die Massenverbrechen des Nationalsozialismus abgelehnt und den Untaten der anderen gegenübergestellt wissen. Schon wieder diffamiert der Hingeigene »Freiwillige« jeden als Feind der deutsch-französischen Verständigung, der an das Massaker von Oradour zu erinnern wagt, provozieren instinktlose Hiag-Funktionäre Münchner Demokraten mit dem Anspruch, ausgerechnet im Bürgerbräukeller eine Kundgebung der ehemaligen Waffen-SS abhalten zu wollen.

»Wo das Verbrechen beginnt, hört die Kameradschaft auf.« Eine beherzigenswerte Erkenntnis, aber Taten sind diesen Worten nicht gefolgt. Noch zählt die Hiag ungerührt Waffen-SS-Generale wie den einstigen KZ-Schergen Theodor Eiche zu den verdienten Kommandeuren, noch läßt sie ungeprüft, wer von ihren Mitgliedern einst in den KZ-bewachenden Totenkopfverbänden diente, noch fehlt die große Hiag-Dokumentation, in der sich die ehemaligen Waffen-SS-Männer von den Verbrechen und Verfehlungen ihrer Kameraden distanzieren -- distanzieren um der eigenen Ehre willen.

Solange aber die Hiag nicht eindeutig Stellung bezieht und durch konkrete Taten ihr Abrücken von einer düsteren Vergangenheit dokumentiert, werden Heinrich Himmlers schwarze Scharen dort bleiben, wo sie schon Kurt Meyer 1961 ausmachte: im »Wartezimmer der Demokratie«. Ende

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