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OSTBLOCK Der Retter schoß

aus DER SPIEGEL 44/1956

Ungarn liegt zu Füßen Eurer Majestät!« meldete Feldmarschall Paskewitsch-Eriwanski dem Zaren Nikolaus I.

Man schrieb das Jahr 1849. Durch Europa brausten die Stürme der Freiheit. Der ungarische Landtag hatte in Debrecen die Republik proklamiert. Da bat der Herrscher der Magyaren, der junge österreichische Kaiser Franz Joseph, den Zaren um brüderliche Hilfe. 140 000 Russen marschierten in Ungarn ein, um die Monarchie zu retten. Die Freiheit verrauchte. »Beugt euch, ihr Völker!« triumphierte Nikolaus I. in seinem Siegesmanifest.

Als am Dienstagabend letzter Woche die heutigen Herrscher in Budapest die Truppen Moskaus zu Hilfe rufen mußten, auf daß sie mit Panzern, Artillerie und Jagdflugzeugen den neuerlichen magyarischen Aufstand niederkartätschen, ging es wieder um die ungarische Republik.

In Rumänien, Bulgarien und in Polen ließen sich bislang die Fluten der Freiheit, die in Bewegung gekommen waren, nachdem Moskau die Schleusen der Entstalinisierung geöffnet hatte, durch die Dämme eines Kommunismus nationaler Körnung bändigen. In Ungarn jedoch brachen diese Deiche. Die magyarischen Aufständischen wollten mehr als die relativen Freiheiten des Titoismus. Sie wollten die ungarische Republik, in deren Wappen die Stephanskrone prangen sollte.

Ungarn hat - ähnlich wie Jugoslawien - im südosteuropäischen Raum der Ostblock-Staaten eine Sondertradition. Dadurch bekommt das Blut, das in Budapest geflossen ist, den Sinn eines Opfers, wie es die Gesetze der Historie den Völkern von Zeit zu Zeit abfordern.

Ursprünglich hatten die Mächte, die Ungarn im zweiten Weltkrieg besiegten, nicht beabsichtigt, das Land völlig in den Machtbereich der Sowjets fallen zu lassen. Als Churchill 1944 mit Stalin in Moskau konferierte, einigte man sich, Rumänien und Bulgarien zur sowjetischen Interessensphäre, Griechenland dagegen zur englischen zu schlagen. In Jugoslawien und Ungarn sollten West und Ost gleichermaßen Einfluß nehmen.

Die Engländer und Amerikaner haben jedoch die Rechte, die ihnen in Ungarn zugestanden worden waren, nur ein einziges Mal ausüben können, und zwar bei den ungarischen Novemberwahlen von 1945. Später beschränkte sich ihre Tätigkeit in Budapest auf Proteste, die ebenso häufig wie erfolglos waren.

Was sich bei jenen Novemberwahlen in Ungarn auf Betreiben der Westmächte ereignete, erwies sich für die Sowjets als bittere Lehre. Es waren die ersten nach demokratischen Grundsätzen durchgeführten Wahlen in einem Land, das von der Sowjet-Armee besetzt war. Sie endeten mit einer katastrophalen Niederlage der Kommunisten.

Weder die sowjetischen Bajonette noch die sowjetische Propaganda, weder Freude über Verjagung der Deutschen noch Schrecken vor den Übergriffen der Sowjets hatten es vermocht, an der Grundtatsache der ungarischen Existenz zu rütteln. Ungarn ist ein Bauernland - 1930 waren von 3,8 Millionen Werktätigen über zwei Millionen in der Landwirtschaft tätig - und aus Bauern hat in Europa kaum jemand gute Kommunisten machen können.

Befürchtungen dieser Art waren den Sowjets vor den Wahlen nicht fremd gewesen. Marschall Woroschilow, damals der höchste Vertreter der siegreichen Alliierten in Budapest, hatte der provisorischen Regierung Ungarns deswegen auch Wahlen auf der Grundlage einer sicheren Einheitsliste vorgeschlagen, aber die Regierung hatte sich hinter die Engländer und Amerikaner gesteckt und mit ihrer Hilfe durchgesetzt, daß die Parteien einzeln kandidieren durften.

Das Ergebnis war für die Sowjets niederschmetternd. Scharenweise stimmten die Kleinbauern, die Landarbeiter und ihre Frauen für die antikommunistische Kleinlandwirte-Partei.

Diese Partei, nach dem ersten Weltkrieg gegründet, hatte zwar in den ersten zwanzig Jahren ihres Daseins mehr die Interessen des Kleinadels und der Großbauern vertreten als die des kleinen Mannes, der seinen Hof in den Matrabergen oder im Donautal bestellte. Nun aber sah man trotzdem in ihr einen guten Schutz gegen das schlimmste Übel, die Zusammenfassung privater Landwirtschaften zu Kolchosen.

Die Kleinlandwirte-Partei, die 1939 in Horthys Reichstag über ganze zwölf Mandate verfügte, zog daher in das 1945 gewählte Parlament mit einer sicheren Mehrheit ein. 2,7 Millionen Menschen hatten ihre Kandidaten gewählt, 58 Prozent aller Wähler. Die Landwirte erhielten 245 von 409 Parlamentssitzen.

Nach diesem spektakulären Ergebnis kümmerten sich die Sowjets und die von ihnen abhängigen Regierungen in Budapest nicht mehr um Einspruch aus dem Westen. Die Wahlen von 1947, klappten zwar noch nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Aber die Kandidaten für die Wahlen von 1949 stellte bereits ausschließlich die »Nationale Front«, eine Scheinkoalition von Parteien, wie sie inzwischen in Moskaus Satellitenstaaten üblich geworden war. Sie erfocht den üblichen Sieg mit 96 Prozent aller Stimmen; die Stimme des renitenten Landvolks war scheinbar zum Schweigen gebracht.

Mátyás Rákosi, der kahlköpfige Chef der Kommunisten, prahlte später mit der »Salami-Methode«, durch die er die ungarische Opposition gegen den Kommunismus entmannte. Die ungarische Opposition, zusammengesetzt aus den Vertretern vor allem der Bauern, dann der Offiziere, der Magnaten, der Bürger und der westlich gesinnten Intellektuellen, war für die Kommunisten zu stark, als daß sie mit einem kräftigen Schnitt hätte unschädlich gemacht werden können.

Ähnlich aber wie man von einer Salamiwurst nicht große Stücke säbelt, sondern nur sorgsam eine dünne Scheibe nach der anderen von der Delikatesse abschneidet, ging auch Rákosi gegen die ungarische Opposition vor. Er erfand Verschwörungen und Komplette, um diesen oder jenen zu kompromittieren. Er jonglierte mit menschlichen Schwächen, um sich seine Opfer gefügig zu machen. Er bullerte und girrte, ließ verhaften und hängen, und im Februar 1952 rühmte er sich vor einer Geheimversammlung von Funktionären, die nichtkommunistischen Parteien völlig zerschlagen zu haben.

Am schwersten hatte unter diesen Methoden die Kleinlandwirte-Partei zu leiden. Ihre führenden Köpfe wurden - einer nach dem anderen - ausgeschaltet. Ferenc Nagy - nicht mit dem Kommunisten Imre Nagy zu verwechseln -, einer der ersten Ministerpräsidenten im Nachkriegsungarn, wurde solange verleumdet, bis er während einer Schweiz-Reise sein Amt niederlegte.

Zoltán Tildy, Präsident der ungarischen Republik, wurde durch die Enthüllung einer Schiebung seines Schwiegersohnes Csornóky, des ungarischen Gesandten in Kairo, unmöglich gemacht. Csornóky hatte die Chiffre des Auswärtigen Amts von Budapest an die Amerikaner verkauft.

Den Generalsekretär der Kleinen Landwirte, Béla Kovács, den vielleicht einflußreichsten unter seinen Gegnern, ließ Rákosi verschwinden. Eine naive Verschwörung gegen das bereits moskauhörige Regime die »Ungarische Volksgemeinschaft« war aufgedeckt worden. Kovács hatte sich an ihr beteiligt. Er wurde von den Russen verhaftet und weggeschafft. Erst vor wenigen Monaten, nach neunjähriger Haft, wurde er freigelassen.

Politische Drangsalierung allein hätte die an die Spielregeln westlicher Demokratie wenig gewöhnten Ungarn vielleicht gar nicht übermäßig aufgebracht. Sie rebellierten erst, als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse gefährlich verschlechterten.

Vor dem Kriege war die Industrialisierung des Landes vernachlässigt worden: Ungarn war das Land der Großgrundbesitzer, der Kleinbauern und der Pußtahirten gewesen. Nach dem Kriege jedoch wurde die Schwerindustrie mit geradezu verbissener Wut ausgebaut.

Die Industrialisierung entsprach der Strategie des Kreml, unter Mißachtung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche einen wirtschaftlichen Koloß von Sachsen bis Sibirien zu schaffen. Sie entsprach aber gleichzeitig den politischen Feldzugsplänen, deren Verwirklichung der ungarischen Bauernschaft nach dem Verlust ihrer politischen Führung nun auch noch die Existenzgrundlage entziehen sollte:

> 1938 hatte der Anteil der Industrie am Volkseinkommen - nur 35 Prozent betragen, während auf die Landwirtschaft und andere Wirtschaftszweige 65 Prozent entfielen.

> 1954 war es genau umgekehrt: Der Anteil der Industrie am Volkseinkommen belief sich auf 64 Prozent; der Rest brachte nur 36 Prozent auf. Die Dörfer leerten sich. Die Arbeiter jedoch konnten sich ebensowenig freuen. Autobusse und Traktoren wurden zwar nun in beträchtlichen Mengen hergestellt, aber dafür mußte Ungarn, früher eines der reichsten Weizenausfuhrländer Europas, Brot- und Futtergetreide in großen Mengen einführen, um die Bevölkerung auch nur notdürftig verpflegen zu können.

Eine Atempause in dieser Entwicklung gab es freilich, als Imre Nagy 1953 nach Stalins Tod den Rákosi als Ministerpräsidenten ablöste. Ähnlich wie Malenkow stellte dieser kommunistische Politiker - der mittelgroßen behäbigen Erscheinung nach die Fleischwerdung eines urmagyarischen Typs, des Csikos oder Pferdehirten - während seiner Amtszeit die Interessen des Verbrauchers an die erste Stelle, zum Nutzen der Bauernschaft.

Obendrein verkündete er eine Botschaft, die in den Dörfern wie ein Evangelium klang. »Die Regierung wird die Auflösung von Kolchosen gestatten, sobald die Mehrheit der Mitglieder eines Kolchos das wünscht«, sagte er.

Mit diesem Rechtskurs konnte Nagy sich jedoch auf die Dauer nicht durchsetzen.

Sein Vorgänger und Gegner, der auf den Stalinismus eingeschworene Mátyás Rákosi, war ihm als Parteichef zur Seite geblieben, und ihm gelang es im April letzten Jahres, den Csikos aus seinen Ämtern zu verjagen.

Rákosi konnte es sich freilich nicht mehr leisten, diesen »Abweichler« hängen zu lassen wie einst zu »Salami«-Zeiten den Außenminister László Rajk. Es bereitete ihm ernsten Kummer, daß sich um Nagy nach dessen Sturz allmählich eine Legende zu spinnen begann, eine Legende nach Barbarossa-Art. Wenn die Not am höchsten sei, würde Nagy aus der Höhle politischer Zurückgezogenheit steigen und das Land retten.

Zu Beginn dieses Jahres gelang es Rákosi, einen scheinbar vernichtenden Schlag gegen seinen Gegner zu führen. Nagy wurde aus der Kommunistischen Partei ausgestoßen. »Die rechten Abweichler sind in ihren Hoffnungen getäuscht worden!« triumphierte er öffentlich.

Doch zu seiner peinlichen Überraschung tauchte am 7. Juni ein unerwarteter Gast in Nagys blumenumrankter Villa in der Orso utca von Budapest auf. Michail Suslow, Beauftragter für osteuropäische Fragen des sowjetischen Zentralkomitees, war eingetroffen, um Nagys 60. Geburtstag zu feiern.

Der Gastgeber und Jubilar ehrte den russischen Besucher mit ungarischen Spezialitäten: Paprikahühnchen und Tokajer. In fröhlicher Stimmung machte sich Nagy stark. »Genosse Suslow, ich bin nie zurückgetreten. Ich bin zurückgetreten worden. Ich betrachte mich immer noch als Ministerpräsidenten von Ungarn.«

Suslow hob lachend sein Glas: »Prost, Genosse Ministerpräsident!«

Nagy sollte nicht sofort die Macht übernehmen; zuerst sollte der Boden vorbereitet werden. Man entsann sich der bisher verachteten traditionellen Kräfte Ungarns und versuchte, sie in den Dienst des Nationalkommunismus zu stellen.

Béla Kovács, der einstige Generalsekretär der Kleinlandwirte-Partei, wurde freigelassen und beauftragt, im Lande umherzureisen, um unter den Bauern für Nagy zu werben. Der prominenteste Protestant Ungarns, Bischof Ordass, wurde rehabilitiert. Man begann die Frage zu erörtern, ob man den alten Parteien gestatten solle, aus ihrem Schattendasein herauszutreten. Doch erst wenn sich die Stimmung im Lande entscheidend gebessert hätte, sollte der joviale Csikos sein ihm von Suslow verheißenes Amt übernehmen und weise und gerecht als kommunistischer Landesvater über ein geläutertes Ungarn regieren.

Dieses politische Tändeln wurde den Kommunisten zum Verhängnis. Der Aufstand in Posen erregte auch die ungarischen Gemüter. Die feierliche Umbettung des gehängten und zu posthumen Ehren aufgestiegenen László Rajk stachelte das Volk zu organisiertem Widerstand auf. Gomulkas erfolgreichster Trotz gegen Chruschtschew und seine Mannen feuerte es zu Taten an, die in der vorigen Woche zur Explosion führten.

Die Ungarn gingen dabei wesentlich über das hinaus, was die polnischen Demonstranten in Warschau verlangt hatten. Auf dem Budapester Bemplatz - nach einem Freiheitsgeneral von 1849 benannt - schrien Zehntausende nach Nagy, aber nach der Legende, nicht nach dem Mann: Sie forderten ein Programm, das weder Nagy noch sonst ein Kommunist, gleichgültig welcher Prägung, erfüllen konnte.

Das Vierzehn-Punkte-Manifest, das auf dem Bernplatz verlesen wurde, verlangte nämlich nicht nur die Machtübernahme durch den Csikos und die Verurteilung Rákosis, sondern auch:

> den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn,

> freie Wahlen nach dem Muster von 1945,

> Pressefreiheit,

> Wiederaufnahme der Stephanskrone in das Wappen von Ungarn,

> Umlenkung der Lieferungen ungarischen Uranerzes in Richtung Westen, gegen Dollars.

Für die hunderttausend Menschen, die auf dem Bemplatz und in seiner Umgebung erschienen waren, durch die Straßen zogen und die Führerschaft des Landes zu sehen verlangten, schien die große Stunde des Csikos geschlagen zu haben. Das Volk war in Not, das Volk schrie nach seinem Retter, dem Retter in Gestalt des magyarischen Pferdehirten.

Was aber den Massen als die große Stunde erschien, war für Nagy die demütigendste seines Lebens, obwohl er flugs zum Ministerpräsidenten ausgerufen wurde. Die Legende barst. Aus, ihr schlüpfte - natürlich ein Kommunist.

Nagy konnte die Gegner im eigenen Lager nicht mehr an die Wand drücken. Er hielt keine Reden an das Volk, um es zu beruhigen. Wie weiland Kaiser Franz Joseph ließ er vielmehr die Russen auf seine Untertanen schießen. Und die schossen sofort. Ihr Kommandeur wollte, wie vor 107 Jahren der Marschall des Zaren, den kollektiven Majestäten seiner Heimat bald eine Vollzugsmeldung senden können.

Der Csikos hielt es unterdes für angezeigt, verwirrte Volksdemokraten durch einen Sprecher über eine Etikette-Frage aufzuklären: Auch in der Chruschtschew-Ära, bedeutete er ihnen, seien Sowjetsoldaten, die auf irregeleitete Volksdemokraten schießen, »als Freunde und Verbündete herzlich willkommen zu heißen«.

Neben unzähligen ungarischen Opfern und neben der Legende des Barbarossa Nagy blieben freilich bei den Kämpfen auch zwei russische Opfer auf der Strecke:

> Der Nationalkommunismus, von Chruschtschew zielstrebig seit über einem Jahr als die neue Lösung für die Ostblockstaaten gepriesen, hat unter den Salven aus russischen Panzern seinen Nimbus verloren.

> Der moralische Kredit, den die neuen Meister des Kreml in Indien, in Indonesien und in anderen »neutralen« Staaten als Pioniere einer besseren Weltordnung erlangt hatten, ist in demselben unheiligen Feuer erheblich zusammengeschmolzen.

Zwei Monate hatten die Armeen Marschall Paskewitschs kämpfen müssen, um Ungarns Freiheitsheer von 1849 zu besiegen. Erst 1867, durch die Umwandlung des Kaiserstaates in die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, erlangten die Magyaren einen guten Teil der Rechte, für die ihre Brüder damals gefallen waren.

Diesmal bemühten sich die Sowjets, den Aufstand in Ungarn mit Hilfe der modernen Technik rascher niederzuschlagen.

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