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Artikel 16 / 80

Der Orden unter dem Totenkopf

Von Heinz Höhne
aus DER SPIEGEL 45/1966

3. Fortsetzung

Des Führers treuer Paladin schlug Alarm: SA - Obergruppenführer Viktor Lutze hastete von einer Dienststelle zur anderen, begierig, ein hochbrisantes Geheimnis preiszugeben. An der Tafel seines Chefs Ernst Röhm hatte ihn der Verdacht durchzuckt, maßgebliche Männer der SA hegten gefährliche Pläne wider Adolf Hitler.

Anfang März 1934 ließ sich Lutze bei Rudolf Heß melden, dem »Stellvertreter des Führers«. Er hinterbrachte ihm, SA-Stabschef Röhm halte ungeheuerliche Reden ("Adolf spinnt") gegen den Führer. Heß wußte jedoch nicht, was zu tun sei.

Lutze zog weiter. Er reiste nach Berchtesgaden und hielt Hitler Vortrag. Ihm enthüllte er die ganze Mißstimmung, die in der SA gegen die Führung des Dritten Reiches herrschte. Aber auch Hitler hatte nur einen dunklen Trost: »Wir müssen die Sache ausreifen lassen«.

Da Hitler keine Maßnahmen gegen seinen Freund Röhm ergriff, vertraute sich Lutze einem Dritten an. Dem Generalmajor Walter von Reichenau, Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium, zeigte er auf einer Übungsreise in Braunfels einen Brief, in dem Lutze den Stabschef Röhm vor einer weiteren Kampagne gegen die Reichswehr warnte.

Reichenau dankte dem Obergruppenführer für dessen wertvolle Hinweise und spottete, als der SA-Mann außer Hörweite war: »Der Lutze ist ungefährlich. Der wird Stabschef.«

Röhm-Kritiker Lutze wußte nicht, daß General von Reichenau seit Tagen mit einem SS-Brigadeführer verhandelte, der sehr genaue Vorstellungen darüber hegte, wie man mit einem Schlag das Problem Röhm lösen könne. Reinhard Heydrich, Chef des Geheimen Staatspolizeiamts und des Sicherheitsdienstes, war entschlossen, die gesamte Führungsclique um Ernst Röhm zu liquidieren.

Er hatte lange Zeit gebraucht, Heinrich Himmler für den Vernichtungsplan zu gewinnen. Der Reichsführer SS zögerte, und dieses Zaudern war nicht ohne trübe Ahnungen: Der Entschluß zur Vernichtung Röhms öffnete eine Pandorabüchse, deren giftige Saat SS und SA nicht mehr zur Ruhe kommen lassen sollte. Heydrichs Mordaktion begründete zwischen den beiden Parteiarmeen einen Haß, wie er selbst in der Dolch-und-Mantel-Geschichte der NSDAP einmalig ist.

Als habe ihn ein Vorgefühl kommender Entwicklungen beherrscht, hatte sich Himmler lange Zeit von den Gegnern Röhms ferngehalten. Erst allmählich schwenkte er um. Dem Vorsichtigen wurde der Frontwechsel dadurch erleichtert, daß der unvorsichtige Röhm mit nahezu allen Machtgruppen des Regimes zerstritten war.

Jeder hatte ein Interesse am Untergang des Röhm-Kreises, jeder konnte von einer Zerstörung der SA profitieren: Reichswehr und Hermann Göring wurden einen unangenehmen Konkurrenten los, Parteiapparatschiks und Moralisten waren von einem lästerlichlasterhaften Störenfried erlöst, und die SS konnte sich endlich aus ihrem formellen Vasallenverhältnis zur SA freischießen.

Das tödliche Spiel Reinhard Heydrichs begann, denn tödlich mußte es sein. Eine Partei wie die NSDAP, die im Zeitalter von Freikorps und Fememorden entstanden war, die selber die Politik kriminalisiert hatte, kannte für unlösbare innerparteiliche Differenzen keine bessere Abhilfe als Gewalttätigkeit.

Nur ein toter Stabschef konnte den Machthabern des Regimes Sicherheit vor der SA verbürgen. Eine Absetzung Röhms oder ein Schauprozeß gegen den führenden Homoerotiker des Reiches, den ältesten und einzigen Hitler-Freund, der die NS-Interna besser kannte als jeder andere, hätte die Führer des Regimes nicht beruhigen können. Röhm mußte sterben.

Gestapo- und SD-Chef Heydrich machte sich Ende April 1934 an die Arbeit. Zunächst benötigte er einen handfesten Anlaß zu einer Aktion gegen die SA-Führung. Den Monat Mai nutzte Heydrich dazu, Material zu sammeln, das Hitler und die Reichswehr von den angeblich hochverräterischen Plänen Röhms überzeugen sollte.

Über den Nachrichtenapparat des ehemaligen SS-Untersturmführers Friedrich-Wilhelm Krüger, der zu dem Zeitpunkt die Uniform eines SA-Obergruppenführers trug und als Chef des Ausbildungswesens bei den Obergruppen und Gruppen der SA »M(obilmachung) -Beauftragte« unterhielt, saugte Heydrich Belastungsmaterial auf. Jede SAfeindliche Information, jeder Helfer gegen Röhm war willkommen.

Freilich, die Ausbeute war recht mager. Außer einigen Mitteilungen über SA-Waffenlager in Berlin, München und Schlesien hatten Heydrichs Sammler nur das blutrünstige Revolutionsgeschwafel einiger ISA-Führer zu bieten. Damit ließ sich keine Hochverrats-These ausfüllen.

Manche Indizien ließen sogar erkennen, daß der SA nichts ferner lag als Verrat an Hitler. Oberst von Rabenau, Stadtkommandant von Breslau, urteilte Anfang Mai, ein Aufstand der SA sei unwahrscheinlich. Als der schlesische SA-Chef Heines von Göring erfuhr, die Reichswehr wolle keineswegs (wie Heines befürchtet hatte) gegen die SA losschlagen, schickte er sofort die Hälfte seiner Stabswache in Urlaub.

Nein, die SA dachte nicht an Hochverrat. Sie wollte Hitler nur unter Druck setzen, ihr endlich den so lange verweigerten Platz in Staat und Militär einzuräumen - und um dieses Ziel zu erreichen, hatte sich Röhm in der Tal eine gefährliche Taktik ausgedacht: Da er nicht glauben mochte, Hitler bleibe eine andere Wahl als ein allmähliches Eingehen auf die SAWünsche, entfesselte Röhm einen - allerdings dosierten - Nervenkrieg gegen Hitler.

Er reiste von SA-Gruppe zu SAGruppe. Er inszenierte weiträumige Kriegsspiele seiner Truppe. Er hielt Polterreden, in denen er geheimnisvoll die »Zweite Revolution« des Nationalsozialismus ankündigte. Und er hoffte fast verzweifelt, die Massenaufmärsche der Braunhemden würden Hitler schließlich erweichen.

Röhm sah nicht, daß er damit auch bei den arglosesten Deutschen die Furcht wachrief, das braune Rabauken-Heer wolle die Alleinherrschaft in Deutschland an sich reißen. Auch die Militärs mußten in Röhm einen Todfeind sehen - sie hatten nicht übel Lust, das Spiel Heydrichs mitzuspielen.

Den Abwehrchef des Reichswehrministeriums, Kapitän zur See Conrad Patzig, dünkte es »einfach haarsträubend«, daß »solche entwurzelten Existenzen mit verbrecherischen Anlagen« die Reichswehr von ihrem angestammten Platz verdrängen wollten. Der Gedanke lag nahe: Die SA muß weg.

Ebenso deutlich redete der politische Chefstratege des Reichswehrministeriums, der in Heydrich einen kongenialen Partner erkannt hatte. General von Reichenau, häufiger Gast im Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa), stellte dem SD-Chef Kasernen, Waffen und Transportmittel für den großen Coup zur Verfügung.

Schon Anfang Juni übte die Truppe des Dachauer KZ-Kommandanten SS -Oberführer Theodor Eicke in weitgesteckten Planspielen den Schlag gegen Röhms SA, einen überfallartigen Vorstoß gegen München, Lechfeld und Bad Wiessee. Fast zur selben Zeit trafen Münchner SS-Verbände ihre Einsatzvorbereitungen.

Wen aber sollte der tödliche Schlag treffen? Heydrich setzte seine Vertrauten auf die Spur der engsten Röhm -Freunde und ließ sie Listen der Todeskandidaten entwerfen.

Bereits Ende April hatte Eicke eine sogenannte Reichsliste jener »unerwünschten Personen« aufgesetzt, die am Tage X liquidiert werden sollten. Offenbar enthielt sie fast nur Namen von SA-Führern. Bald kam jedoch Heydrich eine neue Idee: Wenn man schon am

Aufräumen war, so sollten auch gleich andere gefährliche Regime-Gegner mit liquidiert werden!

Von einer Woche zur anderen wurden Heydrichs Todeslisten länger und länger. In fast allen SD-Oberabschnitten entstanden Abschußkataloge, SS und Gestapo wußten immer wieder neue Opfer zu nennen. SS-Obersturmführer Walther Ilges vom SD-Hauptamt, Verfasser einer Liquidationsliste, fragte einen Bekannten: »Wissen Sie, was Blutrausch bedeutet? Ich habe das Gefühl, in Blut waten zu dürfen.«

Da lief im Gestapa eine Meldung ein, die Heydrichs weitgesteckten Terminplan gefährdete. Hitler und Röhm hatten sich überraschend geeinigt, die Lösung des SA/Reichswehr-Problems zu vertagen; am 4. Juni 1934 waren die beiden in einer vielstündigen Unterredung übereingekommen, die SA vom 1. Juli an für einen Monat in Urlaub zu schicken.

Heydrich schreckte hoch. Die neue Entwicklung ließ ihm nicht mehr viel

Zeit, denn einer weggetretenen SA konnte man schwerlich einen Staatsstreich unterschieben. Er mußte schnell handeln, sollte es für sein SA-Spektakulum nicht zu spät werden.

Die Pläne lagen bereit, die Mordkommandos waren aufgestellt. Ein Unsicherheitsfaktor blieb indes: die Reaktion Hitlers, der sich soeben noch mit Röhm geeinigt hatte, nicht eilig zu sein.

Hitler war stets vor einer frontalen Auseinandersetzung mit der SA zurückgeschreckt. Er betrieb seit langem ein Doppelspiel, das freilich eher Schwäche als rationale Überlegungen widerspiegelte: Einesteils förderte er das Braunhemden-Heer (nicht zuletzt als Gegengewicht zur Reichswehr), zum anderen liebäugelte er mit der Idee, die SA einfach aufzulösen.

Doch der NS-Führer fühlte sich zu schwach, seiner SA den Selbstmord abzuverlangen. Er hatte kaum die Kraft, die immer waghalsigeren Forderungen Röhms zurückzuweisen. In die Vorzimmer der Reichskanzlei drang einmal der Verzweiflungsruf Hitlers: »Nein, nein, ich kann das nicht. Du verlangst zu viel.«

Jetzt aber traten ihm mit Heydrich, Himmler und Göring drei Männer gegenüber, die einen Plan hatten und genau wußten, wie man das SA-Problem lösen könne. Hitler griff zu, wenn auch nicht ohne Zögern. Noch war er nur halbwegs überzeugt, da erschreckte ihn eine spektakuläre Rede.

Am 17. Juni kletterte Hitlers Vizekanzler, der Zentrums-Renegat Franz von Papen, im Auditorium maximum der Marburger Universität auf das Rednerpodium und wetterte gegen »all das, was an Eigennutz, Charakterlosigkeit, Unwahrhaftigkeit, Unritterlichkeit und Anmaßung sich unter dem Deckmantel der deutschen Revolution« ausbreite.

Die »brausende Zustimmung« (Papen) enthüllte den Machthabern, daß im konservativen Bürgertum noch eine Opposition saß, die offensichtlich die Dampfwalze der braunen Gleichschaltung überlebt hatte. In Hitler keimte ein furchtbarer Verdacht auf: Wie, wenn sich die Unzufriedenen in der SA mit den Unzufriedenen im Bürgertum verbänden?

Die Späher der Gestapo hatten bereits erste Fäden zwischen den beiden Lagern glitzern sehen:SA-Gruppenführer Prinz August Wilhelm von Preußen, der Sohn des letzten Hohenzollern-Kaisers, galt den monarchistischen Restaurateuren des Papen-Kreises als der geeignete Reichsverweser-Kandidat für den Tag, an dem der 86jährige Reichspräsident von Hindenburg die Augen schloß.

Hitler erkannte, daß die Auseinandersetzung mit der Opposition spätestens am Todestag Hindenburgs kommen werde; die Spekulationen der bürgerlichen Opponenten zielten alle auf den verwaisten Präsidentensessel; ihn sollte ein Hohenzollern-Prinz ausfüllen, Galionsfigur einer monarchistischen Restauration, die - gestützt auf die Reichswehr - die nationalsozialistische Dynamik eindämmen würde. Dem mußte Hitler zuvorkommen.

Flugs machte er sich daran, den Generalfeldmarschall auf dessen ostpreußischem Gut Neudeck zu besuchen. Er wollte sich persönlich von dem Gesundheitszustand des Alten überzeugen, um abschätzen zu können, wieviel Spielraum ihm, Hitler, noch blieb, denn auch er verband mit dem Ableben Hindenburgs einen ehrgeizigen Plan.

Von Anfang an war er entschlossen gewesen, sich zum Diktator Deutschlands zu machen. Solange Hindenburg lebte, war ihm das Ziel versperrt; nicht nur das Prestige des Feldmarschalls, auch die auf Hindenburg eingeschworenen Reichswehrgenerale hinderten Hitler an der totalen Machtübernahme.

Starb aber Hindenburg, dann war der Weg frei, dann konnte Hitler die Posten von Kanzler und Präsident zu der neuen Diktatorenwürde des »Führers und Reichskanzlers« vereinigen - vorausgesetzt, und das war nun entscheidend, die Reichswehr spielte mit.

Als hätte es noch einer gleichnishaften Ermahnung an die Schlüsselrolle der Reichswehr bedurft, trat dem Kanzler, als er am 21. Juni 1934 die Freitreppe von Schloß Neudeck hinaufstieg, der Reichswehrminister Generaloberst Werner von Blomberg entgegen. Hindenburg überließ ihm auch weitgehend das Gespräch mit Hitler.

Blomberg formulierte: Es sei dringend erforderlich, den inneren Frieden des Reiches wiederherzustellen, für Radikalinskis sei im neuen Deutschland kein Platz.

Hitler verstand die Anspielung: Wollte er die Reichswehr für sein Nach-Hindenburg-Regime gewinnen, dann mußte er den Rivalen der Reichswehr opfern, Röhms SA. Auf dem Rückflug nach Berlin am 21. Juni 1934, so nimmt der britische Historiker Sir John Wheeler -Bennett an, hat sich Hitler zu dem entschlossen, was die Ironie der Zeitgeschichte den Röhm-Putsch nennt - den Putsch des Hitler-Regimes gegen Röhm.

Einen Tag später läutete in Hannover bei Viktor Lutze das Telephon; am Apparat meldete sich Hitler. Er befahl dem Röhm-Denunzianten, augenblicklich in die Reichskanzlei zu kommen.

Dort, so notierte sich Lutze, »empfing mich der Führer sofort, ging mit mir in sein Arbeitszimmer, verpflichtete mich mit Handschlag und durch besonderen Eid zum Schweigen bis zur Erledigung der ganzen Angelegenheit«.

Dann erläuterte Hitler dem SA-Mann die »ganze Angelegenheit": Röhm müsse abgesetzt werden, da unter seinen Augen zahlreiche Führerbesprechungen in der SA stattgefunden hätten, in denen der Entschluß gefaßt worden sei, die SA zu bewaffnen und gegen die Reichswehr marschieren zu lassen.

Spätestens am 25. Juni erfuhr auch Reichswehrminister von Blomberg, daß Hitler die Feldgrauen von dem braunen Alpdruck befreien wolle. Er werde, so erklärte ihm Hitler, die gesamte SAFührung zu einer Tagung in Röhms Kurort Bad Wiessee zusammenrufen, dort die SA-Führer persönlich verhaften und mit ihnen »abrechnen«.

Zwei Tage später erschien SS-Gruppenführer Sepp Dietrich, Kommandeur der im März 1933 aufgestellten Leibstanddarte SS »Adolf Hitler«, im Reichswehrministerium und bat den Chef der Organisationsabteilung des Heeres, ihm Waffen für einen »geheimen und sehr wichtigen Auftrag des Führers« bereitzustellen. Die Waffen wurden ihm geliefert.

Reichswehr und SS vereinigten sich zur großen Röhm-Hatz:

- 22. Juni: Himmler eröffnet dem nach

Berlin befohlenen Führer des SS -Oberabschnitts Mitte, Freiherrn von Eberstein, daß Röhm einen Staatsstreich plane. Eberstein sollte Kontakt zum Wehrkreisbefehlshaber aufnehmen, seine SS-Einheiten in »stille Alarmbereitschaft« versetzen und sie bei Auslösung des Alarms in Kasernen zusammenziehen.

- 23. Juni: Oberst Fromm, Chef des

Allgemeinen Heeresamts, benachrichtigt seine Offiziere, daß Röhm putschen wolle; die SS stehe auf seiten der Reichswehr, der SS seien Waffen auszuhändigen, falls sie das wünsche.

- 24. Juni: Der Chef der Heeresleitung, General Werner Freiherr von Fritsch, weist alle Wehrkreisbefehlshaber an, Sicherungen gegen einen drohenden SA-Putsch zu treffen und unauffällig Truppen zusammenzuziehen.

Doch seltsam: So kampfbereit auch die Regimenter und Standarten ihre Stellungen bezogen, Alarmklingeln in den Kasernen schrillten, Pistolen (wie im Reichswehrministerium) entsichert in die Schubfächer der Schreibtische gelegt wurden - der Operation Heydrichs und Himmlers haftete etwas Unwirklich-Phantastisches an. Kaum einer wollte so recht an die Putsch-Absichten der SA glauben.

Am stärksten zweifelten Offiziere der Reichswehr. Oberst Gotthard Heinrici, damals Abteilungschef im Allgemeinen Heeresamt, konnte sich noch 1958 erinnern: Zwei oder drei Tage vor dem Röhm-Eklat habe keiner seiner Kameraden befürchtet, daß wirklich ein Putsch bevorstand; ihm selber sei nichts über derartige Vorbereitungen der SA gemeldet worden.

Gegen die Skeptiker vom Schlage Heinricis aber setzte nun Heydrich eine Lawine in Bewegung, die alle Bedenken mit einem Geröll von Gerüchten, Falschmeldungen und manipulierten Dokumenten zudecken sollte. Auch der letzte Reichswehroffizier mußte putschgläubig gemacht werden.

.Sepp Dietrich zeigte dem Reichswehrministerium eine angebliche Abschußliste der SA-Führung, aus der hervorging, Röhm wolle die oberste Garnitur der Wehrmacht liquidieren, während andere SS-Beauftragte bei Wehrkreis- und Stadtkommandanturen SA-Listen vorlegten, nach denen praktisch der Hinauswurf aller älteren Offiziere beschlossene Sache war.

Heydrich ließ angebliche Bewaffnungs-Befehle Röhms herumreichen, die von der Reichswehr meistens für echt gehalten wurden. Und General von Reichenau unterstützte treuherzig Heydrichs Dokumentenspiel.

Als Abwehrchef Patzig plötzlich auf seinem Schreibtisch, wie von Geisterhand hingeworfen, einen vermeintlichen Geheimbefehl Röhms vorfand, aus dem er folgern mußte, die SA plane einen Überfall auf die Reichswehr, empörte sich Reichenau: »Nun wird es aber höchste Zeit.«

Aber waren Heydrichs Falschmeldungen nur auf die Offiziere der Reichswehr gemünzt? Manches spricht dafür, daß die Falsifikate ebenso auf Hitler zielten, denn der Führer war und blieb die Achillesferse der Röhm-Gegner.

Gewiß, Hitler hatte der geplanten Aktion gegen Röhm zugestimmt, aber immer wieder offenbarte er Anzeichen des Zweifels. War es ein letzter Funke menschlicher Loyalität gegenüber seinem ältesten Kampfgefährten, oder fiel es ihm schwer, ein Gegengewicht zur Reichswehr und einen wichtigen Mitspieler im Gleichgewichtskampf der braunen Hierarchen fallenzulassen - jedenfalls verfiel Hitler zuweilen in dumpfe Entschlußlosigkeit.

In den entscheidenden letzten Tagen vor dem Röhm-Eklat verbreitete Adolf Hitler drei Versionen über das künftige Schicksal des SA-Chefs: Dem Reichswehrminister von Blomberg kündigte er die Verhaftung Röhms an, mit dem er »abrechnen« wolle, Lutze avisierte er die Absetzung Röhms, und dem SA-Obergruppenführer Ritter von Kraußer, Röhms Stellvertreter, kündigte er noch am 29. Juni an, er werde sich mit der SA und mit seinem Freund Röhm aussöhnen.

Ein so schwankender Führer aber paßte dem Trio Himmler-Göring -Heydrich nicht ins Konzept. Der braune Hamlet mußte vor Beginn des letzten Aktes von den Schalthebeln der Macht ferngehalten werden.

Ein Zufall kam den Verschwörern zu Hilfe: In den Morgenstunden des 28. Juni startete Hitler, begleitet von Göring, zu einem Flug an die Hochzeitstafel des westfälischen Gauleiters Josef Terboven. Die {Regisseure des Röhm-Dramas waren froh, den unsicheren Hitler weit weg von Berlin zu wissen - angewiesen auf ihre Nachrichten, auf ihre Spekulationen, auf ihre Gerüchte.

Der plötzlich hellhörig gewordene Röhm-Rivale Lutze, zu Terbovens Hochzeit befohlen, notierte sich: »Ich bekam ein Gefühl, als wenn bestimmte Kreise ein Interesse daran hatten, gerade jetzt, wo der Führer von Berlin abwesend war und nicht selbst alles schriftlich, sondern nur telephonisch sehen bzw. hören konnte, die ,Sache' zu verschärfen und voranzutreiben.«

Kaum hatte sich Hitler am frühen Nachmittag des 28. Juni an der Hochzeitstafel Terbovens in Essen niedergelassen, da wurde er durch neue Alarmmeldungen Himmlers aufgeschreckt. Hitler war so irritiert, daß er den Hochzeitsschmaus abbrechen ließ und sich auf seine Suite im Essener Hotel »Kaiserhof« zurückzog. Kurz darauf rief er seine engsten Mitarbeiter zu sich, unter ihnen auch Göring und Lutze.

Ein weiterer Konfident der Verschwörer platzte in die Führerbesprechung: Paul ("Pili") Körner, Faktotum Görings und Staatssekretär im Preußischen Staatsministerium, war soeben mit dem Flugzeug aus Berlin eingetroffen und brachte weitere Nachrichten von Himmler. Im ganzen Land, so schien es, rüstete sich die SA zum Aufstand gegen die Reichswehr.

Hitlers Gestalt spannte sich plötzlich. Jeder Zoll der schicksalzwingende Staatsmann, erhob er sich von seinem Platz und tönte: »Ich habe genug. Ich werde ein Exempel statuieren.« Die letzte, endgültige Entscheidung war gefallen.

Hitler befahl Göring, mit Körner nach Berlin zurückzukehren und dort auf ein von Hitler gegebenes Stichwort hin loszuschlagen, und zwar sowohl gegen die SA als auch gegen die bürgerlichen Regime-Gegner.

Dann überlegte Hitler im Essener »Kaiserhof«, wie man die SA-Führung geräuschlos überrumpeln könne. Er kam auf seinen alten Plan zurück, den er schon dem Wehrminister von Blomberg entwickelt hatte: die SA-Führer nach Bad Wiessee zu locken und dort zu verhaften.

Am Abend des 28. Juni rief Hitler in Bad Wiessee an und erklärte dem Stabschef Röhm, SA-Männer im Rheinland hätten einen ausländischen Diplomaten angepöbelt, so gehe es nicht weiter; man müsse sich endlich einmal aussprechen. Für Sonnabend, den 30. Juni 1934, elf Uhr vormittags, seien alle Obergruppenführer, Gruppenführer und Inspekteure der SA zu einer Besprechung mit dem Führer einzuberufen.

Dann wartet Hitler auf die Reaktion seiner Gegenspieler. Doch Röhm rührt sich nicht. Zum Handeln ist nur die andere Seite entschlossen. Freiherr von Fritsch gibt Generalalarm für die Truppe. Die Reichsführung SS läßt ihre Einheiten in die Kasernen einrücken und dort bewaffnen. Und Hitler, der Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes inspiziert, setzt um 15 Uhr einen Funkspruch an das Reichswehrministerium ab, der Sepp Dietrich in Hitlers neues Domizil im Godesberger Hotel »Dreesen« ruft.

Als der Leibstandarten-Kommandeur dort um 20 Uhr eintrifft, befiehlt ihm Hitler knapp: »Sie fliegen nach München. Von München aus rufen Sie mich an!«

Kurz vor Mitternacht meldet sich Dietrich telephonisch bei Hitler. Der gibt ihm einen neuen Befehl: Sofort nach Kaufering fahren (eine kleine Bahnstation bei Landsberg am Lech), dort zwei Kompanien der Leibstandarte in Empfang nehmen und nach Bad Wiessee überführen.

Sepp Dietrich sitzt schon im Wagen unterwegs nach Kaufering, als zwei Meldungen Hitler auffahren und seine Pläne ändern lassen.

Die eine Meldung kommt aus Berlin: Himmler berichtet, die Putschvorbereitungen der Berliner SA seien abgeschlossen, am nächsten Tag, dem 30. Juni, solle es losgehen - für 16 Uhr sei die SA alarmiert, und (so wird Hitler später dem Reichstag erzählen) »Schlag fünf Uhr« solle »die Aktion überfallmäßig mit der Besetzung der Regierungsgebäude ihren Anfang nehmen«.

Hitler weiß in Bad Godesberg nicht, daß die Masse der SA zu dieser Stunde längst dienstfrei bekommen hat. Noch am 13. Juli wird er öffentlich glauben, der Berliner SA-Chef Karl Ernst sei, statt nach Bad Wiessee zu fahren, »zur persönlichen Führung der Aktion in Berlin zurückgeblieben« - tatsächlich hat Ernst schon am 29. Juni Berlin verlassen, um sich mit seiner Frau in Bremen zu einer Reise nach Teneriffa einzuschiffen.

Nicht sehr viel wirklichkeitsnäher ist die zweite Meldung, die Hitler erreicht: In München sei die SA auf die Straße gegangen und randaliere gegen Führer und Reichswehr.

-Unzweifelhaft sind in den späten Abendstunden des 29. Juni SA-Stürme Münchens unter der Parole »Die Reichswehr ist gegen uns!« durch -die Straßen der Isarstadt marschiert. Handgeschriebene Zettel unbekannter Autoren haben sie aus den Sturmlokalen herausgelockt, zudem sind den SA-Männern die Alarmmaßnahmen der Reichswehr nicht verborgen geblieben.

Als der Münchner und der oberbayrische SA-Chef, Obergruppenführer August Schneidhuber und Gruppenführer Wilhelm Schmid, von dem Ausmarsch ihrer Einheiten hören, greifen sie ein und geben ihnen Order, nach Hause zu gehen. Schmid beschafft sich zwei Exemplare der anonymen Einsatzbefehle, von denen er nur weiß, daß jedenfalls er und' Schneidhuber sie nicht verfaßt oder veranlaßt haben.

Die beiden Mitternachtsmeldungen aus Berlin und München stürzen den miserabel informierten Hitler in Panik. Jetzt weiß er Bescheid: Die Verräter haben sich demaskiert. Röhm hat sein wahres Gesicht gezeigt. Jetzt wird er die Verräterbrut ausrotten. Sofort bricht er nach München auf.

Um zwei Uhr stapft er, zerschlagen, übermüdet und zitternd vor Aufregung, über den Bonner Flugplatz Hangelar und klettert mit seinen Gefolgsleuten in eine dreimotorige Ju 52. Er

hockt sich in der Kabine auf den vordersten Sitz und starrt in den nebelverhangenen Nachthimmel.

Der Nebel weicht allmählich dem blassen Rot des neuen Tages, des mordgierigsten Tages deutscher Vorkriegsgeschichte. Lutze summt vor sich hin:

Morgenrot, Morgenrot,

Leuchtest uns zu frohem Tod.

Gestern noch auf stolzen Rossen,

Heute durch die Brust geschossen...

Als die Maschine auf dem Münchner Flugplatz Oberwiesenfeld ausgerollt ist, stürzt Hitler heraus und läuft an der angetretenen Partei- und SA-Prominenz wie in Trance vorbei. Er macht erst vor zwei Reichswehr-Offizieren halt, die er sich per Funk bestellt hatte. Hitler stößt hervor: »Dies ist der schwärzeste Tag meines Lebens. Aber ich werde nach Bad Wiessee fahren und strenges Gericht halten.«

Dann fährt er ins Bayrische Innenministerium. Kurz nach vier Uhr reißt das Telephon den SA-Gruppenführer Schmid aus dem Schlaf. Befehl vom Innenministerium: Hitler erwarte den Gruppenführer zum Rapport.

»Ehe er wegging«, so Witwe Martina Schmid, »hat er im Schlafzimmer verzweifelt nach zwei weißen Zetteln gesucht und gesagt: ,Die konnten doch beweisen, daß ich mit der ganzen Sache nichts zu tun habe.' Die Zettel aber waren verschwunden.«

Doch Gruppenführer Schmid kommt gar nicht dazu, Hitler eine Erklärung abzugeben. Kaum hat ihn Hitler erblickt, da stürzt er sich auf Schmid, reißt ihm die Rangabzeichen herunter, schimpft ihn einen Verräter und schreit: »Sie sind verhaftet und werden erschossen!« Schmid wird abgeführt und geht den Weg, den wenige Minuten zuvor Obergruppenführer Schneidhuber entlanggeschleift worden ist: den Weg ins Untersuchungsgefängnis München-Stadelheim.

Während der Münchner Gauleiter Wagner Stoßtrupps der SS und der Bayrischen Politischen Polizei (BayPoPo) mit der Weisung ausschwärmen läßt, bestimmte SA-Führer und prominente Gegner des Nationalsozialismus zu verhaften, hetzt Hitler mit zwei Begleit-Autos nach Bad Wiessee.

Es ist mittlerweile sieben Uhr geworden. In Röhms Quartier, der Pension Hanselbauer, schlafen die SA-Führer noch. Die Pensionswirtin haspelt etwas von der großen Ehre des hohen Besuches herunter, doch Hitlers Begleiter stürmen an ihr vorbei und postieren sich mit entsicherten Revolvern an den Türen der Gästezimmer.

Hitler stoppt, so notierte Lutze später, »vor Röhms Tür. Ein Kriminalbeamter hat angeklopft und um Öffnen gebeten, weil was Dringendes angekommen sei. Es dauert eine Zeit, dann öffnet sich die Tür, die nun sofort aufgestoßen wird. In der Tür steht dann der Führer mit der Pistole in der Hand. Er nennt den Röhm einen Verräter, was Röhm lebhaft abstreitet, befiehlt dann, daß er sich anziehe, und eröffnet ihm seine Verhaftung«.

Hitler hastet weiter. Er hämmert an eine gegenüberliegende Tür, hinter der nach einiger Zeit das Gesicht des Obergruppenführers Edmund Heines und die Figur eines männlichen Schlafgenossen sichtbar werden. Hitler rast ins nächste Zimmer, derweil Lutze in das Heines-Gemach springt und den Schrank nach Waffen durchsucht.

»Lutze, ich habe doch nichts getan, helfen Sie mir doch«, schreit Heines. Doch der Hitler-Konfident windet sich verlegen: »Ich kann nichts sagen, ich kann nichts tun.«

Bald ist das ganze »Verschwörernest« ausgeräumt. Die verhafteten SA-Männer marschieren in die Keller der Pension, wo sie eingeschlossen und von Kriminalpolizisten bewacht werden. Kurz darauf sind auch Röhm und seine Freunde unterwegs nach Stadelheim. Zur selben Stunde stehen Beamte der BayPoPo am Münchner Hauptbahnhof, den SS-Männer umstellt haben, und halten jeden eintreffenden SA-Führer an, lassen ihn wieder laufen oder verhaften ihn. Meistens verhaften sie ihn. Einer nach dem anderen muß den Weg nach Stadelheim gehen: Ritter von Kraußer, Manfred von Killinger, Hans Peter von Heydebreck, Hans Hayn, Georg von Detten, Hans Joachim von Falkenhausen - kaum ein illustrer Name der SA-Prominenz fehlt.

Wer aber den BayPoPo-Häschern entkommt und befehlsgemäß den Weg nach Bad Wiessee fährt, den stoppt eine wild gestikulierende Gestalt mitten auf dem Fahrdamm. Adolf Hitler erzählt jedem SA-Führer, daß er einen neuen Stabschef habe: Viktor Lutze.

Hitler ruft: »Ich komme eben aus Wiessee und habe Stabschef Röhm verhaften lassen. Dieser hat mit Schleicher einen Putsch gegen mich und die Staatsführung vorgehabt. Alle beteiligten SAFührer werden erschossen.« Er gibt Order, seinem Wagen zu folgen und sich für eine Besprechung im Braunen Haus bereitzuhalten.

Um zehn Uhr erreicht Hitler das NSHauptquartier in der Briennerstraße, das inzwischen von Reichswehrsoldaten abgeriegelt worden ist, und gibt dem mitgereisten Joseph Goebbels einen Wink. Der Propagandaminister stürzt ans Telephon und ruft Göring das verabredete Stichwort »Kolibri« zu.

Erst jetzt können Heydrich und Himmler den Großalarm für die Schutzstaffel auslösen. In den SD-Oberabschnitten reißen die Führer versiegelte Briefumschläge mit Geheimbefehlen auf und jagen ihre Mordkommandos los.

Niemand aber weiß in dieser Stunde den politischen Terror fanatischer zu predigen als Adolf Hitler. Vor dem Reichsstatthalter in Bayern, Ritter von Epp, der für seinen Kriegskameraden und ehemaligen Untergebenen Röhm ein kriegsgerichtliches Verfahren fordert, poltert Hitler, der SA-Stabschef habe sein Leben verwirkt, der Verrat Röhms sei erwiesen.

Ritter von Epp ist von dem blindwütigen Ausbruch Hitlers derart starr, daß er nach Hitlers Weggang seinen Adjutanten, den Prinzen zu Ysenburg, nur stumm anschaut und schließlich murmelt: »Verrückt.«

Ebenso verstört sind die nichtverhafteten SA-Führer, die sich im Senatorensaal des Braunen Hauses versammeln, als Hitler gegen 11.30 Uhr die Tür aufreißt und unter die SA-Männer stürzt. Er öffnet den Mund zum Sprechen, da

- so beobachtet Gruppenführer

Schreyer -, »schoß ihm ein Ballen Schaum aus dem Munde, wie ich es bei keinem Menschen je vorher oder hernach gesehen habe. Mit einer Stimme, die sich vor Aufregung mehrmals überschlug, schilderte er dann die Vorgänge:

»Röhm habe Hoch- und Landesverrat ihm gegenüber begangen, er habe ihn verhaften und töten wollen, um Deutschland an seine Feinde auszuliefern. Röhm und seine Konspiratoren würden exemplarisch bestraft, er ließe sie alle erschießen. Die erste Gruppe (mit) Röhm, Schneidhuber, Schmid, Heines, Hayn, Heydebreck, Spreti würden heute abend erschossen. Der Befehl sei von ihm schon erteilt.«

Diese Ankündigung greift freilich den Ereignissen weit voraus. Erst in der Mittagszeit diskutiert Hitler mit seinen engsten Mitarbeitern das den verhafteten SA-Führern zugedachte Schicksal.

Rudolf Heß und der braune Verlagsherr Max Amann wetteifern um das Vergnügen des Mordens, Heß ruft: »Mein Führer, es ist meine Aufgabe, Röhm zu erschießen.« Fassungslos sitzt der neue SA-Stabschef Lutze dabei und hört das mörderische Gerede der anderen. So hat er sich die Säuberung der SA nicht vorgestellt.

Als ihn Hitler fragt, wer erschossen werden solle, weicht er aus: Er wisse nichts von Schuld und Mitschuld, er könne keine Namen nennen. Und verläßt schweigend den Saal.

Gegen 17 Uhr ist die Entscheidung gefallen. Hitler ruft den nach München zurückgekehrten Sepp Dietrich zu sich und befiehlt ihm: »Fahren Sie hinaus in die Kaserne, lassen Sie sich sechs Unteroffiziere und einen Offizier geben, und lassen Sie die SA-Führer erschießen wegen Landes- und Hochverrats.«

SS-Gruppenführer Dietrich bekommt eine Häftlingsliste, die Gefängnisdirektor Koch am Vormittag ins Braune Haus geschickt hat; sie enthält die Namen der in Stadelheim einsitzenden

SA-Führer. Sechs Namen hat Hitler mit einem Grünstift abgehakt:

- August Schneidhuber, SA-Obergruppenführer und Polizeipräsident in München (Zelle 504),

- Wilhelm Schmid, SA-Gruppenführer

in München.(Zelle 497),

- Hans Peter von Heydebreck, SA -Gruppenführer in Stettin (Zelle 502),

- Hans Hayn, SA-Gruppenführer in

Dresden (Zelle 503),

- Hans Joachim Graf von Spreti-Weilbach, SA-Standartenführer in München (Zelle 501),

- Edmund Heines, SA-Obergruppenführer und Polizeipräsident in Breslau (Zelle 483).

Der Name Ernst Röhm ist nicht abgehakt. Kurz darauf fährt Hitler zusammen mit Epp zum Flugplatz Oberwiesenfeld, um nach Berlin zurückzukehren, und unterwegs hört der Prinz zu Ysenburg Hitler sagen: »Ich habe Röhm begnadigt wegen seiner Verdienste, Kraußer wegen seines Ordens.« Schreckt Hitler doch noch vor dem Freundesmord zurück?

Um 18 Uhr steht Sepp Dietrich vor dem Gefängnisdirektor Dr. Robert Koch und ersucht um Auslieferung der Todeskandidaten. Indes, der vorsichtige Beamte Koch hat sich abgesichert. Schon unterderhand über die bevorstehenden Exekutionen informiert, hat er das Bayrische Justizministerium alarmiert. Justizminister Dr. Hans Frank unternimmt ein paar halbherzige Versuche, das Morden zu verhindern. Er stoppt Dietrich und läßt Rudolf Heß anrufen; der aber verbittet sich alle Einmischung und fordert Ausführung des Führerbefehls.

Jetzt kann Dietrich seines Amtes walten. Dr. Koch gibt Order, die sechs SA -Führer in den Gefängnishof zu führen. Als die SA-Männer den herantretenden Dietrich sehen, schreit Schneidhuber: »Kamerad Sepp, was ist los, wir sind unschuldig.«

Kein Muskel zuckt im bärbeißigen Bauerngesicht Dietrichs. Der SS-Gruppenführer schlägt die Hacken zusammen und verkündet: »Sie sind vom Führer zum Tode verurteilt worden. Heil Hitler!« Ein SA-Führer nach dem anderen wird in den Exekutionshof geführt.

Dort empfängt ein SS-Führer den Delinquenten mit den Worten: »Der Führer hat Sie zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung wird sogleich vollzogen.« Dann peitschen Gewehrsalven über den Hof, die Exekutionsmauer wirft das Echo zurück.

Nicht einmal Dietrichs Nerven halten das Morden durch. Er verläßt die Szene, ehe alle sechs erschossen sind. Dietrich: »Bevor Schneidhuber dran kam, bin ich weg. Es hat mir gelangt.«

Er wartet bis zum Mittag des nächsten Tages, dann fliegt er in die Reichshauptstadt zurück - in das Berlin, das seit dem 30. Juni zehn Uhr vormittags die Göring-Himmler-Version der deutschen Bartholomäusnacht erlebt hat.

Seit Goebbels das Wort »Kolibri« ins Telephon gesprochen hat, ist auch in der Göring-Domäne die Terrormaschine in Gang. Durch die Straßen der Stadt rasen Überfallwagen der Polizei und Lkw mit aufgesessenen SS-Männern. Das Tiergartenviertel, in dem die wichtigsten SAQuartiere liegen, wird abgesperrt. Die noch diensttuenden SA-Führer lassen sich widerstandslos abführen.

Zugleich umstellen SS und Polizei das Amt des Vizekanzlers Franz von Papen, erschießen seinen Pressechef von Bose und nehmen andere Papen-Mitarbeiter fest, denn auch der »reaktionäre« Staatsfeind wird jetzt zur Strecke gebracht.

Der Hauptsturmführer Kurt Gildisch von der Leibstandarte erhält von SD -Chef Heydrich den Befehl, einen der prominentesten Katholiken zu erschießen: Dr. Erich Klausener, Ministerialdirektor im Reichsverkehrsministerium, Führer der Katholischen Aktion und ehedem Chef der Polizeiabteilung des Preußischen Innenministeriums.

Der Ministerialdirektor tritt gerade, es ist 13 Uhr, aus seinem Zimmer, um sich auf der Toilette die Hände zu waschen, als er sich einem SS-Mann im Stahlhelm gegenübersieht. Er läuft wieder in sein Büro zurück, bittet Gildisch herein, der Klausener eröffnet, er sei verhaftet.

Dr. Klausener dreht sich um. Er geht an einen Kleiderschrank und will nach einem Jackett greifen, da reißt Gildisch seine Privatpistole hervor und feuert gegen den Kopf seines Opfers. Klausener stürzt tot zu Boden.

Gildisch greift zu einem Telephonapparat auf dem Schreibtisch und wählt die Nummer Heydrichs. Der SD-Chef befiehlt, einen Selbstmord vorzutäuschen. Der Täter legt seine Privatpistole neben Klauseners rechte schlaffe Hand und beordert einen Doppelposten vor die Tür. Für das Dritte Reich ist der Fall Klausener erledigt.

Schon hat Heydrich neue Aufträge. Gildisch muß nach Bremen fliegen, um den Berliner SA-Chef Karl Ernst zu verhaften und in die Todeskeller der Leibstandarte in Berlin-Lichterfeldes ehemaliger Kadettenanstalt zu schleppen. Dem Ernst folgen weitere Opfer Gildischer Tüchtigkeit.

Wie Kurt Gildisch mit seinen Häschern, so jagen an diesem 30. Juni 1934 die Todesroboter der SS überall in Görings Preußen den vermeintlichen Staatsfeind.

Stumm verrichten sie den Dienst, der ihnen aufgetragen ist. Die menschlichen Automaten Heinrich Himmlers stellen keine unnützen Fragen. Sie wollen nur den Namen ihres Opfers wissen, und schon zuckt das Mündungsfeuer ihrer Pistolen und Karabiner.

Der Blutdurst der Schwarzen wächst von Stunde zu Stunde. Er löst sich von dem offiziell verkündeten Zweck, der Beseitigung von Meuterern und Staatsfeinden, und schlägt in einen persönlichen Rachefeldzug um.

Der SS-Oberabschnittsführer Erich von dem Bach-Zelewski hetzt zwei SS -Männer hinter seinen Rivalen, den SS -Reiterführer Anton Freiherr von Hohberg und Buchwald, her und läßt sie den Gutbesitzer in dessen Herrenzimmer hinterrücks ermorden.

Breslaus stellvertretenden Polizeipräsidenten, den SA-Sturmbannführer Engels, treiben SS-Männer in den Wald und durchlöchern ihn mit Schrotladungen. Den ehemaligen schlesischen SS -Führer Sembach ertränkt der Melker des SS-Brigadeführers von Woyrsch in einem Stausee bei Brieg, dann morden andere den Mörder.

Rache, Rache, Rache: SS-Männer töten den Hirschberger Rechtsanwalt Dr. Förster und dessen Frau, weil der Advokat an Prozessen gegen Nationalsozialisten teilgenommen hat. Persönliche Ranküne leiten auch viele Aktionen Görings und Himmlers.

Sie lassen den Mann aufspüren, der die beiden Hitler-Paladine wie kaum ein anderer NS-Führer durchschaut: Gregor Strasser. Er ist einmal der zweitwichtigste Parteigenosse gewesen, ehe er sich 1932 wegen taktischer Differenzen von Hitler getrennt hat.

Eine der größten GefahrenfürFührer und Bewegung, so hat Strasser den Parteichef Hitler gewarnt, seien »die Himmler und Anhimmler«, und über Göring ist ihm der Satz eingefallen: »Göring ist ein brutaler Egoist, der sich nicht einen Pfennig um Deutschland kümmert, solange sich nur alles um ihn dreht.«

Gregor Strasser muß fallen, wenn dieser 30. Juni 1934 für Göring und Himmler einen Sinn haben soll. Am frühen Nachmittag holen Gestapo-Beamte Strasser ab, ein paar Stunden später schießt ihn ein SS-Mann rücklings in Zelle 16 des Gestapo-Gefängnisses nieder. »Selbstmord« lautet die offizielle Lesart.

Indes, wo bleibt die angeblich befürchtete Meuterei der SA, wo bleiben die Drahtzieher des »größten Treuebruches der ganzen Weltgeschichte«, den Hitler den SA-Überlebenden im Braunen Haus beschrieben hat? Die Drahtzieher genießen das sonnige Wochenende. Sie leben in ihren Häusern. Sie bereiten den Urlaub vor.

In seinem Haus in der Griebnitzstraße von Neu-Babelsberg sitzt General Kurt von Schleicher an einem Schreibtisch, als Köchin Marie Güntel zwei Herren in Schleichers Arbeitszimmer führt. Einer der Herren fragt, ob der Mann am Schreibtisch der ehemalige Reichskanzler von Schleicher sei.

»Auf die an ihn gerichtete Frage«, so wird die Köchin später zu Protokoll geben, »wandte er (Schleicher) seinen Körper etwas um, um den Herrn zu sehen und sagte jawohl. In diesem Augenblick krachten auch schon die Schüsse.« Die Ehefrau des Generals stürzt herbei - auch sie wird niedergeschossen.

Doch in den Papieren des Ermordeten findet die Gestapo nichts, was auf eine Zusammenarbeit Schleichers mit Röhm oder Strasser oder dem französischen Botschafter Francois-Poncet hinweist. Göring und Himmler werden unruhig. Wird die Reichswehr zuschlagen, jetzt, da ihr politisch profiliertester General grundlos von SS-Mördern niedergeschossen worden ist?

Keineswegs. General von Reichenau ist nicht der Mann, wegen eines lästigen Toten eine ganze Konzeption fallenzulassen. Noch am Nachmittag diktiert er ein Kommuniqué: »In den letzten Wochen wurde festgestellt, daß der frühere Reichswehrminister General a. D. von Schleicher mit den staatsfeindlichen Kreisen der SA-Führung und mit auswärtigen Mächten staatsgefährdende Verbindung unterhalten hat. Damit war bewiesen, daß er sich in Worten und Wirken gegen diesen Staat und seine Führung betätigt hat.«

Und weiter: »Diese Tatsache machte seine Verhaftung im Zusammenhang mit der gesamten Säuberungsaktion notwendig. Bei der Verhaftung durch Kriminalbeamte widersetzte sich der General a. D. Schleicher mit der Waffe. Durch den dabei erfolgten Schußwechsel wurden er und seine dazwischentretende Frau tödlich verletzt.«

Kaum aber ist diese Gefahr gebannt, da kehrt Hitler um 22 Uhr aus München zurück und bringt eine für Göring und Himmler gräßliche Nachricht mit: Röhm soll am Leben bleiben. Das hat Hitler dem Ritter von Epp versprochen.

Den Kanzler mag der Gedanke durchblitzt haben, daß es sehr wohl in seinem Interesse liegen könne, Göring und Himmler den Kopf Röhms vorzuenthalten, denn er darf die beiden Paladine nicht zu mächtig werden lassen, noch ist der Adolf Hitler des 30. Juni 1934 nicht der Hitler der totalitären Führerdiktatur - er wird es erst sein, wenn er das Erbe Hindenburgs angetreten und in der Blomberg-Fritsch -Krise die Wehrmacht aller Macht beraubt hat.

Hitler beginnt ein raffiniertes Spiel: Der Mann, der in Stadelheim kaltblütig die wichtigsten SA-Führer hat hinrichten lassen, den das Wort »ausrotten« unentwegt über die Lippen tritt, gebärdet sich in Berlin plötzlich als der maßvolle, der besorgte Führer, der nicht jeden Schritt seiner Paladine gutheißt.

Das Kabinett bekommt von ihm zu hören, er übernehme die Verantwortung für die Erschießung der »Verräter«, »auch wenn das Schuldmaß nicht bei allen völlig erwiesen sei und nicht alle standrechtlichen Erschießungen von ihm selbst befohlen worden seien«, und dem SA-Führer Jüttner will er weismachen: Er habe eine gerichtliche Untersuchung gewünscht, die Ereignisse seien über ihn hinweggegangen.

Was auch immer Hitler in der Maske des Maßvollen bezweckt haben mag - Himmler und Göring bedrängten ihn, Röhm zu opfern. Noch in der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli beginnen sie, auf Hitler einzureden, der sich noch immer auf die Seite der stärkeren Bataillone zu schlagen gewußt hat. Wer in dieser Nacht sein Leben von Hitlers Versprechungen abhängig macht, hat verspielt.

Das ahnt auch ein Mann, der just zur selben Stunde blutüberströmt durch die Wälder bei Potsdam keucht, hinstürzt, sich an Baumwurzeln schlägt und sich wieder hochreißt. Oberleutnant außer Dienst Paul Schulz, ehemaliger SA-Reorganisator nach dem Stennes -Putsch und Freund Gregor Strassers, rennt um sein Leben.

Die irre Logik der 30.-Juni-Verfolger hat auch Schulz, einen der härtesten Feinde des Homosexuellen Röhm, zu einem Komplicen eben dieses Röhm gemacht. Die Gestapo ist ihm auf den Fersen.

Beim Abendessen haben sie ihn verhaftet, »fünf junge Burschen in Zivilkleidern, zum Teil ohne Kragen und Krawatte, mit schußbereiten Pistolen in der Hand«, wie sich Schulz erinnern wird. Drei andere Gestapo-Männer sollen ihn an einem entlegenen Ort liquidieren.

Sie rasen nach Potsdam und suchen einen geeigneten Platz. Doch es ist Sonnabend nacht, ständig blitzen die Scheinwerfer ankommender Wagen auf und vertreiben die Schützen. Sie schlagen die Straße nach Leipzig ein und finden endlich eine Stelle.

Schulz muß aussteigen und einem der drei Begleiter den Rücken zukehren. Er versucht, auszubrechen, da trifft ihn ein Schuß, freilich aus so großer Entfernung, daß die Kugel nicht tödlich ist. Dennoch mimt Schulz geistesgegenwärtig den Sterbenden.

Die drei gehen zum Wagen zurück, um eine Zeltplane zu holen und den vermeintlichen Toten darin einzuwikkeln. Schulz berichtet: »In diesem Augenblick sprang ich auf und rannte mit großen Sprüngen in den Waldweg hinein, wobei ich den Blick seitwärts auf meine Mörder gerichtet hielt. Sie blieben wie erstarrt stehen.«

Schulz rennt. Der Rücken schmerzt, die Kugel hat das Rückgrat getroffen,

»aber ich merkte mit Erleichterung, daß ich kein Blut im Munde hatte«.

Weiter, weiter, nur nicht schlappmachen, denkt er und schlägt nach den ersten hundert Metern die entgegengesetzte Richtung ein. Er erreicht das Dorf Seddin, aber schon sieht er Autos mit Suchscheinwerfern, die jeden Straßenwinkel ableuchten.

Er keucht zu einem Fluß, der Nuthe. Er versteckt sich im Schilf. Er wäscht sich im Mondlicht das Blut ab. Und sinnt, wie er seinen Verfolgern endgültig entkommen kann. Da fällt ihm ein Name ein: Ein Bekannter, der pensionierte Konteradmiral Lübbert, ist erst kürzlich nach Berlin gezogen, folglich der Polizei noch kaum bekannt - dort will sich Schulz verstecken.

Es glückt. Der Admiral nimmt den Flüchtling auf, derweil ein Massenaufgebot von Polizei und SS die Umgebung von Potsdam durchkämmt. Schulz aber muß »schneller handeln, als diejenigen, die mich umbringen wollten«.

Er hat Freunde, die guten Draht zu Hitler besitzen. Sie macht er nun mobil. Ein Freund jagt zu Hitler, der dem Flüchtling Leben und Sicherheit verspricht. In Schulzens Versteck taucht einer seiner Konfidenten mit der Nachricht auf: »Sie stehen unter dem Schutz des Führers! Hitler hat gesagt: ,Das Gewesene ist Schulz verziehen: Er steht unter meinem persönlichen Schutz.'«

Doch Hitler-Kenner Schulz traut seinem Führer nicht. Tagelang weigert er sich, sein Versteck preiszugeben. Die Freunde müssen lange auf ihn einreden, bis er sich herauswagt.

Er hat Hitler richtig eingeschätzt: Schulz ist zufrieden, als ihn Hitler aus Deutschland verbannt.

Wie Paul Schulz, so erfahren auch die letzten lebenden Führer der Röhm -Garde, was das Wort eines Adolf Hitler wert ist. Noch am Vormittag des 1. Juli hat Hitler gesagt, er wolle das Leben seines einzigen Freundes Röhm erhalten. Um die Mittagszeit aber haben es Göring und Himmler geschafft: SS -Oberführer Theodor Eicke bekommt Befehl, Röhm zu erschießen.

Am Nachmittag des 1. Juli steht Eicke mit seinem Stellvertreter, dem SS -Sturmbannführer Michael Lippert, vor dem Stadelheim-Direktor Koch, fährt den abermals zögernden Beamten barsch an und läßt sich dann zur Zelle 474 im Gefängnis-Neubau führen.

Dort hockt Röhm mit nacktem, verschwitzten Oberkörper auf einer Pritsche und wendet ein wenig den Kopf, als die Tür aufquietscht und der KZ -Kommandant Eicke in die Zelle tritt. Eicke: »Sie haben Ihr Leben verwirkt. Der Führer gibt Ihnen noch eine Chance, die Konsequenzen zu ziehen.«

Dann legt er eine Pistole, geladen mit einer Kugel, auf einen Tisch, dazu die neueste Ausgabe des »Völkischen Beobachters« mit der Balkenschlagzeile: »Röhm verhaftet und abgesetzt - Durchgreifende Säuberung in der SA.« Beim Hinausgehen sagt Eicke, Röhm habe zehn Minuten Zeit, dann müsse alles vorüber sein. Die Tür schließt sich wieder.

15 Minuten lang warten die zwei SS-Männer auf dem zweieinhalb Meter breiten Gang vor der Zelle. Drinnen rührt sich nichts. Eicke blickt auf die Uhr. Er und Lippert ziehen ihren Dienstrevolver. Der Oberführer stößt die Zellentür wieder auf.

Eicke ruft: »Stabschef, machen Sie sich fertig!« Er blickt neben sich und sieht, daß in Lipperts rechter Faust die Pistole zittert. Eicke zischt: »Langsam und ruhig zielen.« Zwei Schüsse knallen, Röhm fällt steif nach hinten zu Boden und haucht: »Mein Führer, mein Führer.« Eicke höhnt: »Das hätten Sie sich früher überlegen sollen, jetzt ist es zu spät.«

Röhm atmet schwer. Geben Sie ihm den Gnadenschuß«, befiehlt Ficke seinem Stellverteter. Lippert beugt sich über den Körper und schießt dem Schwerverwundeten in die Brust. Ernst Röhm, Gründer der SA, einziger Freund Hitlers, Rivale der Reichswehr, ist tot. Seine Sterbestunde: 18 Uhr, 1. Juli 1934.

Das Ende Röhms läßt noch einmal die Gewehrsalven der Hinrichtungskommandos losknattern. Im Columbia-Haus, der zweiten SS-Folterkammer in Berlin, hört der SA-Gruppenführer Karl Schreyer das Klappen der Zellentüren, die abgehackten Befehle und das Echo der Schüsse immer näher kommen.

Der 2. Juli dämmert bereits herauf, aber immer noch wird erschossen. Schreyer zählt in seiner Zelle: SA -Oberführer von Falkenhausen fällt um zwei Uhr, Gruppenführer von Detten um 2.30 Uhr, eine halbe Stunde später Ritter von Kraußer, wieder ein Mann, dem Hitler die Begnadigung zugesagt hat.

Eine weitere halbe Stunde danach ist Schreyer an der Reihe. Die Zellentür wird aufgerissen, ein SS-Mann steht breitbeinig im Türrahmen, hinter ihm erschienen zwei weitere SS-Männer mit aufgepflanztem Bajonett. »Schreyer, raus!« raunzt der Anführer. »Sie werden jetzt im Auftrage des Führers erschossen.«

Schreyer: »Ich verlange vorherige Vernehmung.«

Der andere: »Das täte euch so passen, ihr Hochverräter. Ihr seid überführt und werdet erschossen. Halten Sie Ihren Kopf, wie die anderen auch, unter die Wasserleitung, damit Sie frisch sind und im Sterben einen guten Eindruck machen.«

Nach einiger Zeit wird Schreyer abgeholt, muß aber wieder in die Zelle zurückgeführt werden; er soll in der Kadettenanstalt Lichterfelde erschossen werden, der Transportwagen aber ist noch nicht eingetroffen. Er kommt nach einigen Minuten.

»Zwei Männer stiegen ein«, erzählt Schreyer, »und als ich gerade nachsteigen wollte, brauste ein großer Mercedes-Wagen heran, dem ein Standartenführer der Leibstandarte entsprang, der lebhaft winkte und schrie: ,Halt, halt!' und uns eröffnete: ,Es darf nichts mehr passieren, der Führer hat Hindenburg sein Wort gegeben, die Erschießungen sind hiermit endgültig abgestoppt.'«

Die Uhr zeigte die vierte Stunde, 2. Juli 1934. Der erste Massenmord in der Geschichte des Dritten Reiches war verübt. 83 Menschen hatten einen grausamen Tod gefunden, ohne Gerichtsverfahren, ohne Gelegenheit zur Verteidigung, Opfer einer brutalen Partei und Cliquen-Räson. Hitler: »In dieser Stunde war ich ... des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr.«

In den Kasernen der Reichswehr erklangen Hurra-Rufe, in den Offizierskasinos klirrten die Sektgläser. Selbst einem Blomberg begann der Jubel seiner Truppe über den 30. Juni unheimlich zu werden. Oberst Heinrici notierte Stichworte einer Blomberg-Rede vor den Abteilungsleitern des Reichswehrministeriums: »Truppe hat nicht die Haltung gehabt, die man erwarten mußte. Ungehörig, sich über die Gefallenen zu freuen und im Kasino zu reden.«

Der Minister hatte schon erkannt, daß nicht die Reichswehr der Sieger des 30. Juni war. Die Schutzstaffel Heinrich Himmlers hatte auf der ganzen Linie gesiegt:

Die SS war frei von aller Bevormundung durch die SA, ihre Macht in der Partei gefestigt. Am 20. Juli verfügte Hitler: »Im Hinblick auf die großen Verdienste der SS, besonders im Zusammenhang mit den Ereignissen des 30. Juni, erhebe ich dieselbe zu einer selbständigen Organisation im Rahmen der NSDAP.«

Mehr noch: Hitler genehmigte der SS auch, bewaffnete Einheiten aufzustellen. Damit durchkreuzte er das geheiligte Konzept der Reichswehr, deretwegen sie der SA die Fehde angesagt hatte: den Anspruch, einzige Waffenträgerin des Staates zu sein.

Und dennoch hatte die SS ihren Erfolg teuer erkauft: Sie hatte sich für alle Zeit den Haß der SA zugezogen. Nie wieder sollten sich die beiden Parteiarmeen miteinander versöhnen. Von nun an standen sich SA und SS in schärfster Frontstellung gegenüber - ein lautloser, unsichtbarer Krieg war eröffnet.

IM NÄCHSTEN HEFT:

Der Adel drängt in den SS-Orden -Die Schutzstaffel verliert ihren einheitlichen Charakter - Himmler befiehlt SS-Führern Selbstmord - Spiritistensitzungen in der SS-Gralsburg

Röhm, Freund: »Nein, nein, du verlangst zu viel«

SD-Chef Heydrich

Befehle gefälscht

Hindenburg in Erwartung Hitlers: »Für Radikalinskis keinen Platz«

SA-Schießübungen (Wannsee): Staatsstreich geplant?

Terboven-Hochzeit, Trauzeuge Hitler: Geheimparole Kolibri

Röhms Kur-Pension Hanselbauer*

»Kopf unter die Wasserleitung...

von Heydebreck

Schmid Hayn von Spreti Schneidhuber Heines

. . . damit Sie frisch sind im Sterben": Liquidierte SA-Führer

SS-Leibstandarten-Chef Dietrich (2.v.l.), Komplicen: »Wissen Sie, was Blutrausch ist?«

Neuer SA-Stabschef Lutze

»Ich kann nichts sagen, kann nichts tun«

* Auf seinem Gut Neudeck (Ostpreußen), 1934.

* In Bad Wiessee; im Eckzimmer des ersten Stocks wurde Röhm verhaftet.

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