Sie trugen eine schwarze Uniform und waren der Schrecken Europas. Sie führten den Totenkopf an ihrer Mütze und schworen dem Führer ewige Treue. Sie folgten der doppelten Sigrune und beförderten Millionen von Menschen zum Tode.
Kaum ein Lebensbereich der Nation schien vor ihrem Zugriff sicher: Sie kommandierten Polizei und Geheimdienste. Sie bewachten Reichskanzlei und Konzentrationslager. Und sie beherrschten das undurchdringlichste Wirtschaftsimperium Deutschlands.
Sie nannten sich Schutzstaffel (SS) der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei und fühlten sich, wie SS -Hauptsturmführer Dieter Wisliceny formulierte, als »eine neue Art religiöser Sekte, mit eigenen Formen und (eigenem) Brauchtum«.
Die Geheimsekte der SS ließ keinen Unbefugten in das Innere ihrer Organisation blicken; die Schutzstaffel der Führerdiktatur sollte ein Mysterium bleiben, dem Staatsbürger unheimlich und unbegreiflich, gleich dem legendären Jesuitenorden, den die SS offiziell bekämpfte und doch bis in kleinste Details kopierte.
Die Herren des schwarzen Geheimordens pflegten bewußt den Schreckenseffekt ihrer Existenz. »Geheime Staatspolizei, Kriminalpolizei und Sicherheitsdienst sind umwoben von raunendem und flüsterndem Geheimnis des politischen Kriminalromans«, schwärmte SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich.
Und der Großmeister des Ordens, Reichsführer SS Heinrich Himmler, bekannte nicht ohne Wohlbehagen: »Ich weiß, daß es manche Leute in Deutschland gibt, denen es schlecht wird, wenn sie diesen schwarzen Rock sehen; wir haben Verständnis dafür und erwarten nicht, daß wir von allzu vielen geliebt werden.«
Das Volk spürte, daß die unheimliche Organisation ein engmaschiges Netz über das Reich geworfen hatte, aber sehen konnte es die SS-Maschen nicht. Die Deutschen hörten nur den Marschtritt schwarzer Kolonnen, der über das Pflaster der Städte und Dörfer knallte, hörten nur das Lied der Schutzstaffel:
SS marschiert, die Straße frei!
Die Sturmkolonnen stehen! Sie werden aus der Tyrannei
Den Weg zur Freiheit gehen.
Drum auf, bereit zum letzten Stoß!
Wie's unsere Väter waren! Der Tod sei unser Kampfgenoß!
Wir sind die schwarzen Scharen.
Fast unsichtbar waren die tausend und aber tausend Augen, die jeden Schritt der Deutschen beobachteten:
- Rund 45 000 Beamte und Angestellte
der Gestapo registrierten in 20 Leitstellen und 39 Stellen regimefeindliche Regungen.
- 30 Höhere SS- und Polizeiführer
wachten an der Spitze von 65 000 Mann Sicherheitspolizei und 2,8 Millionen Mann Ordnungspolizei über die Staatssicherheit.
- 40 000 Wachmänner terrorisierten
Millionen angebliche oder tatsächliche Regimegegner in 20 Konzentrationslagern und 160 angeschlossenen Arbeitslagern.
- Insgesamt standen 950 000 Soldaten
der Waffen-SS, davon 310 000 Volksdeutsche aus allen Teilen Europas und 200 000 Ausländer, an der Seite der Wehrmacht.
Pausenlos kontrollierte das Schattenheer der 100 000 Informanten des Sicherheitsdienstes (SD) das Denken der Bürger. In Universitäten und in Betrieben, auf Bauernhöfen und in Behörden wurde jedes wissenswerte Detail aufgesogen.
Aber nie durfte ein Wort an die Öffentlichkeit dringen, das die Arbeitsmethoden der schwarzen Scharen verriet; was im Reiche Heinrich Himmlers gedacht wurde, durfte nicht preisgegeben werden.
Erst die braune Götterdämmerung zerriß den Vorhang vor dem Reiche des schwarzen Ordens: Auf den Anklagebänken der Nürnberger Militärgerichte des alliierten Sieger-Quartetts erschienen die Männer, die jahrelang die Schutzstaffel kommandiert hatten, angeklagt der Vorbereitung des Krieges und schier unvorstellbarer Verbrechen.
Die Militärgerichte der Alliierten protokollierten, was der Vorhang des SS -Imperiums sorgfältig verhüllt hatte. Aus den Aussagen der Zeugen und aus den Beweisstücken der Anklage formierte sich das Bild eines apokalyptischen Rassenwahns, entstand die grausige Geschichte der SS.
Die Bilanz des Schreckens: vier bis fünf Millionen Juden ermordet, 2,7 Millionen Polen liquidiert, 520 000 Zigeuner umgebracht, 473 000 russische Kriegsgefangene exekutiert, 100 000 unheilbar Kranke in Verfolg des Euthanasieprogramms vergast.
Am 30. September 1946 brachen die Richter der Alliierten den Stab über Himmlers SS und erklärten sie zu einer verbrecherischen Organisation. Des Verbrechens verdächtig, so hieß es im Urteil, seien alle Personen, »die offiziell als Mitglieder in die SS aufgenommen waren ... Mitglied der Organisation wurden oder blieben und Kenntnis davon hatten, daß sie für die Begehung von Handlungen verwendet wurden, die laut Artikel 6 des (Londoner Kriegsverbrechen-) Statuts für verbrecherisch erklärt sind«.
Der Nürnberger Urteilsspruch stempelte die Sigrunen der SS zu Kainszeichen politischen Verbrechertums; sie hafteten von nun an jedem an, der jemals die Uniform des schwarzen Ordens getragen hatte. Aus der Schutzstaffel, einst Sammelbecken einer vermeintlichen Elite, wurde die »Armee der Geächteten«, wie sie der SS-General Steiner voller Selbstmitleid nennt.
Das Verdikt der Alliierten hatte freilich eine arge Schwäche: Es erklärte nicht, warum fast eine Million Menschen kollektiv und gleichsam über Nacht zu Massenmördern geworden sein sollten; es erklärte nicht, woher die SS die Macht genommen hatte, den Rassenwahn des NS-Regimes in schaurige Tat umzusetzen.
Die ehemaligen SS-Männer wollten und konnten das Rätsel nicht entschlüsseln. Sie retteten sich in Ausflüchte, wollten von nichts gewußt haben und schoben die Verantwortung stets Kameraden zu, die tot waren.
Aber aus dem Todesdunst der Gaskammern von Auschwitz und Maidanek, aus den zerbrochenen Folterwerkstätten von Dachau und Buchenwald war ein
Haufen ausgemergelter Gestalten hervorgekrochen. Die Überlebenden des schwarzen Terrors offerierten der Nation eine Erklärung des Rätsels SS:
Die SS sei eine monolithische, von einem dämonischen Willen angetriebene Organisation fanatischer Ideologen und gewissensfreier Herrschaftsfunktionäre gewesen, die allmählich alle Machtpositionen im Dritten Reich erobert habe, um schließlich zu errichten, was den ehemaligen Buchenwald-Häftling und heutigen Politologie-Professor Eugen Kogon der »SS-Staat« dünkt, das »durch und durch organisierte, in allen Teilen und jederzeit beherrschbare Herren- und Sklavensystem« der SS.
Analytiker Kogon stellte sich in seinem Bestseller »Der SS-Staat« die Führer des schwarzen Ordens als eine einheitliche Clique vor, die »zu allem entschlossen war: Folgerichtig wurde von Stufe zu Stufe geplant, jedes Teilziel mit unerbittlicher, normale Vorstellungen ganz und gar sprengender Härte angestrebt«. So sei das »wohlausgebaute Gefüge« des SS-Staates entstanden, »das zuerst die Partei, dann Deutschland, dann Europa durchsetzte«. Mit anderen Worten: Die Konzentrationslager seien ein »Hohlmodell« des SS-Staates, die SS die wahre Herrscherin gewesen.
Eugen Kogon hatte damit eine griffige These formuliert, die zum ersten Mal das Phänomen SS verständlich zu machen schien. »Einen Kogon müssen wir wohl ernst nehmen«, schrieb selbst der SS-Führer Otto Ohlendorf 1948 in seiner Todeszelle.
Wo freilich der Professor noch kleine Vorbehalte und winzige Zwischentöne anbrachte, da pinselten nun gröbere Geister das düstere Kolossalgemälde von Allmacht und Alleinherrschaft der SS.
Der britische Historiker Gerald Reitlinger bewertete Himmlers Imperium als »Staat im Staate, der nur mit der russischen NKWD verglichen werden« könne, und der französische Schriftsteller Joseph Kessel erblickte ganz Europa unter dem Marschstiefel der SS: »Vom Eismeer bis zum Mittelmeer, vom Atlantik bis zu Wolga und Kaukasus - alle lagen ihm (Himmler) zu Füßen.«
Je größer aber die Macht wurde, die in- und ausländische Chronisten der SS beimaßen, desto greller gerieten die Porträts der SS-Männer, desto maskenhafter verzerrten sich die Gesichtszüge der schwarzen Herrenmenschen.
»In den Augen der SS-Männer mit ihrem Fischglanz und der Unlebendigkeit des fehlenden Seelenlebens war etwas Gemeinsames«, fand der ehemalige Sachsenhausen-Häftling Rudolf Pechel, Herausgeber der »Deutschen Rundschau«, und traute sich die Kunst zu, einen SD-Spitzel »am Augenausdruck schon zu erkennen«.
Kogon entdeckte in den SS-Männern »Tiefunzufriedene, Nichterfolgreiche, durch irgendwelche Umstände Zurückgesetzte, Minderbegabte aller Art«. Bei unteren Gestapo-Chargen sah er »eine Fülle frisch hereingenommener verkrachter Existenzen«, im Informantenheer des SD fand sich nach seiner Meinung »an Abschaum alles zusammen, was Adel, Bürgertum, Angestellten - und Arbeiterschaft abzugeben hatten«.
Ließ die Kraft abwertender Adjektive nach, dann bemühten die SS -Staats-Theoretiker die Zauberformel moderner Psychoanalyse. Der ehemalige Auschwitz-Häftling Elie A. Cohen dozierte: »Die SS-Männer bestanden, von Ausnahmen abgesehen, aus normalen Menschen, die dank ihres verbrecherischen Über-Ichs zu normalen Verbrechern geworden waren.«
Der Psychologe Leo Alexander deutete sogar die SS als eine ganz gewöhnliche Gangsterbande, die sich als Gruppe so benommen habe, wie sich Verbrechercliquen stets aufzuführen pflegten.
So grotesker Übertreibungen, so bizarrer Formulierungen bedurfte es, ehe ein paar Aufgeweckte begriffen, daß an dem herkömmlichen Schreckensbild der SS etwas nicht stimmen konnte. Die terrible simplificateurs waren Opfer eines menschlich verständlichen, historiographisch aber bedenklichen Versuchs geworden: Sie hatten die Lager-SS - die KZ-Wächter - mit der Gesamt-SS verwechselt.
Schon 1954 bezweifelte der deutschamerikanische Publizist Karl O. Paetel in einer soziologischen Studie, ob die SS kollektiv abgewertet werden könne. In der SS, so Paetel, habe es »nicht nur
einen Menschentyp« gegeben: »Es gab Verbrecher und Idealisten, Dummköpfe und Männer von intellektuellem Rang.«
Die Doktorandin Ermenhild Neusüß -Hunkel erläuterte in ihrer 1956 veröffentlichten Arbeit »Die SS": Die Funktionsunterschiede zwischen den zahlreichen Gliederungen des Himmler -Apparates ließen »eine eindeutige Beurteilung der gesamten SS-Mitgliedschaft im Sinne eines Kollektivs nicht zu«.
Zudem bedingte das Studium der inzwischen von den Alliierten wieder freigegebenen SS-Akten weitere Korrekturen an dem Nachkriegsbild der SS. Vor allem Kogons Buch geriet ins Zwielicht. Die Akten entblößten eine seltsame Unsicherheit des Professors in Daten, Zahlen und Personalien, soweit sie nicht dem unmittelbaren Erlebnisbereich Kogons, dem KZ Buchenwald, entstammten.
Schon früher war aufgefallen, daß sich der Darmstädter Politologe bei jeder Auflage seines Buches verbessern mußte:
Der Kripo-Chef Arthur Nebe wandelte sich von »einem der unbekanntesten, aber erbarmungslosesten Funktionäre des SS-Apparates« (Erste Auflage) in einen Widerstandsmann, der »von Anfang an schwere Gewissenskämpfe durchlebt« habe (Zweite Auflage), die imaginären SD-Oberabschnitte in der Kriegszeit (Erste Auflage) verschwanden wieder, und aus der (fiktiven) Bezeichnung SD-Amt V leitete Kogon nicht mehr das Schlagwort von der »Fünften Kolonne« ab.
Aber auch die letzte Auflage des Kogon-Buches spiegelt noch immer recht ungenaue Detailkenntnisse wider. Kogon nennt ein fünfstufiges Mitarbeitersystem des Sicherheitsdienstes, das kein SD-Mann kennt. Er läßt die »Rächer Röhms« 155 SS-Führer ermorden, die auf keiner Totenliste figurieren. Er gibt an, die Abteilung I des Geheimen Staatspolizei-Amts habe keinen eigenen Chef besessen, und weiß nicht, daß der angeblich nicht vorhandene Chef noch bei guter Gesundheit ist.
Seine historiographische Großzügigkeit kennt kaum Grenzen: Er unterstellt den bewaffneten SS-Einheiten des Jahres 1936 etwa 190 000 Mann mehr als die Truppe tatsächlich besaß (rund 15 000 Mann), er ernennt irrtümlich den Gruppenführer Pohl zum Chef des SS -Hauptamts und hält ahnungslos das Führungshauptamt, das Kommando-Organ der Waffen-SS, für eine Art politische Zentrale des gesamten SS-Imperiums.
Doch merkwürdig: Sosehr auch einzelne Fachhistoriker das gängige Bild der SS korrigierten - die Deutschen nahmen kaum Notiz davon. Denn die Arbeit der seriöseren Geschichtsschreiber drohte das Alibi einer Nation zu zerstören: das Dogma der SS-Allmacht.
Die Enthüllungen über die Massenverbrechen der SS hatten die Deutschen zugleich entsetzt und erleichtert: entsetzt, weil sie den Namen des Vaterlandes in der Welt auf Jahrzehnte hinaus beschmutzten, erleichtert aber deshalb, weil die Kunde von der Schreckensmacht des schwarzen Ordens zumindest der älteren Generation einen schmalen Ausweg aus der unbewältigten Vergangenheit eröffnete.
War die SS - so ließ sich räsonieren - wirklich allmächtig, hatte sie das
Land allein in eisernem Griff gehalten, dann wäre es in der Tat für die Bürger des Dritten Reiches schierer Selbstmord gewesen, die Politik des braunen Regimes zu kritisieren oder sich gar den Untaten des Nazistaates aktiv entgegenzustemmen.
Die Aufklärung über die SS-Verbrechen kam den Deutschen der Hitler-Ära gar nicht unwillkommen: Die Greuel waren das große Alibi, die Entschuldigung vor sich und vor der Welt.
Himmlers Schergenkorps schien dazu verurteilt, das Versagen vieler Deutscher im Dritten Reich zu entschuldigen. Schon 1946 in Nürnberg hatte OKW-Verteidiger Laternser die Parole ausgegeben, die SS-Führer seien ohnehin des Todes, daher müßten sie alles auf sich nehmen - der Schild der Wehrmacht müsse rein bleiben.
Als später aus amerikanischen Veröffentlichungen bekanntwurde, auch Himmler habe eine Zeitlang mit den Verschwörern des 20. Juli 1944 geliebäugelt, da beschwor der Historiker Hans Rothfels seine deutschen Kollegen, sie sollten sich hüten, diesem Thema »zuviel Gewicht beizulegen": »Es gibt in Wahrheit kein Kapitel 'Himmler' in der Geschichte der deutschen Untergrundbewegung!«
Für die Masse der deutschen Historiker blieb das Thema SS tabu. Kein Werk über die Schutzstaffel verriet, was die Erben Rankes und Treitschkes über die schauerlichste Organisation denken, die Deutsche je erfanden.
Erst allmählich konnten unkonventionelle, meist jüngere Historiker gegen den Strom der Gleichgültigkeit und Kollektivurteile anschwimmen.
Der Jerusalemer Prozeß gegen Eichmann und die folgende Welle bundesdeutscher Verfahren gegen die Schergen und Schreibtischtäter der Schutzstaffel verstärkten das Interesse deutschsprachiger Zeitgeschichtler an der SS. Allmählich begannen die Simplifikationen abzubröckeln.
Die nach Amerika emigrierte Soziologin Hannah Arendt machte den Anfang. 1963 erschien ihr Buch »Eichmann in Jerusalem«, in dem es zum ersten Mal gelang, einem SS-Führer individuelle, menschlich glaubwürdige Gesichtszüge zu verleihen.
Im selben Jahr zeigte der deutsche Junghistoriker Enno Georg am Beispiel der wirtschaftlichen SS-Unternehmen, wie verschiedenartig die Elemente gewesen waren, die sich unter den Sigrunen zusammengefunden hatten.
Kurz darauf attackierten die Historiker des Münchner Instituts für Zeitgeschichte mit Hans Buchheims wegweisender Arbeit »SS und Polizei im NS-Staat« und der zweibändigen »Anatomie des SS-Staates« die - so im Vorwort - »emotionale 'Vergangenheitsbewältigung', die es, um einige höhere Wahrheiten wirkungsvoll darzustellen, mit der Wirklichkeit der geschichtlichen Fakten nicht sonderlich genau nimmt«.
Und aus der Ferne assistierte der gebürtige Wiener George H. Stein, außerordentlicher Professor für Geschichte an der New Yorker Columbia-Universität, mit der ersten Chronik der Waffen-SS, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.
US-Professor Stein zog die Bilanz: »Die Doktrin verbrecherischer Verschwörung und Kollektivschuld, die in der Nürnberger Ära formuliert wurde, befriedigt die ernsthaften Forscher
nicht mehr. Ohne das Ausmaß der beklemmenden Verbrechen von Himmlers Gefolgsleuten zu verkleinern, haben die letzten Untersuchungen erbracht, daß die SS tatsächlich differenzierter und komplexer war als jene monolithische Verbrecherorganisation, die auf der Anklagebank des internationalen Militärtribunals saß.«
Allerdings: Die Forscher stecken noch in den Anfängen ihrer Arbeit. Noch können sie sich nicht gänzlich von dem Trugbild eines SS-Staats lösen, noch glauben manche von ihnen mit Karl O. Paetel, das Dritte Reich habe (zumindest in der Schlußphase) »auf vier Augen: Adolf Hitler und Heinrich Himmler« gestanden.
Viele Historiker haben zu lange Zeit einer irrigen Konzeption des Dritten Reiches gehuldigt, als daß sie sich nun schnell von einer Lieblingsvorstellung lösen können, in der die SS die Rolle des einzig maßgeblichen und unangefochtenen Instruments der NS-Diktatur spielte.
Man stellte sich das Dritte Reich als einen totalitären Staat vor, »durch und durch organisiert« (Kogon), gleichsam fugenlos jeden einzelnen Staatsbürger erfassend und einem einheitlich-zentralen Willen unterwerfend. Die Nationalsozialisten schienen einen uralten Traum der Deutschen verwirklicht zu haben: den starken Staat, in dem nur ein Wille galt, der Wille des Führers, in dem nur eine politische Weltanschauung maßgeblich war, die Weltanschauung der NSDAP, in dem nur eine Ordnungsmacht herrschte, die SS-Polizei.
Der Traum vom starken Staat blieb eine Halluzination. Das Dritte Reich war kein totalitärer Staat, wohl aber dessen Karikatur.
Total war im nationalsozialistischen Deutschland nur der Wille Hitlers, der mit sogenannten Führer-Erlassen und Führer-Befehlen ein 80-Millionen-Volk regierte. Soweit die Absichten des Führers formuliert und dekretiert wurden, besaß auch die SS als das wichtigste Instrument der Führerdiktatur absolute Macht.
In den Augen der SS hatte aber der launenhafte Führer einen Fehler: Nicht immer gab er in Befehlen kund, was er wollte, nicht jeder Lebensbereich des Staates wurde von Führerbefehlen gedeckt. Da das Reichskabinett nicht mehr tagte und Hitler in seinem Führerhauptquartier den Ministern immer ferner rückte, waren oft die Objekte der Führerbefehle Produkte des Zufalls.
Zudem, gehörte es zu Hitlers Führungskunst, das Zentrum politischer Macht in den Reihen der engsten Mitarbeiter ständig zu verlagern, um das Aufkommen von Rivalen zu verhindern.
Ein ungeschriebenes Gesetz der Führerdiktatur besagte, nirgends dürfe eine staatliche oder gesetzliche Struktur entstehen, die Hitlers Bewegungsfreiheit einenge. Nicht monolithische Einheit bestimmte das NS-Regime, sondern die »Anarchie der Vollmachten«, wie es der enttäuschte Rechtswahrer der Partei, Hans Frank, nannte.
Hitler wollte an keine Hierarchie gebunden sein, deshalb delegierte er seine Aufträge an möglichst viele kleine Hierarchen. Ein mehr instinktives als ausgeklügeltes Verfahren der Multiplikation verhinderte, daß einer der Unterführer sich mit einem Rivalen gegen Hitler verschwören konnte.
Es entstand ein seltsames System »dauernder Selbstbehinderung« (Hannah Arendt): Die Einschaltung vieler Machtträger für die Lösung der gleichen Aufgabe sicherte dem Diktator jegliche Unabhängigkeit gegenüber den Unterführern, zugleich aber wurde der Staat zum Schauplatz eines Kompetenzkrieges, der die Leistungsfähigkeit der staatlichen Maschinerie stärker lähmte als der von den Nazis verachtete Parteienkampf in demokratischen Staaten.
In diesem »Durcheinander von privaten Reichen, privaten Armeen, privaten Spionagediensten« (so der britische Historiker Trevor-Roper) war kein Platz für eine Monopolstellung der SS. Wo die Dekrete Hitlers ausblieben, da fiel die SS als eine Organisation unter vielen in die Reihen der Machtgruppen zurück, die unterhalb der obersten Führerebene um den stärksten Einfluß rangen.
Führte die SS nicht unmittelbare Befehle Hitlers aus, fehlte ihr also der schützende Mantel Hitlerscher Autorität, dann mußte sich Himmler mit den anderen Hierarchen arrangieren.
Die SS war gezwungen, in dem rechtfreien Raum zu agieren, der sich jenseits klar definierter Führerbefehle eröffnete. Dort hatte aber nicht die Oberhand, wer der gläubigere Nationalsozialist war, sondern nur, wer die stärkere Hausmacht, das größere persönliche Gewicht besaß. Auch dies war der Wille des Führers: Der jahrelange Cliquen - und Richtungsstreit in der NSDAP hatte sich auf den Staat verlagert - der Streit der anderen garantierte Hitler die unangefochtene Stellung.
Und wie die Feudalfürsten vergangener Jahrhunderte, so koalierten, zerstritten und versöhnten sich wieder die Satrapen Hitlers. Sie schlossen förmliche Bündnisse untereinander:
1936 handelte die Sicherheitspolizei mit der Abwehr ein zehn Punkte umfassendes Abkommen aus, das als der Vertrag der »Zehn Gebote« in die Geschichte eingegangen ist; AA-Chef von Ribbentrop erkaufte sich durch Hereinnahme einiger SS-Führer ins Ministerium eine kurze Feuerpause im Kampf zwischen SS und Auswärtigem Amt, und der Ostminister Rosenberg paktierte mit dem SS-Gruppenführer Berger, um sich vor den Intrigen des ihm formell unterstellten Ukraine -Reichskommissars Koch zu schützen.
Die SS mußte sich im Gestrüpp dieser Machtkämpfe so mühsam voranarbeiten, daß sie kaum Zeit und Kraft fand, die Alleinherrschaft in Deutschland an sich zu reißen. Gewiß, sie eroberte eine Machtposition nach der anderen, aber sie konnte zwei Mächte nicht überwältigen: die Partei und die Wehrmacht.
Ohnmächtig mußte sie dulden, daß Partei, Arbeitsfront und SA auf die geheimen Vertrauensmänner des SD Jagd machten, als handle es sich um die Agenten einer feindlichen Macht, ohnmächtig mußte sie das Verbot der SD eigenen »Meldungen aus dem Reich« hinnehmen.
Mochten auch immer mehr SS-Uniformen in der engsten Umgebung Hitlers auftauchen - das latente Mißtrauen des Diktators hielt die SS von der letzten entscheidenden Machtposition des Staates fern.
Hitler ließ die SS-Führer fühlen, daß sie seine Handlanger waren. Die Polizei des neuen Deutschland sei ebenso schlecht wie die des alten, mäkelte er, und als sich die SS wider seinen Willen in die deutsche Rumänienpolitik einmischte, schrie Hitler, die »schwarze Pest« werde er noch einmal »ausradieren«. Den Reichsführer SS, den stets ein Gefühl stiller Panik überkam, wenn ihn der Chef rief, behandelte Hitler selten anders denn als fleißigen, aber nicht sonderlich intelligenten Lehrjungen. Nie sah er in ihm seinen Nachfolger. Im März 1945 begründete er, warum: Himmler werde von der Partei abgelehnt, zudem sei er ein völlig amusischer Mensch.
Freilich, zu den Spielregeln dieses Kampfes aller gegen alle gehörte, daß sich der SS nur entgegenstellen durfte, wer starke Bataillone auf seiner Seite wußte. Eine völlig hilflose Menschengruppe aber gab es im Reiche Adolf Hitlers, über die sich keine schützende Hand erhob: die Juden.
Sie wurden eine leichte Beute für die Konzentrationslager und Vernichtungsöfen der SS, für sie nahm keiner der Regime-Hierarchen Partei.
Hier, und nur hier, wird der Stacheldrahtzaun des einzigen SS-Staates sichtbar, den es wirklich gegeben hat: die abgeschlossene Welt des KZ. Die Insassen dieser Lager Himmlers waren echte Sklaven, einem unentrinnbaren Fatum ausgeliefert.
Und doch enthält das Kapitel Judenausrottung eine bisher selten erzählte Geschichte: Einzelne Männer im braunen Parteihemd, alte Nazis, Prominente der SS und Verbündete des Dritten Reiches fielen Himmlers Todesmaschine ins Räderwerk.
Da war der Exgauleiter Kube, Generalkommissar in Weißruthenien, der Polizeioffiziere wegen Ausschreitungen gegen Juden anzuzeigen drohte, die zur Vernichtung nach Minsk transportierten Juden unter seinen Schutz stellte und einen Ein-Mann-Feldzug gegen SS und SD führte.
Da war der SS-Obergruppenführer Dr. Werner Best, der das Judenmord -Programm seines Reichsführers sabotierte und Tausende dänischer Juden ins neutrale Schweden entkommen ließ.
Da war der deutschbaltische Masseur Felix Kersten, Himmlers Leibarzt ("mein einziger Freund, mein Buddha"), der im Innersten der SS-Zentrale mit jedem Griff seiner Hände, die den Reichsführer von Magenschmerzen befreiten, jüdisches Leben rettete.
Gerade das Verhalten des Werner Best legt nahe, daß eine weitere Voraussetzung der SS-Staat-These nicht zutreffen kann: Die SS war nie eine monolithische Organisation.
Die Geschichte des Dritten Reiches kennt keine Parteiformation, die innerlich widersprüchlicher und heterogener war als die SS. Kaum ein Spitzenfunktionär, der nicht mit einem anderen Spitzenfunktionär verkracht war, kaum eine Frage praktischer Politik, in der zwei hohe SS-Führer übereinstimmten.
Himmler warf dem SS-Gruppenführer Reeder vor, er sabotiere die germanische SS-Politik in Holland, der Gruppenführer Berger beschuldigte SS -Führer, sie besorgten die Geschäfte der katholischen Kirche.
Ohlendorf machte sich über Himmlers Blut-und-Boden-Romantik lustig, Reichssicherheitshauptamt und Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt stritten darüber, ob man Juden ermorden oder als Arbeitssklaven erhalten solle, und die Gestapo schoß sowjetische Überläufer nieder, mit denen der SD gerade eine russische Gegen-Armee aufstellen wollte.
Bizarr, widersinnig, aller Logik fern - das war die Welt der Schutzstaffel. Bizarr und widersinnig, wenn auch scheinbar logisch, waren die Deutungen, die bisher offeriert wurden, um das Phänomen SS zu deuten. Die wahre Geschichte der SS aber ist die Geschichte einer Organisation, die nicht durch dämonische Planmäßigkeit, sondern durch Zufälle und Automatismen vorangetrieben wurde. Es ist die Geschichte von Idealisten und Verbrechern, von Ehrgeizlingen und Romantikern. Es ist die Geschichte eines Männerordens, wie er phantastischer nicht gedacht werden kann.
Die Geschichte beginnt, wo auch die Chronik der nationalsozialistischen Bewegung einsetzt, in dem tumultösen Nachkriegs-Frühling des Jahres 1919. Denn: Die Schutzstaffel ist das Produkt eines Geburtsfehlers, der dem Nationalsozialismus von Beginn anhaftete.
Unfreiwilliger Geburtshelfer der NS -Bewegung in jenen Tagen, da Freikorps und Reichswehr die roten Räteherren Bayerns vertrieben hatten, war der Münchner Historiker Karl Alexander von Müller. Er hielt engen Kontakt zu den jungen, nationalistischen Offizieren, die damals Münchens Szene beherrschten. Bei einem Vortrag vor Soldaten fiel dem Professor von Müller ein Mann durch eine seltsam mitreißende Beredsamkeit auf. »Ich sah«, erzählt er, »ein bleiches, mageres Gesicht unter einer unsoldatisch hereinhängenden Haarsträhne, mit kurzgeschnittenem Schnurrbart und auffällig großen, hellblauen, fanatisch kalt aufglänzenden Augen.« Müller stieß seinen neben ihm sitzenden Schulfreund Mayr an: »Weißt du, daß du einen rednerischen Naturtenor unter deinen Ausbildern hast?«
Karl Mayr, Hauptmann im Generalstab und Leiter der für Presse und Propaganda zuständigen Abteilung Ib/P im Reichswehrgruppenkommando 4 (Bayern), identifizierte den Mann: »Das ist der Hitler vom List-Regiment. Sie, Hitler, kommen S' einmal raus da!«
Und der Gerufene, so Müller, »kam gehorsam, mit linkischen Bewegungen, wie mir schien in einer Art trotziger Verlegenheit": Die Szene symbolisierte die Abhängigkeit Adolf Hitlers von den Offizieren der bayrischen Reichswehr und eine Unterordnung, die der künftige Führer des Großdeutschen Reiches jahrelang nicht überwinden konnte.
Polit-Hauptmann Mayr erkannte schnell das propagandistische Talent des Gefreiten Hitler. Ab Sommer 1919 führte Mayrs Abteilung im Hause des bayrischen Kriegsministeriums in Münchens Schönfeldstraße eine Geheimliste über die Vertrauensmänner bei den Einheiten, auf der auch die Eintragung stand: »Hittler, Adolf«. Wo immer der Hauptmann Mayr die ideologische Front bedroht sah, stand V-Mann Hitler bereit, den letzten Einsatz zu wagen.
Mayr beschloß, seinen Konfidenten für größere Ziele einzusetzen. Da er auch die politischen Parteien Bayerns überwachen ließ, schickte er Hitler im September 1919 zu den Versammlungen der Deutschen Arbeiter-Partei (DAP), einem Haufen nationalistischer Sektierer, die neben dem Haß auf Juden und Republik einem kleinbürgerlichen Gefühlssozialismus ("Brechung der Zinsknechtschaft") frönten.
Der Sendbote der Militärs wurde schnell zum Star-Redner der DAP -Kundgebungen und deklamierte zungenschnell bedächtigere Konkurrenten
unter die Bierbänke. Im Januar 1920 wählte die 64-Mann-Partei Hitler zum Propagandachef, akzeptierte das von ihm mitredigierte Parteiprogramm und nannte sich später Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei.
Da rückte an die Stelle des in Pension gegangenen Mayr ein kleiner Mann mit eingedrückter Nase und rasiertem Schädel, dessen zerschossenes, gerötetes Gesicht verriet, welcher brisante Tatendrang ihn beherrschte: Hauptmann Ernst Röhm.
Er war eine seltsame Mischung aus Scharnhorst und bajuwarischem Gschaftlhuber, in ihm brannte das Feuer eines unstillbaren Verschwörergelüsts, und doch galt der Homoerotiker bei seinen Kameraden als ein ehrlicher Haudegen, grob, aller geistigen Verfeinerung abhold, dabei ausgestattet mit der singulären Gabe echter Zivilcourage.
Ernst Röhm wußte manches Konträre in sich zu vereinigen: Der überzeugte bayrische Monarchist, ehemaliger Kompanieführer im 10. Bayerischen Infanterie-Regiment (Inhaber: König Ludwig III.), wollte dem 1918 gestürzten Monarchen »meinen Eid bis zu seinem Tode halten«, und doch sah er in Bayern nur eine »Ordnungszelle«, die von den nationalistischen Kräften gestärkt werden müsse, damit das Sündenbabel der Revolution, Berlin, im Sturm genommen werden könne.
Hauptmann Röhm, Stabschef des Münchner Stadtkommandanten und später Ib (Bewaffnung und Ausrüstung) im Stab der Schützenbrigade 21, hatte Order, in Bayern eine zweite, eine »schwarze« Reichswehr aufzubauen, um das abgerüstete Heer zu verstärken.
Er experimentierte zunächst mit der rechtsbürgerlichen Einwohnerwehr des bayrischen Forstrats Escherich, nach deren Verbot durch die Reichsregierung aber liierte sich Röhm immer mehr mit dem NSDAP-Werber Hitler, in dem er den einzigen sah, der den Militärs die notwendigen Massen zuführen könne.
Während der österreichische Agitator loszog und von Bierlokal zu Bierlokal die Menge der Kleinbürger und Inflationsopfer gegen die »Novemberverbrecher« aufpeitschte, stellte Röhm die ersten Rollkommandos zusammen, die das kostbare Leben des Trommlers beschützen sollten. Soldaten der Minenwerferkompanie 19 unter Hauptmann Streck knüppelten jeden nieder, der die Versammlungen der NSDAP störte.
Aus den Soldaten wurde ein Ordnungsdienst der Partei, aus dem Ordnungsdienst die Turn- und Sportabteilung und aus ihr schließlich jene Organisation, ohne die keine NS-Bewegung denkbar gewesen wäre: die Sturmabteilung, abgekürzt SA.
Röhm hatte die ersten Mannschaften ausgewählt, er suchte nun auch die ersten Führer für die SA. Er fand sie in dem Überbleibsel der II. Marinebrigade des rechtsradikalen Kapitäns Hermann Ehrhardt, das sich in München den Namen »Organisation Consul« (OC) zugelegt hatte.
-Leutnant Johann Ulrich Klintzsch, Helfer beim Mordkomplott gegen den Zentrumspolitiker Erzberger, übernahm Ausbildung und Leitung der SA, Kapitänleutnant Hoffmann wurde Stabschef, der wegen Beteiligung am Erzberger-Mord gesuchte Kapitänleutnant von Killinger stieß später auch dazu, und nur notdürftig wurde das Kampflied der Mariner umgeändert - die »Brigade Ehrhardt« verwandelte sich in eine »Sturmabteilung Hitler":
Hakenkreuz am Stahlhelm,
schwarzweißrotes Band,
Sturmabteilung Hitler
werden wir genannt.
Am 3. August 1921 versprachen sie im Gründungsaufruf der SA, »als eiserne Organisation« der NSDAP zu dienen und »freudigen Gehorsam gegenüber dem Führer« zu üben. Doch Hitler bekam bald zu spüren, daß er in der SA ein Fremder war. Nicht er bestimmte den Marschtritt, Röhms und Ehrhardts Offiziere gaben die Befehle.
Hitler sah in der SA vor allem ein Instrument politischer Propaganda, eine Kolonne, die Wahlplakate klebte,
in Saalschlachten den Schlagring führte und durch Aufmärsche autoritätsgläubige Deutsche beeindruckte. Die Führer der SA wollten dagegen ihre Mannschaft als echte militärische Truppe aufgefaßt sehen.
Hitler witterte instinktiv, daß sich in der Partei eine Macht formierte, die fremden Befehlen gehorchte. Der ehemalige Oberstleutnant Kriebel, ein Kampfgefährte Röhms, verlangte schroff: »Die Politiker haben den Mund zu halten.«
Hier deutete sich bereits der Konflikt an, der die braune Bewegung später bis zum Ende Röhms immer wieder ramponierte: der mörderische Streit zwischen SA und politischer Führung. Hitler sah schon früh die Gefahr, die heraufzog. Er umgab sich mit einer Leibwache, die ihn von dem Druck der unbotmäßigen SA-Offiziere befreien sollte.
Im März 1923 entstand, was sich später als eine Urzelle der SS erwies: Ein paar alte Kämpfer schworen, Hitler unter Einsatz ihres Lebens gegen alle äußeren und inneren Feinde zu schützen, und nannten sich »Stabswache«.
Zum ersten Mal tauchte das Schwarz der späteren SS auf. Die Gardisten legten sich Kennzeichen zu, durch die sie sich von der SA unterschieden: Zu feldgrauen Waffenröcken trugen sie schwarze Skimützen mit einer silbernen Totenkopfnadel und schwarzumrandete Hakenkreuzarmbinden.
Der Trupp hatte freilich kein langes Leben. Als Kapitän Ehrhardt zwei Monate später seine Verbindungen zu Hitler kappte und die Ehrhardt-Offiziere aus der SA abrief, formierte Hitler eine neue Garde. Ihr gab er seinen Namen: »Stoßtrupp Adolf Hitler«.
Unter Führung des fast zwergenhaften Schreibwarenhändlers Joseph Berchtold, des zweiten Kassierers der NSDAP, und des SA-Mannes Julius Schreck trafen sich die Stoßtrüppler regelmäßig im Münchner Lokal »Torbräu« am Isartor. In der Kegelbahn besprach man die ersten Einsätze.
Die Stoßtrüppler entstammten einem anderen soziologischen Bereich der Partei als die Sendboten Ehrhardts und Röhms. Sie kamen meist aus dem
Kleinbürger- und Arbeiterturn Münchens und trugen allenfalls den Rang eines Reserveleutnants.
Ulrich Graf, erster und wichtigster Leibwächter Hitlers, war Metzger und hatte sich in Amateur-Ringkämpfen Ruhm erworben, der Uhrmacher und Hitler-Duzfreund Emil Maurice stand im Strafregister, und der ehemalige Pferdehändler Christian Weber verdiente sich im Münchner »Donisl« als Rausschmeißer ein bescheidenes Handgeld. Sie alle aber band zusammen, was als ihre vordringlichste Aufgabe galt: das Leben Hitlers und anderer NS-Führer zu schützen.
Wo immer es Hitler verlangte, da kotzten sie mit ihren »Radiergummis« und »Feuerzeugen« (wie sie Gummiknüppel und Pistolen nannten) dazwischen, um den Führer vor lästigen Gegnern zu bewahren. Noch 1942 schwärmte Hitler von den »Männern, die zu revolutionären Taten bereit waren und wußten, daß es eines Tages hart auf hart gehen würde«.
Der Tag kam im November 1923. Hitler versuchte in München, mit seinen völkischen Verbündeten die Macht an sich zu reißen und Bayerns reaktionäre Regierung unter dem Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr zum Staatsstreich gegen das »rote« Berlin aufzuputschen.
In den Abendstunden des 8. November trommelte Hitler die 50 Männer seines Stoßtrupps zusammen, dann war es soweit: Er zog einen schwarzen Gehrock hervor, heftete sich das Eiserne Kreuz Erster Klasse an und fuhr los. Gegen 20 Uhr stand er am Eingang des Bürgerbräukellers, in dem Kahr und seine Freunde tagten.
45 Minuten später schleppte Stoßtrupp-Führer Berchtold ein Maschinengewehr herbei und postierte es am Lokaleingang. Just in diesem Augenblick drängte Hitler mit seinen Leibwächtern in den überfüllten Bürgerbräukeller, zog eine Pistole hervor und schoß in die Luft.
Bayerns überrumpelte Militärs und Politiker ließen den Besessenen gewähren und erklärten sich bereit, mit Hitler zu paktieren. Doch am nächsten Tag machte Kahr seine Truppen gegen den Naziführer mobil und sagte sich von Hitler wieder los.
Der Stratege des Putsches rettete sich in einer Verzweiflungstat auf die Straße. In den Mittagsstunden des 9. November marschierte Hitler mit seinen Gefolgsleuten und Verbündeten in Achterreihen durch die schmale Residenzstraße, um den von Regierungstruppen eingekreisten Röhm zu befreien. Sie stießen am Odeonsplatz auf 100 Mann Landespolizei, die - auf den Stufen der Feldherrnhalle postiert - den Zug stoppten.
Als die Putschisten dennoch weitermarschieren wollten, schob sich eine zweite Einheit von Landespolizisten dazwischen. Hitler und der zu ihm gestoßene General Ludendorff gingen bleich Schritt um Schritt. Hitler-Gardist Graf sprang vor die Gewehrmündungen und schrie: »Nicht schießen! Exzellenz Ludendorff und Hitler kommen!«
Da krachten die Salven der Polizisten. 16 Nationalsozialisten, unter ihnen auch Mitglieder des Stoßtrupps, und drei Polizisten kamen ums Leben, nahezu alle Führer der Nazibewegung wurden verhaftet. Stoßtrupp-Führer Berchtold floh ins Ausland.
Die Wahnsinnstat Adolf Hitlers zerstörte die NSDAP. Parteiorganisation, SA und Stoßtrupp wurden verboten; was übrigblieb, war ein Haufen streitender Nazis. Nur der unermüdliche Ernst Röhm, aus dem Heer ausgeschieden und nach kurzer Haft auf Bewährung freigelassen, glaubte an die Fortsetzung der alten Arbeit. Er gründete aus der Erbmasse der SA eine neue und nannte sie »Frontbann«.
Mit dem Frontbann gelang es Röhm zum ersten Mal, außerhalb Bayerns Nationalsozialisten für sich und den Braunauer zu gewinnen. Hitlers Bewegung war bis zum Novemberputsch kaum über die Stadtgrenze Münchens hinausgedrungen, jetzt liefen die Überlebenden alter Freikorps und die führerlosen Nationalsozialisten Norddeutschlands dem Frontbann zu.
Höchstens 2000 Mann hatte Hitlers SA in ihrer Glanzzeit unter Waffen gehabt - Röhm konnte jetzt seinem Freund in der Landsberger Zelle 30 000 Frontbann-Mitglieder melden. Doch Hitler beschlich ein leises Unbehagen, als er das wachsende Heer des Hauptmanns erblickte.
Hitler, im Dezember 1924 freigelassen, wollte nie wieder eine unabhängige SA nach der Art der Ehrhardtschen Truppe dulden, Röhm aber hielt hartnäckig daran fest, der Parteimann dürfe dem Soldaten nicht dreinreden, Hitler habe der Trommler der Wehrverbände zu bleiben.
Röhm spürte nicht, daß Hitler längst einen Entschluß gefaßt hatte: die SA nicht eher erstehen zu lassen, bis er sicher sein konnte, daß ihm nie wieder Fremde in brauner Uniform das Gesetz des Handelns aufnötigen könnten. Hitler trennte sich von Röhm.
Die Geburtsstunde der Schutzstaffel (SS) rückte heran. Was die alte SA Röhmscher und Ehrhardtscher Prägung zu leisten nicht bereit gewesen war, sollte nun die SS bewirken: dem Führer, wo immer er war, Autorität in der Partei zu sichern, jeden Augenblick Hitlers Befehle blindlings auszuführen.
»Ich sagte mir damals«, so hat Hitler später die Entstehung der SS beschrieben, »daß ich eine Leibwache brauchte, die, wenn sie auch klein war, mir bedingungslos ergeben wäre und sogar gegen ihre eigenen Brüder marschieren würde. Lieber nur 20 Mann aus einer Stadt - unter der Bedingung, daß man sich absolut auf sie verlassen konnte -, als eine unzuverlässige Masse.«
Das braune Parteivolk freilich bekam eine andere Version über die Gründung der SS vorgesetzt. Die Version stand später in jeder Schulungsfibel des Dritten Reiches: Da die SA noch immer verboten gewesen sei, habe sich die im Februar 1925 neugegründete Partei eine Selbstschutzorganisation zulegen müssen, um sich des wachsenden Terrors politischer Gegner zu erwehren.
Verschwiegen wurde dabei, daß Hitler absichtlich den Neuaufbau der SA hinauszögerte; das SA-Verbot galt keineswegs in allen deutschen Ländern, im Gegenteil: Vor allem in Nord- und Westdeutschland wuchs die SA mächtig an, jedoch ohne sich dem noch recht umstrittenen Münchner Parteiführer zu unterstellen.
Hitler wollte die Zeit für den Aufbau seiner eigenen Leibgarde nutzen. Im April 1925 gab er dem alten Stoßtrupp -Mitglied Julius Schreck die Order, eine neue Stabswache aufzustellen. Ein paar Wochen später wurde diese Stabswache umbenannt: in »Schutzstaffel«.
Am Anfang waren sie acht Mann. Fast alle kamen aus dem Stoßtrupp Hitler: Schreck, Maurice, Graf, Weber, der Drogist Julius Schaub und der ehemalige Ehrhardt-Leutnant Erhard Heiden. Sie trugen auch die alte Stoßtrupp-Uniform, nur war an die Stelle der feldgrauen Bluse das inzwischen parteiamtliche Braunhemd mit schwarzem Binder getreten.
SS-Führer Schreck ging daran, auch in anderen Städten Staffeln zu gründen. Am 21. September 1925 schickte er ein »Rundschreiben Nr. 1« ab, in dem er alle Ortsgruppen der NSDAP aufforderte, Schutzstaffeln zu gründen. Sie sollten kleine, schlagkräftige Elitegruppen bleiben, allenfalls ein Führer und zehn Mann stark; nur Berlin wurden zwei Führer und 20 Mann zugestanden.
Schreck wachte darüber, daß allein ausgesuchte Leute in die SS kamen, die den Nazis als Elitemenschen erschienen: Nur stämmige Gestalten, so meinten die SS-Gründer, würden als Saalschützer auf NS-Kundgebungen die politischen Gegner in Schach halten. Rastlos warb Schreck für die »Zusammenfassung der besten und zuverlässigsten Parteimitglieder zum Schutze und zur selbstlosesten, unermüdlichsten Arbeit für die Bewegung« und nannte in einer Notiz als SS-Aufgaben: »Versammlungen zu schützen, Werbung von Abonnenten und Inserenten für den Völkischen Beobachter, Werbung von Mitgliedern für die Partei«.
Und Parteigenosse Alois Rosenwink, eigentlicher Organisator der als Zentrale eingerichteten SS-Oberleitung, drohte: »Auf unseren schwarzen Mützen tragen wir den Totenkopf unseren Feinden zur Warnung und unserem Führer zum Zeichen des Einsatzes unseres Lebens für seine Idee.«
Die ersten Erfolgsmeldungen liefen ein: In Dresden hatten SS-Männer eine Nazikundgebung vor einem Sprengversuch durch 50 Kommunisten bewahrt, und in Sachsen - so Rapporteur Rosenwink - »wagt es kein Marxist mehr, unsere Versammlungen zu stören, seitdem in Chemnitz, im Marmorpalast, die vereinigten Schutzstaffeln von Dresden, Plauen, Zwickau und Chemnitz die Kommunisten nicht nur furchtbar verprügelten, sondern zum Teil auch noch zum Fenster hinauswarfen«.
Schon Weihnachten 1925 registrierte die SS-Oberleitung, daß »wir eine einheitlich organisierte Schutzorganisation von beinahe 1000 Mann zur Verfügung haben«. Die Zahl der echten SS-Männer sank zwar schnell wieder auf 200 herab, dennoch hatte die SS fest Position bezogen.
Im April 1926 kehrte der alte Stoßtrupp-Führer Berchtold aus dem österreichischen Exil zurück und übernahm an Stelle Schrecks die Oberleitung. Nach der Rückkehr des Novemberputschisten konnte Hitler auch vor aller Öffentlichkeit die Schutzstaffel zu seiner Eliteorganisation erheben: Auf dem zweiten Reichsparteitag in Weimar, am 4. Juli 1926, verlieh Hitler der SS die »Blutfahne«, jenes Tuch, das am 9. November 1923 den Achterreihen in der Residenzstraße vorangeflattert war.
Die SS stand und wuchs - jetzt konnte Hitler daran gehen, es ein zweites Mal mit der SA zu wagen. Er wußte nur zu gut, daß er des Transmissionsriemens eines Massenheeres bedurfte, der allein ihn im Deutschland der Parteiarmeen und politischen Marschkolonnen an die Macht befördern konnte.
Aber noch standen die SA-Führer außerhalb Bayerns dem Österreicher Hitler mißtrauisch gegenüber. Hitler mußte einen Mann finden, der ihm den Kontakt zu den vielen verstreuten SA -Gruppen verschaffte. Er fand ihn in dem Freikorpsführer und ehemaligen Hauptmann Franz Pfeffer von Salomon.
Hitler mußte dem Freikorpsmann allerdings beträchtliche Vollmachten einräumen: Mit Wirkung vom 1. November 1926 wurden Pfeffer als »Oberster SA-Führer« (OSAF) alle Sturmabteilungen Deutschlands unterstellt; er war zwar gehalten, grundsätzlich Weisungen des Parteichefs Hitler auszuführen, durfte aber die SA-Organisation nach Gutdünken aufbauen.
Dennoch erschien Hitler die Allianz mit den außerbayrischen Nationalsozialisten als ein so großer Erfolg, daß er auch eine leichte äußere Machteinbuße seiner SS in Kauf nahm. Die SS wurde dem OSAF ebenfalls unterstellt, ihr Führer erhielt nur ein mageres Trostpflaster: Oberleiter Berchtold durfte sich hinfort Reichsführer SS nennen.
Er verlor bald die Lust und überließ seinen Posten dem Stellvertreter Heiden. Nur mit äußerster Mühe konnte sich die SS gegen die massivere SA behaupten, verbot ihr doch OSAF Pfeffer sogar, Schutzstaffeln in Städten aufzustellen, in denen die SA noch nicht stark genug vertreten war.
Die Schutzstaffel durfte nur zehn Prozent der SA-Stärke in jeder Gemeinde erreichen; sie wuchs denn auch bis 1928 auf klägliche 280 Mann an. Oft genug mußten sich die Elitemenschen der SS von SA-Führern herumkommandieren lassen, mußten Tagesbefehle austragen, Propagandamaterial verteilen, die Parteizeitung »Völkischer Beobachter« verkaufen.
Nur der Glaube an die eigene Auserwähltheit ließ sie weitermarschieren. Die SS wurde zu einem stummen Begleiter der braunen Marschkolonnen - genaue Dienstanweisungen besagten, der SS-Mann dürfe sich in Versammlungen nicht an Diskussionen beteiligen, nicht rauchen und Kundgebungen nicht vor deren Ende verlassen.
Jeder Zoll ihrer Erscheinung sollte demonstrieren, daß die SS ein Adel der Partei sei. »Der SS-Mann ist das vorbildlichste Parteimitglied, das sich denken läßt«, hieß es in einer SS-Weisung, und auch in ihrem Staffellied, das jede Zusammenkunft der SS beschließen mußte, sollte der fanatische Glaube an das Sendungsbewußtsein der Schutzstaffel durchklingen: Wenn alte untreu werden,
So bleiben wir doch treu,
Daß immer noch auf Erden,
Für Euch ein Fähnlein sei.
»Die SA ist die Linie, die SS ist die Garde«, trotzte einer von ihnen. »Immer hat es eine Garde gegeben, bei den Persern, bei den Griechen, bei Cäsar, bei Napoleon, beim Alten Fritz, bis zum Weltkrieg, und die Garde des neuen Deutschland wird die SS sein.«
Der Sprecher war entschlossen, die SS an die Spitze der Partei zu schieben. Von da an war die Geschichte der SS seine Geschichte, die Chronik ihrer Taten seine Chronik, war die Liste ihrer Verbrechen die Liste seiner Verbrechen. Am 6. Januar 1929 berief ihn Hitler als Reichsführer an die Spitze der SS. Sein Name: Heinrich Himmler.
IM NÄCHSTEN HEFT:
Himmler alarmiert einen Privatdetektiv - Student Himmler will sich duellieren - Er findet einen Ersatzgott: Hitler - Als Hühnerzüchter gescheitert
SS-Leibstandarte vor der Reichskanzlei (1938): Sündenbock der Nation?
Angeklagte SS-Führer*: Von der Elite des Reiches zur Armee der Geächteten
Kogon
Hannah Arendt
Pechel
Ermenhild Neusüß-Hunkel
Reitlinger
Buchheim
Internationale SS-Forscher
Kollektivurteil korrigiert
Spähtrupp der Waffen-SS (1941): »Auch Cäsar hatte eine Garde«
Einsatzgruppe im Osten
»Für verbrecherisch erklärt«
Reiter der Allgemeinen SS
»Bereit zum letzten Stoß«
KZ-Wächter, Opfer in Buchenwald: »Im SS-Staat das perfekte Sklavensystem«
SA-Gründer Hauptmann Röhm (1924)
Die Vorherrschaft der Offiziere ...
... durch Leibwächter gebrochen: SS-Vorläufer »Stoßtrupp Hitler« (1923)*
NS-Putsch in München*: »Nicht schießen! Exzellenz Ludendorff und Hitler kommen!«
Parteichef Hitler, erste SS-Leibwächter mit Hundepeitschen*: Notfalls mit 20 Mann ...
Hitler-Anhanger Himmler (1924)
... gegen die eigenen Brüder
* Waffen-SS-Generale Sepp Dietrich (11), Fritz Kraemer (33) und Hermann Prieß (45) vor einem US-Militärgericht in Dachau 1946.
* Oberste Reihe erster von links: Stoßtrupp -Führer Berchtold; oberste Reihe erster von rechts: SA-Führer Pfeffer von Salomon.
* Gemälde »Der 9. November 1923« des Chemnitzer Malers Arthur Wirth.
* Links: Schaub, Schreck; rechts: Maurer, Schneider.