ISRAEL / EHEGESETZE Der Rabbi und der Bräutigam
Als Anfang Mai die sommerliche Sitzung der Knesset - des israelischen Parlamentes - eröffnet wurde, stand auf der Tagesordnung eine heikle Gesetzesvorlage, die unter Umständen Ausgangspunkt einer tiefgehenden kulturellen Spaltung innerhalb des Volkes werden kann. In dem Staat, der gerade sieben Jahre alt ist, sind die über 3000 Jahre alten religiösen Vorstellungen und Traditionen des Judentums mit den Ansprüchen junger und fortschrittlicher Menschen zusammengeprallt.
Die Geschichte begann am 15. März im Zimmer Nr. 32 des Hotels »Gazit« am Dizengoffplatz in Tel Aviv. Dort drängten sich die Besucher. Journalisten, Filmleute, Rundfunkreporter, führende Juristen des Landes, Parlamentsabgeordnete, Frauenrechtlerinnen und Vertreter von Parteien und Verbänden gaben sich die Türklinke in die Hand.
Im Hotelzimmer Nr. 32 wohnte weder ein hoher Diplomat aus Übersee noch ein Meisterboxer oder eine internationale Jazzgröße. Der hochgewachsene junge Mann mit dem ausgemergelten Gesicht im fadenscheinigen rotkarierten Schlafrock, der seine Besucher in halb liegender Stellung auf dem Sofa empfing, war ein unbekannter Kunstmaler namens Mosche Barak. Auf seine Weise versuchte er hier, dem ewigen Kampf des Fortschritts gegen verstaubtes Recht eine eigene Note zu geben.
Der Maler Barak war in den Hungerstreik getreten. Er wollte damit die Regierung
zwingen, in Israel die Zivilehe einzuführen. Die Frau seines Herzens ist eine blonde, christliche Jugoslawin, die das Reich Titos wegen antikommunistischer Tätigkeit verlassen mußte und nach Israel ausgewandert war, weil sie gehört hatte, dieses Land sei der Hort der Demokratie und des Fortschritts im Nahen Osten.
Um ihretwillen hatte Mosche Barak 1953 Frau und Kinder verlassen. Aus alter Familienanhänglichkeit nannte er die Geliebte nach seinem vierjährigen Töchterchen, das den schönen hebräischen Namen Oria - die Leuchte - führt.
Nach zwei Jahren friedlich-idyllischen Liebesglücks in einem renovierten Kuhstall erwachte jedoch in Barak das bürgerliche Gewissen. Er eilte zum Standesamt, um seine neue Ehe zu legalisieren.
Doch zu seinem maßlosen Erstaunen erfuhr der weltentrückte Künstler vom Standesbeamten, daß für Eheschließungen nur das Rabbinat zuständig und daß nach den mosaischen Religionsvorschriften eine Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Konfessionen nicht statthaft sei. Entweder solle Oria zum Judentum übertreten oder Barak sich taufen und von einem christlichen Pastor trauen lassen.
Oria tobte: Das sei Gewissenszwang! Sie fühle sich als brave israelische Staatsbürgerin, spreche perfekt hebräisch und liebe das Land; aber sie wolle ihrem christlichen Glauben treu bleiben.
Barak schrieb unzählige Briefe an alle Prominenten des Landes und drohte, er werde in einen Hungerstreik treten - so lange, bis ihm die gesetzliche Möglichkeit gegeben werde, die Erwählte seines Herzens ohne kirchliche Trauung heimzuführen.
Die Drohung mit dem Hungerstreik aber brachte in Israel, das von dem Ehrgeiz beherrscht
ist, unter seiner Bevölkerung keinen Hungernden zu haben, alle Leute außer Fassung. Staatspräsident Isaak Ben-Zwi ließ Barak durch einen dringenden Telephonanruf mitteilen, er sei mit dem Herzen auf seiner Seite, bitte ihn aber, von seinem Vorhaben abzusehen. Die gerade im Lande weilende Witwe des verstorbenen amerikanischen Präsidenten Roosevelt schickte ihre Privatsekretärin zu dem gleichen Zweck in das Hotel Gazit.
Der Generalstaatsanwalt Haim Cohen, ein etwas robuster Herr, war weniger zimperlich: »Gesetzesänderungen gehen in unserem Lande nur auf demokratischem Wege vor sich, durch Einbringung einer Gesetzesvorlage in der Knesset, und ich bete zu Gott, daß dies nie anders werden möge.« Die Erhaltung der demokratischen Grundrechte sei ein so hohes Gut, daß es auch den Hungertod eines einzelnen wert sei, meinte er.
Andere erboten sich, dem Paar eine Reise nach Zypern zu finanzieren, wo sie sich vor den britischen Behörden hätten trauen lassen können. Doch Barak lehnte alle gut- oder bösgemeinten Einwirkungsversuche hohnlächelnd ab.
Auch Oria blieb unbeugsam und standhaft. Barak kämpfe für ein Prinzip bis zum letzten Atemzug, sagte sie, und sie sei bereit, das Leben ihres Geliebten dafür einzusetzen. Umsichtig hatte Barak vorher bei einer Versicherungsgesellschaft eine
Police gegen Hungertod beantragt und war erstaunt gewesen, als ihm die Gesellschaft mitteilte, daß sie diese Versicherungssparte nicht führe.
Zunächst hatte das aufsehenerregende Experiment für Barak das Ergebnis, daß der Absatz seiner bis dahin zumeist unverkäuflichen Bilder sprunghaft anstieg. Am 13. Hungertag erhielt Barak vom Parlamentspräsidenten Sprinzak die Zusicherung, daß gleich nach den Parlamentsferien im Mai eine Gesetzesvorlage in seinem Sinne in der Knesset eingebracht werde. Auf Geheiß des antiklerikalen Komitees, das die Aktion organisiert hatte, stellte Barak den Hungerstreik ein.
Doch Baraks Demonstration hatte in der Öffentlichkeit bereits eine stürmische Diskussion entfesselt, die auch nach dem Ende des Hungerstreiks nicht abebbte. Komitees bildeten sich, Volksversammlungen wurden abgehalten, und eine Sturzflut von Leserzuschriften ergoß sich über die Redaktionen der israelischen Presse.
Der Fall rührte nämlich an einen wunden Punkt im öffentlichen Leben des jungen Staates. Im Mandatsland Palästina war das Familienrecht, türkischem und britischem Kolonialbrauch gemäß, Sache der Religionsgemeinschaften. Der Staat Israel hat in seinem 1953 verabschiedeten Gesetz über Eheschließungen und -scheidungen diesen Zustand beibehalten.
Das gegenwärtige mosaische Eherecht fußt auf dem alttestamentarischen Familienrecht, das im dritten und fünften Buch Mose (Levitikus und Deuteronomium) niedergelegt ist. Es bestimmt etwa,
▷ daß Abkömmlinge der alten jüdischen Priesterkaste, also zum Beispiel Männer mit dem Namen Cohen oder Katz, keine geschiedene Frau heiraten dürfen,
▷ daß ein Ehegatte nicht die Möglichkeit hat, jemals wieder zu heiraten, wenn der Ehepartner verschollen ist, ohne daß eine Aussage zweier Augenzeugen über seinen Tod vorliegt,
▷ daß die Witwe eines kinderlos Verstorbenen nicht wieder heiraten darf, sofern nicht dessen Bruder ihr in einem feierlich-dramatischen rituellen Akt vorher seine Zustimmung gegeben hat*), und
▷ daß Ehen mit Andersgläubigen religionsgesetzlich ungültig sind.
Ein großer Teil der öffentlichen Meinung revoltiert jetzt gegen diesen Zustand. Die politische Linke, die noch stark vom antiklerikalen Affekt beherrscht ist, will das öffentliche Leben überhaupt von allen kirchlichen Bindungen befreien, während der Großteil der modern denkenden Bevölkerung, geführt von der liberalen »Progressiven Partei«, die unbeschränkte Freiheit des Individuums, insbesondere im privaten Bereich, gewahrt wissen und die grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche einführen will. Der Fall Barak wurde vom kämpferischen Teil der Antiklerikalen aufgegriffen und zum Vorgefecht eines nach seiner Meinung unvermeidlichen Kulturkampfes gemacht.
Das religiöse Lager, repräsentiert durch den Großrabbiner von Israel, Dr. phil. Dr. jur. Isaac Halevi Herzog, argumentiert dagegen, daß die üblichen Schlagworte - wie »Klerikalismus« und »Trennung von Staat und Kirche« - auf das jüdische Volk nicht zutreffen. Das jüdische Volk sei eine untrennbare nationalreligiöse Einheit, und sein eigentliches Wesen werde durch diesen Doppelcharakter bestimmt. Die Eigenart des jüdischen Volkes bestehe eben darin, daß es nicht »wie alle Völker« sein dürfe, andernfalls erweise sich sein zweitausendjähriges Martyrium als eine historische Sinnlosigkeit.
Solche Ideen sind die Grundlage des konsequenten Kampfes der orthodoxen rabbinischen Autoritäten in der ganzen Welt gegen die Assimilation des Judentums und gegen die Mischehen. Ein Nationaljude christlichen Glaubens, wie ihn die jüngst entstandene, von der christlichen Missionsbewegung geförderte Sekte der »messianischen Juden« propagiert, sei ein Unsinn in sich, meinen diese Rabbiner. Wenn in Israel die Mischehe erlaubt würde, sagen sie, so würde das die Zerstörung der jüdischen Diaspora - der Gemeinschaft aller außerhalb Israels lebenden Juden - bedeuten, der immer noch
*) Diese religiöse Ehevorstellung geht auf die Levirats- oder Schwagerehe zurück. Nach biblischer Überlieferung besteht das Levirat in dem Recht und der Pflicht des jüngeren Bruders, die Witwe des älteren zu heiraten und zu versorgen. 88 Prozent des jüdischen Volkes angehören. Ein Überhandnehmen der Mischehen in der jüdischen Diaspora würde - da erfahrungsgemäß der andersgläubige Eheteil die Oberhand behalte - nicht nur zu einer religiösen, sondern auch zu einer biologischen und nationalen Auflösung des Judentums in der Welt führen. Das Thoragesetz*), das ein einheitlich durchgebildetes, gottgewolltes, ewig gültiges Lebenssystem sei, könne grundsätzlich - ebenso wie der Katholizismus - keinerlei rational bedingte Abweichungen anerkennen, da sonst ein Ende der Abbröckelungen vom Gesetz nicht abzusehen sei.
Doch auch im strenggläubigen Lager gibt es von diesem offiziellen Standpunkt abweichende Tendenzen: Eine Gruppe, geführt von dem früheren Kultusminister Maimon, befürwortet ein großes jüdisches Konzil, zusammengesetzt aus den bedeutendsten Rabbinern der Weltjudenheit, das notwendige zeitgemäße Reformen des Religionsgesetzes auf legalem Wege vornehmen soll, während die Gruppe der Neturej Karta ("Hüter der Stadt") in Jerusalem der wesensmäßigen Widersprüche zwischen Religion und Staat wegen den Staat Israel überhaupt ablehnt.
Der Malerjüngling Mosche Barak hat wahrscheinlich gar nicht gewußt, daß er mit seiner Demonstration einen der tiefsten Gegensätze im Innenleben des jungen Staates aufgerührt hat, den Kampf um die rechte Proportion zwischen der weltlichen und der geistlichen Komponente in der Wesensanlage des jüdischen Volkes.
Da der Fall Barak, so meinte Justizminister Rosen, im kommenden Wahlkampf eine der Hauptkontroversen bilden werde, sei eine sachliche und leidenschaftslose parlamentarische Behandlung der Angelegenheit jetzt nicht gewährleistet.
*) Die in den fünf Büchern Mose (Pentateuch) enthaltenen Gesetzesvorschriften.