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Der Rebell mit der Schmalzlocke

Pop-Kritiker Siegfried Schmidt-Joos über den Hillbilly-Sänger Bill Haley und die Erfindung des Rock'n'Roll am 12. April 1954
aus SPIEGEL Chronik 54/2004

Was denn, nicht Elvis Presley? Nicht sein legendäres Fernsehdebüt im Januar 1956 mit dem höhnischen Grinsen, den schlotternden Knien und kreisenden Hüften in der Coast to Coast ausgestrahlten »Stage Show« von Tommy und Jimmy Dorsey soll die Geburtsstunde des Rock'n'Roll gewesen sein? Was denn dann?

12. April 1954. Das Pythian Temple Studio der Plattenfirma Decca in New York City, in Räumlichkeiten, die früher einmal der ominösen Bruderschaft Knights of Pythias gehört hatten, ist ein kreisrunder ehemaliger Ballsaal mit einer hölzernen Bühne und einem schmalen Kontrollraum in einer Ecke. Mit Parkettboden, einer Balkongalerie und einer hohen gewölbten Decke verfügt es über einen natürlichen, dynamischen Klang.

»One-two-three o'clock, four o'clock rock ...«

Ein Doppelschlag auf den Trommelrand. Der Sänger an der Rhythmusgitarre, aus akustischen Gründen zu ebener Erde knapp drei Meter vor der Band-Bühne platziert, hebt die Stimme. »Five-six-seven o'clock, eight o'clock rock ...«

Wieder zwei Trommelschläge, der Sänger steigert die Spannung: »Nineten-eleven o'clock, twelve o'clock rock / We're gonna rock around the clock tonight.«

»Stopp!«, kommt es aus der Kontrollkabine. Der Produzent, Milt Gabler, ist mit dem Back-Beat des Schlagzeugers unzufrieden. Pause. Ein routinierter Studio-Drummer namens Billy Gussak wird herbeitelefoniert.

Bandleader Bill Haley, ehemals Musikchef einer Rundfunkstation in Chester, Pennsylvania, hat seine Hillbilly-Truppe The Saddlemen erst 1952 in Comets umbenannt, nach dem Halleyschen Kometen. Ursprünglich hatte er wie sein Country-Vorbild Hank Williams gejodelt, aber bald gemerkt, dass er durch Anleihen beim Rhythm&Blues der Schwarzen bei Teenager-Tanzpartys Boden gewann.

Mit dem Stück »Rock the Joint«, in dem sein Kumpan Danny Cedrone ein fetziges Gitarrensolo hingelegt hatte, war er seinen Vorstellungen schon ganz nahe gewesen. Aber die Plattenfirma Essex in Philadelphia hatte den potenziellen Volltreffer auf der B-Seite einer Single versteckt.

»Ich dachte mir«, so der Musiker später in seinem Fan-Magazin »Haley News«, »wenn ich eine Dixieland-Melodie nehme und den ersten und dritten Rhythmus-Schlag weglasse, dafür aber den zweiten und vierten betone und einen Beat dazugebe, nach dem die Zuhörer klatschen oder auch tanzen können - das wäre dann genau nach ihren Wünschen. Dann nahm ich alltägliche Redewendungen wie 'Crazy Man, Crazy', 'See You Later, Alligator' oder 'Shake, Rattle and Roll' und machte nach der geschilderten Methode Songs daraus.« Mit »Crazy Man, Crazy« hatte er 1953 dann tatsächlich einen Erfolg verbucht.

Nun kommt es also darauf an, aus den Ansätzen einer Verschmelzung von Country&Western und Rhythm&Blues einen Stil zu formen und aus dem Lokalmatador der Gegend um Philadelphia landesweit einen Star. Decca, neben Columbia und RCA Marktführer in Amerika, ist dafür die geeignete Firma und Milt Gabler der richtige Mann. Zu den Stars, denen er im Studio zu Hits verhalf, gehören Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Louis Armstrong sowie der R&B-Pionier Louis Jordan. Gabler, so heißt es in der Branche, habe für den Pop-Markt eine goldene Hand.

Damit langt er jetzt richtig hin. Zwar wird sich Haleys Manager James E. ("Jim") Myers später brüsten: »Ich saß neben den beiden Toningenieuren und bedeutete ihnen mit meiner Zigarre, die Regler weiter nach oben zu schieben. Das war das erste Mal, dass eine Schallplatte bis in den roten Bereich ausgesteuert wurde.« In Wahrheit aber ist es Gabler, der das Arrangement besorgt, den Bass-Rhythmus in den Vordergrund mischt und jeden Musiker anweist, wie er zu spielen hat. Er sorgt sogar dafür, dass Danny Cedrones klassisches Solo aus »Rock the Joint«, das Generationen von Rock-Gitarristen inspirieren wird, unverändert übernommen wird.

Das Resultat: ein makelloser Rock'n'Roll-Song, in dem jeder Vers zu rollender Boogie-Begleitung die Spannung steigert und auf einen Höhepunkt treibt, wo sie sich in simultanen Saxophon-, Piano- und Gitarren-Riffs entlädt. »Rock Around the Clock«, in der Version von Sonny Dae and His Knights vordem unbeachtet, gerinnt in Bill Haleys Version »zu einem Moment puren Genies, der das Feuer und das Drama dieser Musik für alle Zeiten konserviert« (so der Haley-Biograf John Swenson). Nur: 1954 bemerkt es kaum jemand.

Damals stockt der Plattenverkauf nach 75 000 Exemplaren. Das genügt Decca, um den Vertrag mit Bill Haley and His Comets zu verlängern, aber für den großen Durchbruch reicht es nicht. Am 7. Juni geht Milt Gabler mit der Band abermals ins Studio und produziert - neben dem lahmen »A.B.C. Boogie« - Haleys ersten Millionenhit.

»Shake, Rattle and Roll« war ein Blues, den der schwarze Sänger Joe Turner zuvor für Atlantic aufgenommen hatte. Gabler strafft den Rhythmus, entschärft die Textzeilen und macht eine Teenager-Hymne daraus. Wo Turners Text die Angesungene entkleidet ("The way you wear those dresses, the sun comes shining through"), verpasst ihr Haley lediglich eine neue Frisur: »Wearin' those dresses, your hair done up so nice.« Turners Anspielung auf Sex mit Minderjährigen ("I can look at you till you ain't no child no more") wird für Haley in harmlosen Teen-Herzschmerz umgebogen: »I can look at you and tell you don't love me no more.«

So wird es zu dieser Zeit vielfach gemacht. Weiße Interpreten kopieren - entschärft - die Hits aus den schwarzen Ghettos. Von den knapp über 300 Millionen Dollar Umsatz der US-Plattenindustrie im Jahr 1954 entfallen rund 25 Millionen auf den Rhythm&Blues kleiner, unabhängiger Firmen, den die großen Konzerne hemmungslos ausschlachten. Nicht weniger als 13 unter den Top 30 der »Billboard«-Pop-Charts Mitte März 1955 sind schwarze R&B-Platten oder weiße Cover davon.

Eine Million Mal »Shake, Rattle and Roll« fügt sich durchaus noch in dieses Bild. Doch Amerikas Musikmarkt brodelt, und es bedarf wohl nur noch eines Funkens, dass er explodiert. Elvis Presley sitzt immer noch in Memphis und hört sich Bill-Haley-Songs in der Jukebox an.

Da hat Haleys Manager Jim Myers die zündende Idee. Er schickt 200 »Rock Around the Clock«-Singles an Filmproduzenten in Hollywood. Als der Song zu Beginn des Films »Die Saat der Gewalt« und zum Schluss noch einmal in voller Länge erklingt, ist kein Halten mehr.

Amerikas Teenager sind außer Rand und Band. Sie zertanzen die Kinositze und bombardieren sich mit den Trümmern. Sie stürmen aus den Lichtspielhäusern und veranstalten Straßenkrawalle. In der ehrwürdigen Princeton University, nur ein Beispiel von vielen, setzen Studenten im Mai 1955 Mülltonnen in Brand und stürmen johlend durch die stille Stadt. Sie haben sich an »Rock Around the Clock« hochgeschaukelt, das in allen Zimmern und Schlafsälen erklingt. Innerhalb eines Jahres liegt die Auflage der Single bei drei Millionen.

Seit der Radio-Discjockey Alan Freed seine »Moondog Show« in Cleveland mit dem von Haley komponierten »Rock-a-Beatin' Boogie« beginnt und frenetisch in die Kernzeile »Rock, rock, rock everybody / Roll, roll, roll everybody« einstimmt, hat der explosive Sound zwischen C&W und R&B einen Namen: Rock'n'Roll. Durch den Film bekommt er auch einen Inhalt: Rebellion.

Die Story des Films: Aufmüpfige Schüler in einem heruntergekommenen New Yorker Stadtviertel, darunter ein Schwarzer (Sidney Poitier), machen einem engagierten Lehrer (Glenn Ford) das Leben schwer. Ein Halbstarken-Melodram wie »... denn sie wissen nicht, was sie tun« mit James Dean, das ebenfalls 1955 in die Kinos kommt.

Teenager-Protest gegen die prüde, verkrustete Erwachsenenwelt liegt zu dieser Zeit nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika in der Luft. Deshalb setzen sich die Riots nach dem Filmbesuch (sowie 1957 nach Bill-Haley-Konzerten) auch in vielen europäischen Großstädten fort. Nur in den USA aber sind alle Voraussetzungen vorhanden, dass aus der cleveren weißen Kopie schwarzer Minderheitenklänge tatsächlich eine weltweit wirkende neue Popmusik wird.

Eine gewaltige Völkerwanderung innerhalb der USA nach dem Zweiten Weltkrieg hat ethnische und regionale Reservate zu Gunsten auch musikalischer Begegnungen gesprengt. Die Schallplatten-Technologie ist mit den 45er-Singles und 33er-LPs ausgereift. Mit dem flächendeckenden Film-, Funk- und Fernseh-System beginnt das Zeitalter der totalen Kommunikation. Das Top-40-Radio ist voll etabliert und braucht zum Verkauf der Werbung täglich neue Klangreize. Nie zuvor auch waren die Teenager so kaufkräftig, so rebellisch und für die Botschaften musikalischer Outcasts so aufnahmebereit.

Auf dieser Klaviatur der Motive und Medien spielen die Macher und Manager von Bill Haley and His Comets perfekt. Milt Gablers Produktionen und das Decca-Marketing werden Maßstäbe setzen. Von der so genannten »Marseillaise der Rock-Revolution« werden im Lauf der Jahre über 25 Millionen Singles abgesetzt sowie unzählige Coverversionen aufgenommen.

Niemand aber hat bei der Aufnahme am 12. April 1954 im Ernst annehmen können, der schmalzlockige Bill und seine Truppe von Kleinbürgern um die 30 könnten sich auf die Dauer als Identifikationsfiguren für die Generation unter 20 etablieren. Als Elvis also, damals 21, am 28. Januar 1956 vor die TV-Kameras tritt und der neuen Musik mit kühnem Hüftschwung eine eigene Körpersprache verleiht, braucht er die Krone des King of Rock'n'Roll nur noch aufzusetzen.

Siegfried Schmidt-Joos, 68, veröffentlichte 1973 das legendäre »Rock-Lexikon«, in diesem Jahr eine Sammlung biografischer Texte: »My Back Pages«.

Siegfried Schmidt-Joos
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