Der Patient - nur eine Sammlung von Fakten?
SPIEGEL: Herr Dr. Kienle, in deutschen Großstädten sind Superkliniken gebaut worden, gigantische Komplexe aus Stahl und Glas mit Gestehungspreisen, die pro Bett zwischen mehreren hunderttausend und einer Million Mark liegen. Dennoch sprechen Kritiker davon, daß diese Krankenhäuser nur mehr biologische Reparaturwerkstätten sind, in denen Medizin ohne Menschlichkeit betrieben wird. Woran liegt das?
KIENLE: Das liegt zunächst mal an der technischen Organisation solcher Häuser, an den Wegen zum Beispiel. Die Mitarbeiter kennen sich nicht mehr, kennen oft nicht mal mehr die Leute von der nächsten Station.
SPIEGEL: Was nicht unbedingt zu Lasten des Patienten gehen muß?
KIENLE: Die Größe zwingt zur funktionellen Aufgliederung. So hat etwa ein Unfallverletzter, der nacheinander von Unfallarzt, Anästhesist, Neurochirurg, Internist ohne nennenswerte Kommunikation untersucht wird, kein Gegenüber mehr, das ihn durch die gesamte Situation führt. Jedem muß das Leiden neu dargestellt, bei jedem von vorn angefangen werden. Und der letzte weiß nicht mehr, was der erste getan oder gesagt hat. Der Patient fühlt sich einer Maschinerie ausgeliefert.
SPIEGEL: Ein Gefühl, das dann immerhin im Pflegebereich gemildert werden könnte.
KIENLE: Schön wär"s, dort geht es aber ähnlich zu. Nach dem heute schon in manchen Kliniken üblichen Prinzip der Funktionspflege mißt eine Schwester den ganzen Tag nur den Blutdruck bei den Patienten, die zweite gibt nur
*Mit SPIEGEL-Redakteuren Rolf S. Müller und Hans Joachim Schöps.
noch Spritzen. Der Kranke hat häufig mit zehn oder zwanzig Pflegekräften zu tun, die er oft nur ein einziges Mal sieht. Jeder hat keine Zeit, und keiner weiß was über die Krankengeschichte, das Befinden, den Zustand des Patienten.
SPIEGEL: Wo liegt denn die optimale Bettenzahl einer Klinik, bis zu welcher Größenordnung läßt sich diese Entfremdung verhindern?
KIENLE: Ein Krankenhaus mit mehr als 600 Betten wird so unübersichtlich, daß sich nicht mal die verantwortlichen Leute sehen oder wirklich kennen. Da wird jedes Zugehörigkeitsgefühl, jeder Teamgeist aufgelöst.
SPIEGEL: Soweit wir sehen, werden aus dieser Entwicklung keine Konsequenzen gezogen, es werden weitere Superkliniken gebaut.
KIENLE: Die schlechten Erfahrungen haben sich längst herumgesprochen, aber man ist fixiert auf den Gedanken der Rationalisierung und Technisierung. Und man glaubt immer noch, auf das überkommene Berufsbild der Krankenschwester verzichten zu können, den Pflegebereich verjobben zu müssen, weil alles andere nichts als Sentimentalität sei -- das liegt ja auch so schön im Zug der Zeit. Nur, täuschen Sie sich nicht: Das Problem der Entfremdung, der Inhumanität ist keineswegs auf die Großklinik beschränkt.
SPIEGEL: Liegt es daran, daß, wie der Präsident des Diakonischen Werks Dr. Theodor Schober in einem Vortrag behauptete, das soziale Engagement der Schwestern und auch der Ärzte nicht mehr vergleichbar ist mit früheren Zeiten?
KIENLE: Ich habe ganz gegenteilige Erfahrungen. Die Schwesternschüler und auch die jungen Schwestern in den letzten Jahren haben ein unvergleichlich größeres soziales Engagement als früher, sie kommen weitgehend aus sozialen Motiven auf den Pflegeberuf.
SPIEGEL: Ein merkwürdiger Widerspruch ...
KIENLE: ... der entsteht, wenn man Ursache und Wirkung verwechselt. Das soziale Bestreben will sich äußern im Kontakt mit dem Patienten, in der unmittelbaren Pflege. Wenn aber die Schwester nur noch Erfüllungsgehilfin des Arztes, nur noch in den technischen und administrativen Betrieb als funktionelles Glied eingespannt ist, dem Patienten Tabletten und Spritzen gibt, ihn zum Röntgen bringt und zurückholt, dann wird sie frustriert.
SPIEGEL: Und ihr soziales Engagement weicht einem Job-Bewußtsein?
KIENLE: Sie resigniert, oft unbewußt. Der beklagte Mangel an Engagement ist eine Folge der Maschinerie und nicht die Ursache. Der Trend beginnt bereits bei der Ausbildung. Da müssen die Schülerinnen, vorgeblich des höheren Niveaus wegen, allerhand medizinisches Fachwissen lernen, das sie weder pflegerisch benötigen noch jemals anwenden können, sie werden zu Halbmedizinern getrimmt.
SPIEGEL: Eine medizinische Grundlage ist aber wohl unerläßlich.
KIENLE: Gewiß, aber Laborwerte, medikamentöse Behandlung, Operationsverfahren -- damit werden sie selber nie eigene Entscheidungen treffen. Es wird nicht mehr gesehen, daß Krankenpflege eine ganz eigenständige Aufgabe ist mit spezifischen Anforderungen und auch mit erheblichen Auswirkungen auf den Heilerfolg. Die speziellen Pflegetechniken sowie alles Allgemeinbildende werden im Unterricht wie in der Fortbildung fortgelassen.
SPIEGEL: Da sind doch immer noch die Ärzte, die durch Weisung oder eigenes Verhalten Maßstäbe setzen können.
KIENLE: Auch unseren Medizinern ist inzwischen ausgetrieben worden, daß der Arztberuf der persönlichen Hilfeleistung dient und Sozialreife voraussetzt.
SPIEGEL: Das würde die Ermittlungen des Mannheimer Soziologen Siegust erklären. Bei der Auswertung von 200 Arzt-Patienten-Gesprächen ergab sich, daß die Unterhaltung sich auf durchschnittlich 46 Sekunden täglich beschränkte und der Inhalt sich durchweg auf Essen und Ausscheiden bezog.
KIENLE: Der gute Arzt benötigt eine Art Wahrnehmungsorgan für die Leiden des anderen. Wenn er aber während des Studiums überhaupt keine Chance hat, ein Problembewußtsein für die vielfältigen Lebens- und Leidenssituationen des Patienten zu entwickeln, nur den Eindruck gewinnt, daß der Kranke eine Maschine ist, die man wie ein Auto reparieren kann, und daß alles Persönliche subjektiv und unwissenschaftlich und unzuverlässig ist -- wenn er das fünf, sechs Jahre lang mitgemacht hat, weiß er gar nicht mehr, was er mit einem Gespräch anfangen soll. Der Patient, dem er gegenübersteht, ist nach dem »Gegenstands-Katalog« für das Medizinstudium nur noch eine Sammlung von Fakten und Laborwerten.
SPIEGEL: Dieser seit langem sichtbaren Entwicklung sollte die 1970 verabschiedete neue Ausbildungsordnung für Ärzte entgegenwirken, die verstärktes praktisches Lernen vorschreibt. Ein Fehlschluß?
KIENLE: Das wird weitgehend unterlaufen. Die jüngsten Erhebungen der Fachschaft Medizin an der Universität Essen zum Beispiel haben ergeben, daß drei Viertel der sogenannten Praktika als Vorlesung stattfinden. Nur zu einem Viertel hat der Student die Chance, mal den einen oder anderen Patienten zu untersuchen, vielleicht drei oder vier in einem Fachgebiet während des gesamten Studiums. Nach einer Anhörung im zuständigen Ausschuß des Bundestages am 6. März trifft dies auch für andere Universitäten zu.
SPIEGEL: Das wäre eine rechtswidrige Praxis.
KIENLE: Es werden ohne Zweifel Vorlesungen als Praktikum etikettiert und bescheinigt entgegen der gesetzlichen Regelung. Und während wir früher immerhin eine praktische Prüfung hatten, wobei in jedem Fachgebiet mehrere Patienten untersucht werden mußten, haben wir heute eine reine Quizprüfung. In der Darstellung dieser Prüfung ist sogar ausdrücklich vermerkt, daß die Eignung für den ärztlichen Beruf nicht geprüft wird. Das ist vergleichbar mit der Prüfung der Heilpraktiker, die werden auch nur auf ein bestimmtes Wissen hin getestet und auf das, was ihnen verboten ist, sonst nichts.
SPIEGEL: Welche Gründe hat der Verzicht auf praktische Ausbildung, allein Böswilligkeit wird es wohl nicht sein?
KIENLE: Wo ist es die schon allein. Wesentlich ist das Mißverständnis der Naturwissenschaft, die nicht mehr als wichtiges Hilfsmittel begriffen wird, sondern Selbstzweck geworden ist. Einer der Gründe ist auch der Mangel an Klinik-Plätzen. Wir haben jetzt etwa 10 500 Studienanfänger pro Jahr, können aber nur etwa 5000 Ärzte klinisch weiterbilden. Das heißt, die Hälfte der Ärzte, die mit dem Staatsexamen in die Praxis entlassen wird, hat keine Möglichkeit gehabt, sich im Krankenhaus am Patienten weiterzubilden -- wird aber zur verantwortlichen, rechtsverbindlichen Behandlung von Kranken auch für alle Krankenkassen zugelassen.
SPIEGEL: Wieso fehlen Plätze, Krankenhäuser gibt es doch inzwischen genug?
KIENLE: Die meisten Universitätskliniken weigern sich, städtische oder Kreiskrankenhäuser in die klinische Ausbildung miteinzubeziehen. Rühmliche Ausnahme ist die Universität Bochum, die auch in städtischen Krankenhäusern ausbilden läßt -- und sich deshalb heftige Angriffe von anderen Hochschulen zuzieht, weil angeblich das wissenschaftliche Niveau nicht angemessen ist.
SPIEGEL: Glauben Sie, daß der durchschnittliche Arzt im Allgemeinen Krankenhaus imstande ist, qualifiziert auszubilden?
KIENLE: Ich weiß vor allem, daß die Idee der Ausbildungsordnung -- ein Facharzt betreut acht Studenten, leitet sie an, Patienten zu untersuchen, die Untersuchung auszuwerten und in therapeutische Maßnahmen umzusetzen -- an deutschen Universitätskliniken kaum praktiziert wird, daß die praktische Ausbildung nach der Darstellung der betroffenen Studenten häufig erbärmlich ist.
SPIEGEL: Weil die Ärzteschaft damit überfordert ist?
KIENLE: Weil man, wie auch auf anderen Studiengebieten, erst mal schnell eine Reform gemacht hat, ohne Erfahrungsgrundlage und ohne dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Viele Ärzte sind dieser speziellen didaktischen Situation gegenüber hilflos.
SPIEGEL: Und erledigen das durch Nichterscheinen?
KIENLE: Es gehört ohnehin zur Vorstellungswelt vieler deutscher Hochschullehrer, daß sie nur Vorlesungen halten wollen und glauben, die praktische Ausbildung auf den jüngsten Assistenten abschieben zu können -- der meist selber noch eine Menge zu lernen hat. Das ist nicht überall, aber meistens der Fall. Hinzu kommt, daß für die Habilitation die praktische ärztliche Fähigkeit trotz gegenteiligen Beteuerungen meist keine Rolle spielt. Dadurch wird der Dozent -- also der Hochschullehrer, der spätere Krankenhausdirektor -- von vornherein entmutigt, sich um den Patienten zu kümmern.
SPIEGEL: Das hat doch nur für den Einzelfall Bedeutung.
KIENLE: Keineswegs, das hat eine ganz breite Rückwirkung auf den Studien- und Krankenhausbetrieb, darauf, wie dort der Arztberuf gelehrt und betrieben wird. Wenn man sich vorstellt, daß ein Habilitand in fünf Jahren 30 Publikationen vor der eigentlichen Habilitationsschrift vorlegen soll und die auch noch einen wissenschaftlichen Sinn haben sollen -- der darf gar nicht mehr aus dem Labor herauskommen ...
SPIEGEL: ... und kann später nur weitergeben, was er dort erfahren hat?
KIENLE: Der ärztlich Engagierte. der erfahrene Kliniker. der mehr am Patienten als an der Professur orientiert und nicht gerade ein Genie ist, hat kaum noch eine Chance, auch nur leitender Arzt zu werden. Das alles führt in einen Kreisprozeß, der die Medizin immer weiter wegtreibt vom Patienten.
SPIEGEL: Ein düsteres Zukunftsbild, aber die Entfremdung zwischen Arzt und Patient ist sehr gegenwärtig.
KIENLE: Das hat ganz ähnliche Ursachen -- über die allerdings kaum diskutiert wird. Alle Welt redet von reglementierten Besuchszeiten und zu frühem Wecken, kaum einer macht sich die Mühe, mal nachzuschauen, wie es denn dahin eigentlich kommen konnte. Ein wesentlicher Aspekt zum Beispiel ist der Faktenglaube, von dem die Medizin auf geradezu modische Art beseelt ist und der sie in ein inhumanes und dazu noch sehr kostspieliges Verhältnis zum Kranken gebracht hat.
SPIEGEL: Zuviel Vertrauen in die Apparate also?
KIENLE: Es ist schon eine Apparate-Euphorie, beflügelt von der Annahme, man könne Arzt sein, wie man Physiker oder Chemiker ist. Die Qualität des Apparate-Befundes ist aber entscheidend abhängig von der Qualität des Arztes. Es ist unsinnig zu glauben, ärztliche Mängel könnten durch Masseneinsatz von Laboruntersuchungen ausgeglichen werden. Damit bekommen wir nur sogenannte Laborkranke, die zufällig pathologische Befunde haben, dann entweder weiter untersucht oder überflüssigerweise behandelt werden.
SPIEGEL: Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
KIENLE: Leicht. Sie können zufällig Bakterien im Urin haben, weil ein Harnweg etwas verschmutzt ist. Klare Fehldiagnose: Der Patient hat eine Harnweginfektion, dem geben wir erst mal Antibiotika -- und damit erzeugen sie dann antibiotika-resistente Keime, an denen der Patient wirklich erkranken kann. Auf diese Weise werden viele Leute mit vermeintlichen Krankheiten behandelt, und ist der Laborbefund dann zufällig wieder richtig, täuscht man sich einen Behandlungserfolg vor. Schlimmer noch, daß das auch Laborgesunde ergibt, die tatsächlich krank sind.
SPIEGEL: Eine Urin-Untersuchung, um beim Beispiel zu bleiben, ist ja noch nicht so schrecklich apparativ.
KIENLE: Dabei bleibt"s ja nicht. Es ist doch Übung heute, den Patienten -- ohne durch gezielte Fragestellung, durch Voruntersuchung und die schlichte ärztliche Beobachtung den diagnostischen Rahmen einzugrenzen -- erst mal an der ganzen Latte von Chemie, Technik, Elektronik vorbeilaufen zu lassen, so nach dem Motto: Irgendwas wird man schon finden, so viele Apparate können sich nicht irren. Der Arzt steht erst am Ende dieser Kette der sogenannten Befundsammlung. Er sieht dann nicht mehr den Menschen, der ihm gegenübersitzt, denn das wäre unwissenschaftlich, subjektiv. Das spezifisch ärztliche Vorgehen mit persönlicher Untersuchung vor der Labordiagnostik wäre nicht nur erfolgversprechender, sondern auch weitaus billiger.
SPIEGEL: Grundsätzlich kann der Nutzen der medizinischen Technik wohl nicht bestritten werden.
KIENLE: Gewiß nicht, aber jedes Mehr an Technik erfordert ein Mehr an ärztlicher Qualität. Jede Laboruntersuchung, die nicht wirklich von einer Frage motiviert ist, kann zu Irrtümern und falschen Behandlungen führen.
SPIEGEL: Woher soll der Assistenzarzt, der zuerst mit einem Fall konfrontiert wird, denn die ärztliche Erfahrung nehmen, die dem Apparate-Einsatz die richtige Stelle zuweist?
KIENLE: Nur durch praktische Übung und Korrektur. Die persönliche Urteilsbildung muß die Basis für alles sein. Wenn dem Arzt aber kein Verantwortungsspielraum zuerkannt wird und Laboruntersuchungen um der persönlichen Absicherung willen gemacht werden und damit nur ja alles untersucht worden ist, dann wird die Technik zur Gefahr für den Patienten. Der Arzt, der mit der Fülle der Untersuchungen seiner direkten Verantwortung und Entscheidung ausweicht, bildet keine Erfahrung mehr. Er will nichts versäumen, um sich gegen den Oberarzt abzusichern. Deshalb ergreift er jede nur denkbare diagnostische Maßnahme. Und der Oberarzt sorgt dafür, daß auch jede mögliche therapeutische Maßnahme getroffen wird, um sich selber abzusichern. Ein Kampf aller gegen alle. Dieser Mechanismus hat ein Eigenleben gewonnen, das dem Interesse des Patienten zuwiderläuft.
SPIEGEL: Was zählt denn so, nach Ihrer Erfahrung, zum Repertoire einer solchen Rückversicherung?
KIENLE: Also, da kommt ein Patient ins Krankenhaus mit unklar definierten Beschwerden im Oberbauch. Dann wird erst mal eine Lungenaufnahme gemacht, denn er könnte ja was an der Lunge haben. Dann könnte er etwas am Magen haben, es wird also Magen-Darm-Passage gemacht. EKG wird sowieso gemacht und die ganze Laborlatte auch sowieso. Und dann nutzt man noch die Möglichkeiten der endoskopischen Untersuchung, guckt in jede Körperöffnung, die man hat oder noch nicht hat, weil ja auch hier noch etwas sein könnte. Abgewogen zwischen Nutzen, Risiko und Belastung
* An der Freien Universität Berlin.
wird nicht mehr. Für den unerfahrenen Arzt kommt als Möglichkeit schließlich das ganze Lehrbuch in Betracht.
SPIEGEL: Das ist jetzt keine schwarze Phantasie, die Sie da entwickeln?
KIENLE: Das ist eine Praxis, die ich selber in jahrelanger Tätigkeit in verschiedenen Krankenhäusern erlebt habe.
SPIEGEL: Der Filter der Apparaturen enthebt den Arzt auch der Belastung. Patienten unterschiedlichster Art informieren zu müssen über ihren Zustand oder den Sinn einer Therapie. Ist diese Scheu bis zu einem gewissen Grade nicht auch verständlich, sehr menschlich?
KIENLE: Verständlich schon, aber nicht unüberwindlich. Der werdende Arzt sollte frühzeitig mit der Vielfalt menschlicher Probleme vertraut werden. Medizinstudium bedeutet aber schon seit langem, für sechs oder sieben Jahre aus engerem Sozialkontakt herausgezogen zu sein. Im Hörsaal wird weder gelehrt noch veranlaßt, mit anderen Menschen zu kommunizieren, sich auszudrücken, Konflikte nachzuempfinden. Und dann wird solch ein Arzt plötzlich mit schwerwiegenden Lebensproblemen konfrontiert, auf deren Bewältigung er nicht vorbereitet ist. Er ist ohne sonderliche Erfahrung und soll auf einmal Menschen in Situationen helfen, an die er noch nicht mal gedacht hat.
SPIEGEL: Also nicht nur Standesdünkel, der hinter der seit langem beklagten Verweigerung von Information steht?
KIENLE: Natürlich gibt es ärztlichen Hochmut, aber oft ist es einfach ein Mangel an sozialer Übung. So hat der Widerwille davor, Todkranke aufzuklären, sicher nichts mit Dünkel zu tun, auch nichts mit der gern vorgeschobenen Schonung des Patienten, sondern etwas mit der Angst vor der eigenen Belastung. Man schiebt den sterbenden Patienten in der Klinik nicht nur ins Bad ab, weil kein Platz da ist, man schiebt ihn auch menschlich von sich ab. Ärzte, die sich der Problematik des Patienten nicht gewachsen fühlen, sind immer in Versuchung, ihre menschliche Unterlegenheit auszugleichen, indem sie die Standesüberlegenheit hervorkehren.
SPIEGEL: Krankenhaus humaner zu machen, durch mehr Zuwendung zum Patienten und Verzicht auf Funktionspflege etwa, das kostet an allen Ecken und Enden mehr Zeit, also mehr Personal -- so engagiert dies auch sein mag. Wie soll sich das vereinbaren lassen mit dem unerbittlichen Zwang zur Kostendämpfung?
KIENLE: Dazu ließe sich viel sagen, doch lassen Sie mich nur einmal auf einen Punkt abheben, der in der öffentlichen Diskussion zu kurz kommt. Sie müssen bei den Krankenhaus-Kosten klar unterscheiden zwischen den Fallkosten und den Pflegekosten pro Tag. Wenn Sie, wie es heute geschieht, die Verkürzung der Verweildauer als höchstes Erfolgsziel proklamieren, dann kommen Sie zur sogenannten Drehtür-Methode. Man entläßt Patienten und nimmt sie nachher wieder auf. Und alle können erfolgreich melden, wie stark sie die Verweildauer verkürzen konnten.
SPIEGEL: Aber daß vielfach Leichtkranke zu lange in der Klinik behalten wurden, ist unstreitig.
KIENLE: Wenn ich zu gleicher Zeit Pflegekosten und Verweildauer drücke, dann kann der Krankenhausträger ja nur noch dadurch ausweichen, daß er keine kostenträchtigen Patienten mehr aufnimmt, also die Fallkosten reduziert. Dazu gehören die schwer Krebskranken, dazu gehören die alten Patienten mit Schlaganfällen und vor allem alte Patienten, die operiert werden müssen.
SPIEGEL: Die aber doch nach wie vor auch aufgenommen werden.
KIENLE: Glauben Sie. Ein sehr tüchtiger Berliner Chirurg bekam neulich größte Schwierigkeiten mit der Krankenkasse, weil seine durchschnittliche Verweildauer um zwei Tage zu lang war und auch seine Pflegekosten angestiegen waren.
SPIEGEL: Weil er zu viele Schwerkranke aufgenommen hatte?
KIENLE: Es stellte sich heraus, daß er einen überdurchschnittlichen Anteil an alten Patienten bekam und daß diese Patienten bereits in anderen Krankenhäusern gewesen, aber nach wenigen Tagen als nicht operierbar entlassen worden waren, Offenbar haben verschiedene Kliniken diese Patienten wegen der Gefährdung des Pflegesatzes abgelehnt, operierbare Kranke nicht mehr operiert denn das wäre ins Geld gegangen.
SPIEGEL: Diese Wechselbeziehung zwischen Pflegesatz und teurem Fall müßte doch eigentlich für alle Altersklassen gelten?
KIENLE: Stimmt, aber Alte und Krebskranke lassen sich leichter loswerden. Wenn Sie einen Herzschrittmacher anlegen wollen der kostet 5000 Mark, die Sie von der Kasse nicht ersetzt bekommen. Sie müssen also soundso viele Patienten haben mit geringen Kosten, um den Aufwand für einen Herzschrittmacher wieder hereinzuholen. Oder Sie haben einen Patienten mit schweren Verbrennungen. In solchen Fällen brauchen Sie manchmal pro Tag 1000 Mark für Medikamente -- bei 170 Mark Pflegesatz vielleicht. So bleibt vielen Krankenhäusern nichts anderes übrig, auf einen Schwerkranken eine bestimmte Anzahl Leichtkranke zu verrechnen, die eigentlich gar nicht im Krankenhaus sein müssen, die aber die Kosten wieder hereinholen.
SPIEGEL: Scheitert die Kostendämpfung, die ja unmittelbare Auswirkung auf die Inhumanität einer Klinik haben kann, nicht auch an der Unzulänglichkeit des durchschnittlichen Krankenhaus-Managements?
KIENLE: Ein Krankenhaus-Management gibt es in Deutschland nicht, dank dem Chefarzt-System. Und wenn es zwischen Chefärzten keine Zusammenarbeit gibt, dann ist da keine Instanz, die das organisieren und durchsetzen kann. Deshalb können Infrastrukturen, die quer durch die Fachgebiete notwendig sind, häufig nicht hergestellt werden. Der Anästhesist ist völlig unabhängig vom Chirurgen und der Unfallchirurg vom Bauchchirurgen und der wieder unabhängig vom Internisten.
SPIEGEL: Und jeder kann noch immer machen, was er will?
KIENLE: Überall da, wo der Vertreter eines Fachs auf den anderen angewiesen ist und der blockiert, kann er nichts mehr machen. Der Chirurg, der Regionalanästhesie wünscht, und der Anästhesist kann oder will das nicht, ist machtlos. Da ist kein Management, das dem Mann sagt: Jetzt geh erst mal hin und lern diese Methode. Das ist ein schwerwiegender Mangel des deutschen Krankenhaussystems, der sich besonders kraß im Bereich der Universitätskliniken bemerkbar macht. SPIEGEL: Warum gerade dort?
KIENLE: Wegen der hochgradigen Spezialisierung. Der Ordinarius, der Chefarzt -- die sind wohl unsterblich. Und wenn die Leute sich nicht einig sind, ist völlige Immobilität die Folge. Strukturveränderungen sind dann erst nach Ausscheiden des verantwortlichen Arztes möglich.
SPIEGEL: Hinter solcher Abschottung hat sich offenbar auch der sogenannte Patienten-Versuch in aller Stille entwickelt, ein aus den USA kommender Trend, der vor einigen Jahren auf die Bundesrepublik übergegriffen hat. Der Bielefelder Strafrechtler Martin Fincke spricht in diesem Zusammenhang bereits von vorsätzlichem Totschlag. Zählt das nicht auch zu jenen Hintergründen des inhumanen Krankenhauses, die draußen kaum erörtert werden?
KIENLE: Das Krankenhaus als Experimentierort für sogenannte klinische Versuche, die nicht ausschließlich dem Wohl des Kranken dienen, das ist ein finsteres Kapitel. Ob es sich da um neue Medikamente oder unerprobte sonstige Therapien handelt -- immer geht das wünschenswerte Arzt-Patient-Verhältnis verloren, wenn Patienten zu Figuren in einem Versuchsplan werden, wenn Behandlung oder Nichtbehandlung durch Zufall zugeteilt werden, der Menschen zum Objekt macht.
SPIEGEL: Gibt es bereits Zahlen über den Umfang solcher Versuche?
KIENLE: Keine verbindlichen, aber sicher ist, daß es bei uns inzwischen sehr viele sogenannter kontrollierter klinischer Studien gibt, und mancherorts streitet man sich um den letzten
* Steuerpult einer Neutronentherapieanlage.
Krebspatienten, der noch nicht in eine solche Studie einbezogen ist.
SPIEGEL: Haben sich dabei schon greifbare Resultate eingestellt?
KIENLE: Ja, verheerende. Wir haben im Auftrag des Deutschen Bundestages anläßlich des neuen Arzneimittelgesetzes eine Sichtung der in drei deutschen Fachzeitschriften publizierten klinischen Studien vorgenommen und dabei festgestellt, daß 30 Prozent dieser Studien gegen das Interesse des Patienten gerichtet waren.
SPIEGEL: Behandlung also mit unkalkulierbarem Risiko?
KIENLE: Gegen das Interesse heißt entweder Unterlassung einer hilfreichen Behandlung oder Nichtbeachtung eines besonderen Risikos, zum Beispiel bei radioaktiven Substanzen. Bei bestimmten Untersuchungen waren es sogar 70 Prozent.
SPIEGEL: Können wir das genauer wissen?
KIENLE: Bei den sogenannten pharmakinetischen Studien, die ohne jeden therapeutischen Nutzen sind. Es wird dabei das Schicksal einer Substanz im Organismus geprüft, in welcher Zeit wird"s aufgenommen und wieder abgebaut oder ausgeschieden. Das kann nützlich sein aus rein formalen Gründen, zur Komplettierung -- im Interesse des Patienten liegt es selten. Wir haben im übrigen auch Studien gefunden, bei denen man auf Anwendung lebensrettender Maßnahmen verzichtet hat, um zu einem bestimmten Versuchsergehnis zu kommen.
SPIEGEL: Man hat den Tod von Kranken bewußt in Kauf genommen?
KIENLE: Darauf lief es hinaus, zum Beispiel bei Schockpatienten. Da wurde Behandlung oder Nichtbehandlung nach Zufall gehandhabt.
SPIEGEL: Die sogenannte Doppelblindstudie?
KIENLE: Ja. Nur wurde dann Gott sei Dank die Studie dadurch gestört, daß die Ärzte vor dem Abschluß herausbekamen, wie lebensrettend die Behandlung ist, und dann haben sie eben auch die Patienten versorgt, die nicht behandelt werden sollten.
SPIEGEL: Werden die Patienten darüber informiert, daß sie in solche Versuche einbezogen werden?
KIENLE: Das neue Arzneimittelgesetz fordert, daß bei neuen Substanzen immer das Wohl des Patienten zu berücksichtigen ist, daß er wahrheitsgemäß aufgeklärt wird. Wie weit sie sich des Risikos wirklich bewußt sind und ob es hinreichend erläutert wird, möchte ich dahingestellt sein lassen. Und wie will man zum Beispiel einen Patienten im schweren Schock nach seiner Zustimmung fragen?
SPIEGEL: Noch einmal zur Quantität. Handelt es sich durchweg um Kranke mit ohnehin minimaler Überlebenschance? Wie viele sind es, etwa pro Jahr?
KIENLE: Publik wird nur, was in den Fachblättern steht. Aber es geht mit Sicherheit um beträchtliche Serien, weil zum Teil mehrere hundert bis tausend Patienten einbezogen sind und demnach in etlichen Kliniken alle irgendwie verfügbaren Kranken haben herhalten müssen.
SPIEGEL: Wer vergibt diese Studienaufträge, und wer finanziert sie?
KIENLE: Sie werden weitgehend von der pharmazeutischen Industrie finanziert. Es gibt Studien, die bis zu einer Million Mark kosten.
SPIEGEL: Müssen Versuche nicht bis zu einem gewissen Grad in Kauf genommen werden, um des wissenschaftlichen Fortschritts willen?
KIENLE: Wir haben in dem Forschungsinstitut, dem ich angehöre, einmal untersucht, wie neue Therapien zustande gekommen sind. Alle wesentlichen Medikamente sind an ganz geringen Zahlen von Patienten entdeckt und verifiziert worden bis in die letzte Zeit, an Größenordnungen von 10 oder 20 Patienten.
SPIEGEL: Mithin würde ein Verbot des kontrollierten klinischen Versuchs kein Manko für die Forschung bedeuten?
KIENLE: Die Verfechter des kontrollierten Versuchs können nicht nachweisen, welcher Fortschritt konkret behindert worden wäre, wenn es diese Versuche nicht gegeben hätte. Die Regel für die Anwendung des kontrollierten Versuchs ist, daß für den Arzt genauso viele Gründe für wie gegen eine Anwendung eines Arzneimittels sprechen, daß also eine echte Patt-Situation da ist. Dann ist der kontrollierte Versuch ein ausgezeichnetes Mittel, eine Entscheidung zu finden. Aber nicht dann, wenn ein Arzneimittel marktgängiger gemacht werden soll, weil seine Wirksamkeit angeblich durch den kontrollierten Versuch bewiesen ist.
SPIEGEL: Was veranlaßt die Ärzte, bei den Patienten-Versuchen so eifrig mitzuspielen?
KIENLE: Zunächst ist da natürlich eine finanzielle Versuchung. Andererseits stehen die Ärzte unter dem Druck, therapeutische Erfolge, die man ihnen ohne Großversuch nicht abnimmt, durch kontrollierte Studien zu beweisen. Das entspricht der gängigen Denkrichtung. Eine Rolle spielen auch wissenschaftliche Arbeiten, die nach dem gegenwärtigen Meinungsstand in der Hochschulmedizin einem solchen Qualifikationszwang unterworfen sind.
SPIEGEL: Damit immer noch ein neues Schlafmittel oder neues Rheumamittelchen auf den Markt kommt?
KIENLE: Nicht nur auf den Markt kommt, sondern im Sinne der Verkaufsstrategie mit mehr wissenschaftlichem Material auf den Markt gebracht werden kann. Uns ist kürzlich ein neues Medikament angeboten worden, für das 54 kontrollierte klinische Versuche vorgeführt wurden. Ich habe nicht entdecken können, warum man nach dem ersten oder zweiten Versuch noch mehr benötigte.
SPIEGEL: Hat die Firma es Ihnen nicht verraten?
KIENLE: Doch. Sie teilte mir mit, das sei notwendig gewesen, um das Mittel in verschiedenen Ländern registrieren lassen zu können.
SPIEGEL: Herr Dr. Kienle, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.