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Artikel 53 / 84

Der Rat der sozialistischen Götter

Wie die SED die DDR regiert (III) / Von Franz Loeser _(Bund-Verlag, Köln 1984 ) *
aus DER SPIEGEL 34/1984

Als ich zum erstenmal die Eingangshalle der Ost-Berliner Humboldt-Universität betrat, um meine philosophische Laufbahn an dieser ehrwürdigen Alma mater zu beginnen, war ich zutiefst beeindruckt. Nicht nur hatte der große Hegel seine Philosophievorlesungen hier gehalten, seine Lehre von der Dialektik hier entwickelt. Eingemeißelt in Marmor in goldenen Lettern konnte ich hier überdies die berühmte Feuerbach-These von Karl Marx lesen: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Meine Philosophieprofessoren in den USA und England hatten - in ihrem ernsthaften Bemühen um linguistische Klarheit - sich ihre Köpfe darüber zerbrochen, ob zum Beispiel ein Nagel wirklich ein Nagel sei, und was man meine, wenn man sagt: Das ist ein Nagel. Aber offensichtlich handelte es sich dabei um Nägel ohne Köpfe, denn auf die brennenden Probleme unserer Zeit wußten die Philosophen keine Antwort.

Niemand hat die Misere einer derartigen linguistischen Philosophie damals besser charakterisiert als der Engländer Bertrand Russell: »Angefangen von Thales haben die Philosophen versucht, die Welt zu verstehen. Ich glaube nicht, daß die neue Philosophie diese Tradition weiterführt. Sie scheint sich nicht mit der Welt und unserem Verhältnis zu ihr zu beschäftigen, sondern nur mit der Art und Weise, in der törichte Menschen törichte Dinge aussagen. Wenn das alles ist, was die Philosophie zu bieten hat, so ist sie nicht wert, studiert zu werden.«

Aber in der DDR machten die Philosophen Nägel mit Köpfen. Hier war die Philosophie, befreit von Profitstreben und Ausbeutung, zur Weltanschauung der gesamten Gesellschaft, zur theoretischen Richtschnur für die praktische Politik von Partei und Regierung herangereift. Hier wurde die Philosophie und wurden auch die Philosophen wirklich ernst genommen, wurden sie nicht als weltfremde, intellektuelle Spinner abgetan, übten sie einen tiefgreifenden Einfluß auf praktisch jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens aus.

Ein Staat, so schien es mir, wie er Plato vorgeschwebt hatte, in dem die Philosophen die wahren Herrscher der Gesellschaft sind.

Im Sinne der Marxschen Feuerbach-These waren die Philosophen der DDR aufgerufen, die Welt zu verändern. Und so war ich begeistert, als ich den Parteiauftrag erhielt, zusammen mit meinen Studenten in eine der eben neu gegründeten LPGs zu fahren, um den Genossenschaftsbauern bei der Ernte zu helfen. Von dem Vorsitzenden der LPG höchstpersönlich erhielt ich den ehrenvollen Auftrag, deren gesamten Kuhbestand, ganze dreißig Kühe, in das nächstgelegene Dorf zu bringen.

Für einen blutigen Laien in Sachen Landwirtschaft, wie ich es war, mochte sich das recht kompliziert anhören. Aber in Wirklichkeit war es ganz einfach. Man nehme einen Pferdewagen, binde eine Kuh hinten dran, schwinge sich auf den Kutschersitz, brülle Hühott, und schon folgen die restlichen 29 Kühe wie auf ein Kommando der am Pferdewagen angespannten Leitkuh. Es war ein großartiges Gefühl hoch oben auf meinem Kutschersitz. Wie wundervoll, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie auch verändern zu können!

Da, ganz plötzlich, ein ominöses Stampfen. Ich schaute auf. Alle meine Kühe waren in einem riesigen Kornfeld verschwunden. Nur eine Staubwolke sah ich noch von ihnen. Wie ein geölter Blitz sprang ich von meinem Kutschersitz und rannte den Kühen ins Kornfeld hinterher. Das Kornfeld wirkte auf mich wie ein undurchdringlicher Dschungel. Je tiefer ich hineinlief, um so mehr verlor ich meine Orientierung. Weit, ganz weit weg, hörte ich gelegentlich ein provokatorisches Muh-Muh.

Ich schimpfte, ich fluchte, ich flehte - es half nichts. Der gesamte mir anvertraute Kuhbestand der LPG war verloren. Zurück auf meinem Kutschersitz überfiel mich ein schreckliches Schamgefühl. Was für eine Schande für mich, für die marxistisch-leninistische Philosophie, für meine großen Vorbilder Marx, Feuerbach, Hegel und Kant!

Nach meiner Rückkehr vom Ernteeinsatz erhielt ich einen weiteren Parteiauftrag: Ich wurde in die Abteilung Wissenschaften im Großen Haus gerufen und gebeten, einen polemischen Artikel in der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« gegen die ethische Theorie des

damaligen stellvertretenden Direktors des Instituts für Gesellschaftswissenschaften, den Philosophen Professor Matthäus Klein, zu veröffentlichen.

Mir wurde erklärt, daß es sich ausschließlich um einen wissenschaftlichen Meinungsstreit handele. Ich war damals zu unerfahren und naiv, um diesen Parteiauftrag zu durchschauen. In Wirklichkeit handelte es sich nämlich um einen politischen Machtkampf. Der Parteiapparat wollte den stellvertretenden Direktor dieses einflußreichen Instituts entmachten und sich dafür eine akademische Rechtfertigung schaffen.

Nach dem Erscheinen meines Artikels wurde Professor Klein dann auch seines Amtes enthoben. Und so lernte ich zum erstenmal, daß nicht die Philosophen, sondern die Parteiapparatschiks die wahren Herrscher im Staat sind. Nicht Plato und auch nicht Marx, sondern Stalin war das Vorbild.

Wessen Vorbild? Wer sind die Funktionäre, die damals wie heute die absolute Verfügungsgewalt über die Wissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik haben?

Fragt man Wissenschaftler in der DDR, was sie von ihrem Führungsgremium halten, so wird die Antwort, vorausgesetzt man ist unter sich, wahrscheinlich ein verächtliches Ha-Ha sein. Dieses höhnische Gelächter hat eine tiefere Bedeutung. Die Anfangsbuchstaben »H« stehen für die Namen der Parteifunktionäre Hager und Hörnig, die Mächtigsten der Mächtigen unter den Hütern der reinen Lehre.

Kurt Hager, langjähriger kommunistischer Funktionär, der während des Faschismus unter dem Decknamen Felix Albin nach England geflüchtet war, ohne dort im Widerstandskampf besonders in Erscheinung zu treten, wurde von Ulbricht zum Sekretär für Ideologie, Wissenschaft und Kultur sowie, 1963, zum Politbüromitglied ernannt. Da Hager weder studiert noch jemals wissenschaftlich oder künstlerisch gearbeitet hatte, bekam er schon zuvor einen Professorentitel, um ihm das für seine Funktion erforderliche akademische Ansehen zu verleihen.

Ich erinnere mich, wie Hager Ende der fünfziger Jahre eine Philosophievorlesung an der Humboldt-Universität halten sollte. Obwohl ihm ein Assistent zur Ausarbeitung des Textes zur Verfügung gestellt wurde, scheiterte er. Die Vorlesung mußte abgesagt werden.

Doch Hagers Fähigkeiten als Funktionär sind unbestritten: Er hat es verstanden, die frappierendsten ideologischen Wendungen und Irrwege der Parteiführung zu überstehen.

Erst ein glühender Verehrer Stalins, korrigierte er sich nach dessen Tod und wurde einer von Stalins schärfsten Kritikern. Er trug maßgeblich zum Personenkult Ulbrichts bei, war aber auch einer der ersten im Politbüro, die nach dessen Sturz eine Diffamierungskampagne gegen Ulbricht starteten und den Personenkult um Honecker inszenierten.

Heute gilt Hager als der unangefochtene Ideologiepapst der DDR, die absolute Autorität, was das Wahre, das Gute und das Schöne im realen Sozialismus angeht. Etwa nach dem Motto: Irren ist menschlich, aber recht haben ist parteilich.

Die unglaubliche Selbstherrlichkeit und Arroganz, gepaart mit einer kaum zu überbietenden Ignoranz, mit denen er hervorragende Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler, Architekten, Bildhauer, Mediziner oder Komponisten zurechtgewiesen hat, darunter auch Bert Brecht, gehören schon nicht mehr in den Bereich eines entarteten Sozialismus, sondern in den einer geistigen Malade.

Dennoch: Nach dem Motto Unter Blinden ist der Einäugige König bildet Hager im Politbüro einen positiven Gegenpol zu der Engstirnigkeit, der Borniertheit und Intelligenzfeindlichkeit anderer Politbüromitglieder, was Wissenschaft und Kultur betrifft. In dieser Hinsicht hat Hager im Politbüro keinen leichten Stand.

Hager ist im Politbüro nicht in erster Linie dafür verantwortlich, neue, schöpferische Errungenschaften in Wissenschaft und Kultur zu fördern. Ganz im Gegenteil: Er hat dafür zu sorgen, daß die Intelligenz der Parteiführung keine neuen Probleme und Schwierigkeiten beschert. Ihm und seinem Apparat kommt also nicht die Rolle des Schöpfers, sondern des Aufpassers zu. Herrschen Ruhe und Ordnung an der ideologischen Front, so hat Hager seine Aufgabe parteilich erfüllt. Machen sich jedoch Unruhe, Kritik, Abweichungen oder gar Opposition unter der Intelligenz bemerkbar, dann gerät Hager im Politbüro in das Kreuzfeuer der Kritik.

Hager zur Seite steht Hannes Hörnig, Leiter der Abteilung Wissenschaften im Großen Haus. Der 63jährige gehört seit

der Gründung der DDR der privilegierten Kaste der Spitzenfunktionäre der SED an, der ZK-Abteilung steht er schon seit 1955 vor. Der gelernte Schlosser und Diplom-Gesellschaftswissenschaftler, wissenschaftlich gänzlich ungebildet und unfähig, läßt sich auch heute noch allzugern als einfacher Arbeiter porträtieren.

Aber er ist weder Arbeiter noch Wissenschaftler, sondern nur ein Apparatschik, der über das Schicksal der Wissenschaft in der DDR entscheidet. Auch ihm wurde kürzlich nicht nur ein Professorentitel, sondern auch eine Ehrendoktorwürde verliehen.

Ähnlich wie Hager für das Politbüro, so hat Hörnig für seinen Hager aufzupassen, daß Ruhe und Parteilinie an der Front der Wissenschaft herrschen. Diese Aufpasserfunktion Hagers, Hörnigs und der Abteilung Wissenschaften bewirkt zwangsläufig eine erzkonservative Einstellung des Parteiapparats gegenüber der Wissenschaft. Alles Neue, das den routinemäßigen Ablauf stören und Probleme oder Schwierigkeiten schaffen könnte, jeglicher wissenschaftliche Vorstoß in das Unbekannte, der zwangsläufig das Risiko von Fehlern in sich birgt, kurzum alles Schöpferische, das Unruhe und Widerspruch auslösen könnte, ist dem Apparat grundsätzlich suspekt.

Die Konsequenz ist eine verhängnisvolle Lähmung der schöpferischen Entwicklung von Wissenschaft und Kultur. Sie verurteilt die Wissenschaft letztendlich zur Servilität und zur Sterilität.

Paradox daran ist, daß die Führungsgremien des realen Sozialismus die Misere ihrer Wissenschaft offensichtlich selbst am deutlichsten erkennen. So erklärte Breschnew auf dem 26. Parteitag der KPdSU: »Die Philosophen ziehen es oftmals vor, Bewiesenes zu beweisen, anstatt die neuen Erscheinungen des Lebens zu erfassen.« Und sein Nachfolger Andropow kritisierte kurz nach seinem Amtsantritt: »Immer stärker spüren wir zum Beispiel die Notwendigkeit ernsthafter Forschungen auf dem Gebiet der Politischen Ökonomie des Sozialismus.«

Aber wer trägt die Schuld an der Misere der Philosophie und der Gesellschaftswissenschaften? Nicht die Wissenschaftler, wie Breschnew und Andropow vorgeben, sondern der diktatorisch-bürokratische Parteiapparat, der die Wissenschaftler zu Sterilität und Servilität verdammt.

Doch nicht nur im Konservatismus und der Rechthaberei des Parteiapparats liegen die Schwierigkeiten für die Wissenschaft im realen Sozialismus. Mindestens ebenso schwerwiegend ist die Tatsache, daß die absolute Verfügungsgewalt über die Wissenschaftsentwicklung in den Händen einiger weniger - und in der Regel noch dazu wissenschaftlich unqualifizierter - Funktionäre konzentriert ist.

Das Schicksal der Wissenschaft ist abhängig von der Willkür dieser Funktionäre, von ihrem beschränkten geistigen Niveau, ihrer wissenschaftlichen Unerfahrenheit und Ignoranz, ihrer Selbstherrlichkeit und Arroganz sowie ihrem politischen Opportunismus.

Die DDR ist ein beredtes Beispiel dafür. Als Ulbricht noch an der Macht war, beschloß er, daß solche Disziplinen wie Ethik, Heuristik, Soziologie und Kybernetik imperialistische Wissenschaften seien, die nicht in der DDR betrieben werden dürften. Als er aber dann mitbekam, daß diese Disziplinen durchaus von Bedeutung für die Macht der Diktatur sein können, schwang das Pendel von absolutem Verbot auf Durchsetzung um jeden Preis.

So wurde etwa die bislang verbotene Ethik auf dem V. Parteitag 1958 zum Allheilmittel für die Gebrechen des realen Sozialismus erhoben. Ulbricht persönlich verfaßte die »Zehn Gebote der sozialistischen Moral«, die von jedem Bürger, angefangen vom Schulkind bis zum Spitzenfunktionär, befolgt werden mußten: _____« 1. Du sollst dich stets für die internationale » _____« Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen » _____« sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller » _____« sozialistischen Länder einsetzen. » _____« 2. Du sollst dein Vaterland lieben und stets bereit » _____« sein, deine ganze Kraft und Fähigkeit für die » _____« Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen. » _____« 3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen » _____« durch den Menschen zu beseitigen. » _____« 4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus » _____« vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren » _____« Leben für alle Werktätigen. » _____« 5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste » _____« der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen » _____« Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine » _____« Kritik beherzigen. » _____« 6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren. » _____« 7. Du sollst nach Verbesserung deiner Leistungen » _____« streben, sparsam sein und die sozialistische » _____« Arbeitsdisziplin festigen. » _____« 8. Du sollst deine Kinder im Geiste des Friedens und » _____« des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten » _____« und körperlich gestählten Menschen erziehen. » _(Mit dem sowjetischen KP-Chef Nikita ) _(Chruschtschow auf dem V. SED-Parteitag ) _(1958. ) _____« 9. Du sollst sauber und anständig leben und deine » _____« Familie achten. » _____« 10. Du sollst Solidarität mit den um ihre nationale » _____« Befreiung kämpfenden und den ihre nationale » _____« Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben. »

Ähnlich erging es der Soziologie. Als die DDR 1959 zum erstenmal eine Einladung zur Teilnahme an dem Weltkongreß für Soziologie erhielt, sah der Parteiapparat eine Chance, das internationale Ansehen der DDR aufzuwerten.

Ich gehörte zu der Delegation von Philosophen (Soziologen gab es keine in der DDR), die den Parteiauftrag erhielt, an diesem Kongreß teilzunehmen. Nach unserer Rückkehr mußten wir berichten, daß die DDR nur dann Mitglied der soziologischen Weltorganisation werden könne, wenn auch tatsächlich Soziologie in der DDR betrieben werde. Das Politbüro trat zusammen. Die Entscheidung war einmütig: Von jetzt an war die Soziologie in der DDR hoffähig. Die vormals imperialistische wurde zu einer sozialistischen Disziplin umfunktioniert.

Man gründete sogar ein Institut für Meinungsforschung. Als sich allerdings herausstellte, daß es auch Meinungen in der DDR gibt, die der Diktatur nicht wohlwollend gesinnt waren, schaffte man das Institut Ende der 70er Jahre wieder ab. Die Begründung der Parteiführung: Wir brauchen keine Anstalt, die parteifeindliche Meinungen sammelt.

Heute sind die DDR-Soziologen in der mißlichen Lage, zwar soziologische Untersuchungen zu den von der ZK-Abteilung Wissenschaften vorgegebenen Themen durchführen zu können, dann aber in der Regel ihre Forschungsergebnisse nicht veröffentlichen zu dürfen.

Dabei sollte man die Bemühungen der DDR-Gesellschaftswissenschaftler nicht unterschätzen. Immer wieder gelingt es ihnen, trotz Diktatur und Bürokratie, beachtliche wissenschaftliche Leistungen zu vollbringen. Eine solche ist die hervorragende Aufarbeitung des antifaschistischen Widerstandskampfes durch die DDR-Historiker, an der sich die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik ein Beispiel nehmen kann.

Doch auch die Historiker bekommen den Druck der Diktatur zu spüren. Einer der führenden Geschichtswissenschaftler der DDR sagte mir einmal, er fühle sich wie ein Hofschreiber der Parteiführung. Immer wenn ein Führungswechsel stattfinde, müsse man die Geschichte der DDR neu schreiben.

Auch ich selbst habe mit der Geschichtsschreibung so meine persönlichen Erfahrungen gemacht. 1980 erschien in der DDR meine Autobiographie »Die Abenteuer eines Emigranten«. Das Buch war ein Bestseller, aber eine zweite Auflage wurde nicht genehmigt.

Der Grund? Ich hatte in dem Buch über die deutsche antifaschistische Jugendorganisation in England während des Krieges berichtet. Ihr Name: Freie Deutsche Jugend. Aber die »Freie Deutsche Jugend« wurde von Erich Honecker höchstpersönlich und erst 1946 in der DDR gegründet. Ebendrum konnte es vorher keine »Freie Deutsche Jugend« gegeben haben. Das ist auch der Grund dafür, daß über die Geschichte des Widerstandskampfes der »Freien Deutschen Jugend« in England praktisch nichts in der DDR veröffentlicht wurde.

Natürlich schlägt der in der DDR grassierende politische Opportunismus voll auf die Wissenschaften durch. Jüngstes Beispiel: der Reformator Martin Luther.

1983 wurde auf Beschluß des Politbüros nicht nur das Jubiläum des 100. Todestages von Karl Marx, sondern auch der 500. Geburtstag von Martin Luther gefeiert. Die Wissenschaft erhielt den Auftrag, sich in diesem Jahr intensiv mit dem Reformator zu beschäftigen - nicht etwa, weil die Persönlichkeit Luthers plötzlich der SED-Führung ins ideologische Konzept gepaßt hätte. Der einzige Grund, die Würdigung durchzupauken, war die politische Opportunität: Mit Hilfe der Luther-Ehrung hoffte die Parteispitze, das Ansehen der DDR international aufzuwerten. (Und einiges an Devisen sollten gläubige Lutheraner aus aller Welt als Touristen auch in die DDR-Staatskasse bringen.)

Sobald das Luther-Jahr vorbei war, wurde auch die wissenschaftliche Luther-Forschung wieder eingestellt. Haften blieb nur der Spott des DDR-Volkes. Das erweiterte die Devise des »Kommunistischen Manifests« um ein paar fromme Worte: »Proletarier aller Länder, um Gottes willen, vereinigt euch!«

Es war 1958, als Ulbricht auf dem V. Parteitag die ökonomische Hauptaufgabe verkündete: Innerhalb von drei Jahren sollte die DDR die Bundesrepublik im Pro-Kopf-Verbrauch der wichtigsten Konsumgüter übertreffen und somit die Überlegenheit des realen Sozialismus gegenüber dem Imperialismus beweisen. Ulbricht entwickelte bald sogar eine Methode, diese Überlegenheit zu erreichen: Überholen ohne einzuholen.

Unsere Aufgabe als Philosophen und Propagandisten war es, diese These massenwirksam und überzeugend der Bevölkerung zu erklären. Aber keiner von uns verstand, wie Ulbricht sich das »Überholen ohne einzuholen« vorstellte. Und konnte man den Imperialismus überhaupt innerhalb weniger Jahre überholen?

»Das ist eure Sache«, meinte der Funktionär der Abteilung Wissenschaften im Großen Haus, der uns propagandistisch anleitete, »schließlich seid ihr ja die Philosophen.«

Dann kam die Mauer, die philosophisch zu untermauern war, der Prager Frühling und die polnische Solidarnosc, die die Antithesen jeglichen Frühlings und jeder Solidarität zu sein hatten, und schließlich Andropows auch für die DDR verbindliche These: In den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts tritt der reale Sozialismus in ein Entwicklungsstadium ein, das »als die Vervollkommnung des entwickelten Sozialismus bezeichnet werden könnte, mit der der schrittweise Übergang zum Kommunismus einhergehen wird«.

Zu diesem Zeitpunkt, zu dem breite Schichten der Bevölkerung in der Sowjet-Union verhungern müßten, wenn man nicht Millionen Tonnen Weizen aus

den Vereinigten Staaten importieren würde, der Lebensstandard in allen sozialistischen Ländern hinter den Erwartungen zurückbleibt, der reale Sozialismus in Polen gescheitert und als Weltsystem in die größte Krise seiner Geschichte geraten ist, da verkündet die sowjetische Parteiführung das Anbrechen des Kommunismus, einer Traumwelt von materiellem und geistigem Reichtum, von uneingeschränkter Freiheit und Demokratie.

Eine Philosophie, die verurteilt ist, derartiges zu rechtfertigen, hört auf, ernsthafte Philosophie zu sein. Die Philosophie wird zur Apologie, der Philosoph zum bloßen Apologeten, der Mann der Wissenschaft zum Wissenschuft.

Aber wie erzieht man in der DDR Philosophen und andere Gesellschaftswissenschaftler, die Welt nicht verändern zu wollen, sondern Parteibeschlüsse zu interpretieren?

Die heutige Generation von Gesellschaftswissenschaftlern ist bereits im realen Sozialismus geboren oder zumindest in diesem Gesellschaftssystem erzogen worden. Sie kennt aus eigenem Erleben nur die Welt des realen Sozialismus. Sie durchläuft ein außerordentlich großzügiges und hervorragend organisiertes Bildungssystem, das unter der Regie von Margot Honecker, der Gattin des Generalsekretärs, mit geradezu frappierender Perfektion funktioniert. Es ermöglicht auch Kindern aus niedrigeren Einkommensschichten den Weg zum Abitur, zur Universität bis hin zu den Spitzenpositionen der Wissenschaft.

Bereits im Kindergarten wird damit begonnen, den Kindern beizubringen, daß die Parteiführung die unanfechtbare Autorität in Sachen Wahrheit und Moral ist. Diesen Indoktrinierungsprozeß führt die Schule dann systematisch weiter; dort wird den Kindern der letzte Zweifel an dieser Autorität systematisch ausgetrieben.

Die Autorität der Partei anzuzweifeln, so lernt jedes Schulkind, zieht unmittelbare und schwerwiegende Probleme nach sich. Widerspruch oder gar Aufbegehren haben verhängnisvolle Konsequenzen. Und so wird, nicht wie zu Zeiten des Kaisers der preußische, sondern der realsozialistische Untertan erzogen.

An der Universität setzt sich dieser Prozeß auf höherer Ebene und noch intensiver fort. Der Philosophiestudent zum Beispiel lernt, daß die Parteibeschlüsse der ausschließliche Rahmen seines Philosophierens zu sein haben. Der Ausbruch aus diesem Rahmen bedeutet akademischen Selbstmord. Weiterhin wird ihnen beigebracht, daß die Klassiker Marx, Engels und Lenin gewissermaßen als Gottheiten zu betrachten sind, deren Werke weder Schwächen noch Unvollkommenheiten, geschweige denn Fehler enthalten können. Nach fünfjährigem Studium und intensivem Üben, wie Parteibeschlüsse zu interpretieren sind, geht diese Denkweise in Fleisch und Blut über.

In meiner über 25jährigen akademischen Laufbahn an der Humboldt-Universität mußte ich immer wieder feststellen, daß den meisten dieser so erzogenen Gesellschaftswissenschaftler ihre Erniedrigung zu bloßen Apologeten in der Regel kaum bewußt ist. Für sie ist das Interpretieren von Parteibeschlüssen, die vorbehaltlose Anerkennung der unantastbaren Autorität der Parteiführung als absoluter Quelle von Wahrheit und Moral die einzig mögliche und vernünftige Denkweise.

Gewiß wird diesen Wissenschaftlern auch das Zweifeln, der Widerspruch und das Polemisieren beigebracht. Aber in einer Weise, die nicht zum schöpferischen, sondern zum dogmatischen Denken anregt. Die Philosophiestudenten werden beispielsweise gelehrt, die imperialistischen Philosophen nach allen Regeln der Kunst - aber aus sicherer Distanz, versteht sich - auseinanderzunehmen. Auch wie man Abweichler im eigenen Lager zur Schnecke zu machen hat, bekommen sie vorexerziert.

Doch der sachliche, faire, wissenschaftliche Meinungsstreit, das gemeinsame Ringen um die Wahrheit, der Mut, falschen Auffassungen ohne Ansehen der Person entgegenzutreten - das alles ist in der DDR-Gesellschaftswissenschaft praktisch unbekannt.

Wie könnte es auch anders sein? Der Faschismus hat alle demokratischen wissenschaftlichen Traditionen zerstört, der Personenkult Ulbrichts und Honeckers hat sie nicht erneuern können. Und außerdem bedeutet ein echter wissenschaftlicher Meinungsstreit nur Probleme, Unruhe und Schwierigkeiten. Und die kann das Große Haus nicht gebrauchen.

Wissenschaftler, die so erzogen sind und ihre apologetische Funktion zutiefst verinnerlicht haben, benötigen in der Regel keinen äußeren Zwang, um sich im DDR-Rollensystem einzuordnen. Bei den wenigen, die dennoch aus der Reihe tanzen, genügt im allgemeinen eine sanfte Kritik in der Parteiorganisation, um sie wieder auf Linie zu bringen.

Als Hochschullehrer in der DDR habe ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diese undemokratische, destruktive, sterile und im blinden Glauben erstarrte apologetische Denkhaltung gekämpft. Um der Zerstörung des schöpferischen Denkens entgegenzuwirken und die Züchtung des destruktiven apologetischen Denkens bloßzustellen, habe ich die folgenden »10 Gebote des destruktiven Denkers« aufgestellt und veröffentlicht:

1. Jeder neue Gedanke und seine Durchsetzung bringt Probleme, Schwierigkeiten, Risiken und Kampf mit sich. Sichere deshalb deine »Ruhe«, indem du es peinlichst vermeidest, auch nur den klitzekleinsten, unscheinbarsten neuen Gedanken zu zeugen.

2. Damit du etwas sagen kannst, ohne dich dabei der Gefahr der Zeugung eines neuen Gedankens auszusetzen, wälze das Alte und Bekannte möglichst breit aus. Wiederhole das, was jeder weiß und akzeptiert, immer wieder und so lange, bis dir keiner mehr zuhören kann.

3. Beachte besonders, dich in jeder Hinsicht und auf alle erdenkliche Weise allseitig und umfassend abzusichern. Mit anderen Worten, gehe auf Numero Sicher. Riskiere nirgendwo und niemals auch nur das Geringste.

4. Versuche in keiner Weise, deine eigene Meinung zu äußern. Berufe dich auf Autoritäten, und vor allem zitiere ständig und ewig. Je mehr du zitierst und je länger die Zitate, desto weniger kommt deine eigene Meinung zum Ausdruck.

5. Verfasse Konzeptionen, Vorlagen, Thesen und derlei vorbereitende Dokumente, aber hüte dich davor, sie jemals zu realisieren. Auf diese Weise erweckst du den Schein großer Aktivität, ohne

jemals etwas Konstruktives zustande zu bringen.

6. Wenn du einen Meinungsaustausch oder die Arbeit anderer zu beurteilen hast, dann versuche ausschließlich Schwächen oder Mängel herauszufinden. Ignoriere dabei alles Positive. Bausche das Negative so auf, daß seine Proportionen völlig verschoben werden. Es wird dir dann nicht schwerfallen, die »Unhaltbarkeit« der Gedanken deines Diskussionspartners nachzuweisen und jeglichen konstruktiven Gedanken damit zu zerstören.

7. Beginne immer das Zusammenschlagen deines Diskussionspartners mit einer höflichen und lobenden Einleitung. ("Der Kollege hat sich ernsthaft bemüht, dem vorliegenden Problem gerecht zu werden, und zweifellos enthält seine Arbeit interessante Gedanken, die nicht von vornherein abzuweisen sind. Aber ...") Danach mache ihn nach allen Regeln der Kunst zur Schnecke. Wenn du ihn gänzlich erledigt hast und er geschlagen am Boden liegt, kannst du es dir leisten, ihn mit großer Höflichkeit zu begraben. ("Trotzdem ist die Arbeit ein nicht uninteressanter Versuch, neue Wege zu gehen, und enthält zahlreiche Gedanken, die weiter zu durchdenken wären ...") Der große Vorteil dieser Methode besteht unter anderem darin, daß sie deinen Tiefschlägen und Nackenhieben den Anschein einer großen Höflichkeit und Objektivität verleiht, der es dir erlaubt, ungeschoren deinen Gegner zu erledigen.

8. Sollte es dir nicht gelungen sein, bestimmte neue Gedanken, die du in Arbeiten anderer entdeckt hast, mit dem sechsten oder dem siebenten Gebot zu zerstören, dann mache auf ihre Unvollständigkeit aufmerksam. Diese Kritik ist

auf jeden neuen Gedanken anwendbar. Weise an Hand der Unvollständigkeit nach, daß wichtige Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden, und schließe daraus, daß die gesamte Arbeit deshalb unvollkommen, unausgewogen und nicht ausgereift sei.

9. Wenn du bei allem Bemühen nichts Negatives entdecken konntest, dann erfinde eben ganz einfach Schwächen oder Fehler. Die zweckmäßigsten Methoden dafür sind falsche Interpretationen oder Unterstellungen. Es ist eigentlich immer möglich, die Gedanken eines anderen so zu mißinterpretieren, daß man ihm die schwerwiegendsten Fehler unterstellen kann. Wenn du einmal derartige »Fehler« herausgearbeitet hast, kann dir dein Opfer nicht mehr entgehen.

10. Kröne dein destruktives Denken durch eine zweckmäßige Abstempelung deines Diskussionspartners. Hier steht dir eine reiche Auswahl von Stempeln zu Verfügung: Dogmatiker, Revisionist, bewußter Apologet der Ausbeuterklasse und so weiter. Die Abstempelung ist gewissermaßen der höchste Grad der Veredelung des destruktiven Denkens. Auch wenn sie in keiner Weise auf das Opfer zutrifft, so bleibt etwas doch immer hängen, das seinen guten Ruf schädigen kann. Vor allem aber schafft sie eine Atmosphäre, in der jegliches Schöpfertum zum Erliegen kommt. Damit ist dein wahres Ziel erreicht.

Vergleicht man den sozialen Status eines Professors in den USA mit dem in der DDR, so ergeben sich bemerkenswerte Einsichten. Gemessen an dem in Amerika letztlich ausschlaggebenden Maßstab des gesellschaftlichen Ansehens, dem Dollar-Einkommen nämlich, rangiert der amerikanische Professor nicht gerade sehr hoch in der sozialen Rangliste seiner Gesellschaft. Völlig anders verhält es sich in der DDR. Die läßt sich ihre Apologetik schon etwas kosten.

Hier stellt der Professorentitel immer noch mit das höchste Statussymbol dar, gehört der Professor, gemessen an seinem Einkommen und seinen Privilegien, zu der auserwählten Oberschicht der Gesellschaft. Ein Professor verdient im Schnitt 3500 Mark im Monat, das Dreieinhalbfache vom Lohn eines Arbeiters, der im realen Sozialismus angeblich die herrschende Klasse repräsentiert. Hinzu kommen Tantiemen für Publikationen und Vortragshonorare. Selbst ein Minister oder Abteilungsleiter im ZK verdient kaum mehr.

Der Professor gehört zu den Privilegierten, die ins kapitalistische Ausland reisen dürfen, denen Vorrang bei der Vergabe von Ferienplätzen und beim Autokauf eingeräumt wird, die besondere ärztliche Betreuung in Anspruch nehmen können und eine sehr hohe Rente beziehen.

Die Privilegien sind nicht umsonst. Dafür verlangt das System absoluten Gehorsam. Wer nicht pariert, muß bitter büßen.

Zu Zeiten Ulbrichts galt als bewährte Methode, den Betreffenden in aller Öffentlichkeit der Lächerlichkeit preiszugeben. Man wurde vor dem Plenum des Zentralkomitees diffamiert, die Verunglimpfung als abschreckendes Beispiel über die Massenmedien publik gemacht. Der Angegriffene hatte keine Chance, sich in irgendeiner Weise zu verteidigen. Seine Laufbahn war unwiderruflich zu Ende.

Doch diese brutale, noch auf Stalin zurückgehende Methode hat sich nicht bewährt. Die Diktatur hat inzwischen gelernt, daß diese Form der Persönlichkeitszerstörung dem Ansehen des realen Sozialismus in der Weltöffentlichkeit schadet. Sie hat ihre Methoden verfeinert, nicht weil sie einen demokratischen Gesinnungswandel vollzogen hat, sondern weil sich neue Methoden als politisch wirksamer erwiesen.

Diese neuen Methoden kann man vielleicht am besten unter der Kategorie »Die feine realsozialistische Art« zusammenfassen. Ich habe sie mehr als einmal am eigenen Leib erlebt.

In der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« wurde ich mehrfach von meinen eigenen Glaubensgenossen in einer Weise diffamiert, die selbst meine schärfsten philosophischen Gegner im Westen als unwürdig abgelehnt hätten. Man stempelte mich dort zum Irrationalisten, Subjektivisten, Demagogen, Lügner und bewußten Apologeten der Ausbeuterklasse - und das nur, weil ich gewagt hatte, neue Fragen oder Probleme aufzuwerfen, oftmals ohne die gängige schematische Darstellungsform zu wahren.

Gegen mein erstes und zugleich eines meiner wichtigsten wissenschaftlichen Bücher »Deontik« lancierte die Abteilung Wissenschaften einen Artikel, in dem man mir die Nivellierung der hohen sozialistischen Moral auf bloße mathematische Formeln vorwarf; und gegen

mein Buch »Rationelles Lesen« ließ sie einen Beitrag erscheinen, in dem ich für den angeblichen Versuch kritisiert wurde, die Bevölkerung der DDR zum bloß oberflächlichen Studium der Parteibeschlüsse verleiten zu wollen.

In »Deontik« hatte ich den in der marxistischen Literatur ersten Versuch unternommen, logische und mathematische Methoden in der Ethik anzuwenden. In »Rationelles Lesen« vertrat ich die These, daß Wissenschaftler ebenso wie Funktionäre sich wissenschaftlicher Methoden der geistigen Arbeit zu bedienen hätten.

All das hätte mehr als gereicht, um meine wissenschaftliche Laufbahn zu beenden. Aber irgendwie überlebte ich diese Tiefschläge des Apparats. Es gelang mir sogar, einige nicht unbedeutende Siege zu erringen. Zum Beispiel die Veröffentlichung meines Beitrags »Zu erkenntnistheoretischen Problemen des Glaubens« Anfang 1982 in der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie«. Ich vertrat die Meinung, daß auch Marxisten einen Glauben besitzen und daß der Glaube des Propheten Micha »Schwerter zu Pflugscharen« durchaus vereinbar sei mit der marxistischen Philosophie.

Die illegale Friedensbewegung in der DDR benutzte den Satz aus der Bibel schon lange als ihre Losung. Mein Artikel wurde in den Kirchen der DDR angeschlagen. Ich erhielt viele Einladungen zu Vorträgen.

An einen dieser Vorträge erinnere ich mich ganz besonders. Der Saal war wie üblich gerammelt voll. Zwei Herren mit einem Tonbandgerät fragten mich, ob sie meinen Vortrag aufnehmen dürften. »Selbstverständlich. Wieso nicht?«

Dann begann ich: »Es gibt Marxisten, die glauben, daß sie nicht glauben, und es gibt Marxisten, die glauben, daß sie glauben. Wem soll man glauben? Denen, die glauben, daß sie nicht glauben, oder denen, die glauben, daß sie glauben? Und was glauben die zwei Herren von der Staatssicherheit?«

Die beiden schauten betroffen auf. Eine eisige Stille lag über dem Saal. Dann begann jemand zu kichern, und daraufhin brach der ganze Saal in schallendes Gelächter aus.

Einige Wochen später aß ich mit dem Rektor meiner Universität zu Mittag. »Was höre ich da?« meinte er. »Der Chefredakteur der Zeitschrift für Philosophie, einer meiner ehemaligen Studenten, ist wegen der Erwähnung ''Schwerter zu Pflugscharen'' in deinem Artikel gefeuert worden, und du bist vom Genossen Schirmer (stellvertretender Leiter der Abteilung Wissenschaften) auf einer Parteiversammlung der Universität scharf kritisiert worden.«

Wie ein Lauffeuer hatte sich diese Kritik durch den gesamten Partei- und Staatsapparat der DDR verbreitet. Nur ich wußte nichts davon. Ich wandte mich an Hager mit der Bitte, auch mich zu unterrichten. Daraufhin wurde ich von seinem persönlichen Referenten Kurt Rätz zu einem Gespräch im Großen Haus empfangen. Anstatt der üblichen Anredeform »Genosse Professor« und »du« redete mich Rätz mit »Herr Professor« und »Sie« an.

Natürlich wußte ich sofort, was das bedeutete. De facto war ich jetzt kein Mitglied der Partei mehr. Schlimmer noch, ich war zum offiziellen Parteifeind abgestempelt worden. Daß ich künftig nicht mehr wissenschaftlich oder publizistisch arbeiten dürfte, sagte Rätz, das sei jetzt nicht mehr zu ändern. Auch Hager könne dagegen nichts unternehmen.

Und das entsprach genau der Wahrheit. Wenn man einmal von einem führenden Funktionär kritisiert worden ist, dann bleibt dieser Makel für Jahre im Gedächtnis des Parteiapparats. Dagegen gibt es keinen Einspruch, keine Verteidigung. Es ist wie eine unheilbare Krankheit, die man einfach erleiden und an der man in der Regel sterben muß.

Am besten sei, ich zöge mich zurück, riet mir Rätz. Ich hätte doch alles als Wissenschaftler und Autor in meinem Leben erreicht. Das war das Todesurteil für meine wissenschaftliche Arbeit.

Doch etwas anderes schockierte mich viel mehr: Selbst langjährige Freunde, Genossen und Bekannte zogen sich von mir zurück. Dieses Verhalten erinnerte mich nur allzu deutlich an das der Freunde meines Vaters während der Nazizeit. Auch sie kannten den Juden nicht mehr, wenn sie ihm auf der Straße begegneten.

Die alte deutsche Krankheit: Feigheit und Rückgratlosigkeit, der Mangel an dem, was die Amerikaner und Engländer in so hohem Maße besitzen: courage of one''s convictions. Zivilcourage habe ich in der DDR kaum kennengelernt. Das ist einer der Gründe für die ungebrochene Macht des Parteiapparats.

Auch heute noch bin ich überzeugt, daß prinzipiell eine demokratisch und qualifiziert geplante Wissenschaft im Sozialismus einer durch das Profitmotiv spontan gesteuerten Wissenschaft im Kapitalismus überlegen ist. 1945 hatte die Wissenschaft in der DDR die einzigartige Chance, völlig neue, bislang unbekannte Welten zu erobern, zu einem mächtigen Förderer des Fortschritts zu werden. Aber in dem Maße, in dem sie vom Profit befreit war, wurde sie zugleich vom Parteiapparat in Ketten gelegt. Die epochale Forderung von Marx, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern, konnte sie so nicht realisieren.

Die Diktatur der Apparatschiks hat das Gegenteil bewirkt: Eine durch das Profitmotiv weitgehend spontan gesteuerte Wissenschaft wird einer durch einen bürokratisch-diktatorischen Apparat geplanten Wissenschaft, was Produktivität und Effektivität betrifft, immer bei weitem überlegen sein.

Im nächsten Heft

Der sozialistische Wettbewerb oder wie die DDR von einem Sieg zum anderen eilt - Honeckers Schwager steuert die staatseigene Friedensbewegung - Vision einer demokratischen sozialistischen Ost-Republik

Mit dem sowjetischen KP-Chef Nikita Chruschtschow auf dem V.SED-Parteitag 1958.

Franz Loeser

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