BRASILIEN / Brasilien / KUBITSCHEK Der Riese räkelt sich
Zwei steinerne Nixen, die ihr Granithaar auswringen, und zwei olivgrüne Militärposten, die mit der gleichen saugend-schraubenden Grazie ihre Maschinenpistolen im Hüftanschlag halten, wachen vor den Marmorfliesen einer Empfangshalle im Tennisplatz-Format.
Links wird die Halle von einem zehn Meter hohen Spiegel begrenzt, rechts von einer ebenso hohen goldenen Wand aus Messingkacheln. In der Mitte führt - statt einer Treppe - eine kardinalrote Veloursauffahrt in den ersten Stock. Durch die Fenster am Ende der Veloursauffahrt fällt der Blick auf ein Schwimmbad mit einer Zementinsel zum Sonnen. Dahinter beginnt die Wildnis - 200 Kilometer Luftlinie bis zum nächsten elektrischen Licht.
Im Speisesaal schiebt der schmächtige Hausherr des seltsamen Palastes im Busch seine Kaffeetasse zurück. »Ich habe den schlafenden Riesen geweckt, allright. Und an dieser Stelle wird er seine Glieder recken.«
Der »schlafende Riese« war Brasilien. Der erweckende Hausherr ist Staatspräsident Juscelino Kubitschek. Schauplatz von Kaffee-Klatsch und bevorstehender Riesen-Gymnastik: Brasilia - die Stadt aus der Retorte, die Brasilien zugleich eine Rekord-Inflation, eine monströse Bodenspekulation und den Ausblick in eine glanzvolle Zukunft beschert hat.
Brasilia auf der Hochebene von Goias - fast 1000 Kilometer von der Küste entfernt - ist in der vergangenen Woche als neue Hauptstadt des Landes eingeweiht worden. Seit dem 21. April 1960, dem 460. Jahrestag der Entdeckung Brasiliens durch den Portugiesen Alvarez Cabral, lenken Staatschef Kubitschek, sein Kabinett und dessen Führungsstäbe
- alles in allem vorerst rund 2000 Beamte mit ihren Familien - die Geschicke Brasiliens von Brasilia aus.
Seit diesem Tage ist die Regierung Brasiliens für alle ausländischen Mächte nur noch in dieser Stadt zu sprechen, in der bisher kein einziger Staat ein Gebäude für seine diplomatische Mission errichtet hat.
Sagt Juscelino Kubitschek: »In zwanzig Jahren wird Brasilia die Hauptstadt nicht nur des viertgrößten*, sondern auch des viertmächtigsten Staates der Welt sein - allen anderen voraus, übertroffen nur von den USA, der Sowjet-Union und China.«
Brasilia ist das Symbol für diesen Optimismus. Brasilien ist bis heute ein Raum ohne Volk. Größer als die USA oder ganz Europa (die Bundesrepublik paßt 34mal hinein), wird es von nur 63 Millionen Menschen bewohnt; zudem drängen sich 70 Prozent der Bevölkerung auf einem 150 Kilometer schmalen Küstenstreifen zusammen. Hätte Brasilien die Bevölkerungsdichte Westdeutschlands, so müßten 1,9 Milliarden Menschen in seinen Grenzen leben.
Etwa 60 Prozent der brasilianischen Bevölkerung sind europäischer Abstammung, 21 Prozent sind Mischlinge aller Rassen. Die fünf Millionen Einwanderer der letzten 120 Jahre kamen vor allem aus Italien, Portugal und Spanien. 14 Prozent der Brasilianer sind Neger, und zwar Nachkommen jener zwölf Millionen Sklaven, die bis zur Abschaffung der Sklaverei (1888) als billige Arbeitskräfte für die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen aus Afrika importiert worden sind. Den Rest bilden Indianer und Asiaten. Rassenkonflikte hat es innerhalb dieses Völkergemisches bis heute nicht gegeben, da die Rassenmischung der sozialen Pyramide entspricht: vom farbigen Bodensatz über eine milchkaffeefarbene Mittelschicht zur weißen Spitze.
Selbst wenn in zwanzig Jahren - falls Geburtenziffern und Einwanderung konstant wachsen - die Bevölkerung auf über 100 Millionen Menschen angeschwollen sein sollte, können die unermeßlichen Rohstoffquellen, mutmaßlichen Bodenschätze und brachliegenden Großmachtreserven Brasiliens nur erschlossen und nutzbar gemacht werden, wenn es gelingt, Volk und Wirtschaft zu einer Kehrtwendung vom Ozean fort ins Landesinnere zu bewegen. Mit dem Bau Brasilias, tausend Kilometer tief im Herzen Brasiliens« hat Juscelino Kubitschek das Kommando dazu erteilt.
Rühmte der französische Schriftsteller André Malraux, de Gaulles Kultur-Sonderminister, das verwegene Projekt Kubitscheks: »Eine Stadt, errichtet durch den Willen eines Mannes und die Hoffnung einer Nation.«
Immer wieder haben in der Geschichte Diktatoren, gewählte Parlamente und gekrönte Häupter ihre alten Hauptstädte verlassen und aus persönlichen und politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Motiven neue Regierungssitze bestimmt, um sich selbst ein Denkmal zu setzen, günstigere Verwaltungsbedingungen zu erreichen oder den Unannehmlichkeiten der alten Residenz zu entgehen.
Ägyptens Gottkönig Amenophis IV. (Echnaton) war der erste; der Pharao gab im 14. Jahrhundert vor Christus das alte Theben zugunsten seiner eigenen »Stadt des Horizonts« (Tell el-Amarna) auf. Der bundesdeutsche Pharao Konrad Adenauer war der letzte; er ließ Bonn im Schatten seines Rhöndorfer Rosengartens zur westdeutschen Residenz »unter Reben« küren. In den dazwischen liegenden 33 Jahrhunderten bestimmte Kaiser Konstantin Byzanz zur neuen Hauptstadt seines römischen Reiches, stieß Zar Peter der Große in Petersburg »ein Fenster zum Westen« auf, und verlegte der Türken-Erwecker General Kemal Atatürk seinen Regierungssitz aus dem dekadenten Konstantinopel in das Hinterland von Anatolien.
In der neueren Historie waren es vor allem junge demokratische Bundesstaaten, die sich genötigt sahen, Parlamente und Kabinette aus den großen Städten ihres Landes herauszulösen, um Legislative und Exekutive von gefährlichen lokalen Einflüssen zu befreien. So entstanden die australische Hauptstadt Canberra, Pretoria als Sitz der Unionsregierung in Südafrika, das kanadische Ottawa und auch Washington.
Andere Städte wurden erbaut oder umbenannt, um den Ruhm der zeitgenössischen Herrscher zu verewigen. Frankreichs Sonnenkörnig Ludwig XIV., dem Paris mißfiel, erbaute Versailles. Alexandrien hat den Namen des großen mazedonischen Eroberers durch die Jahrhunderte getragen. Stalin- und Leningrad verkörpern die bolschewistische Variante dieser Tradition absoluter Herrscher.
Doch keine Städtegründung des 20. Jahrhunderts ist der Geburt Brasilias vergleichbar. Zwar kann Brasilias Schöpfer, Juscelino Kubitschek, nicht davon träumen, daß diese Stadt einmal seinen Namen tragen wird; sein Familienname beginnt mit dem Buchstaben »K«, den das Alphabet der portugiesischen Landessprache nicht einmal kennt. Zwar hat auch Frankreichs Star-Architekt Le Corbusier in Indien die Provinzhauptstadt Chandigarh aus dem Nichts errichtet. Aber niemals ist mit dem Bau einer neuen Hauptstadt eine gewaltigere politische Aufgabe so unmittelbar verknüpft gewesen wie heute in Süde amerika: Von der Ausstrahlung, die Brasilia auf das Volk von Brasilien ausübt, wird es entscheidend mit abhängen, ob dem Amazonas-Staat der Panthersprung vom sogenannten »Entwicklungsland« zur Großmacht gelingt, ob aus dem Kaffee-Staat eine Industrienation wird.
Darüber hinaus sind Ausdehnungsmöglichkeiten und Wasserversorgung in Brasilia besser, das meteorologische und politische Klima gesünder als in der alten Hauptstadt Rio de Janeiro. Während in dem zwischen Bergen und Atlantik eingeklemmten Rio heute in der Bucht Straßen aufgeschüttet werden, um das Verkehrschaos zu verringern, dehnt sich rings um Braslia die unberührte Weite der Hochebene von Goias.
In Rio, am Ozean, ist das Süßwasser knapp, die Verlockung von Luxus und Lobby in tropischer Schwüle für Brasiliens Parlamentarier dagegen übermächtig. In Brasilia ist das Verhältnis umgekehrt: Die weltlichen Versuchungen sind gering, Wasser gibt es reichlich, und das Hochlandklima ist trocken; im Sommer steigt die Temperatur nicht über 35 Grad, im Winter fällt sie nicht unter fünf Wärmegrade.
Eine neue politische Generation, der - im Gegensatz zur herrschenden Kaste der alten Männer - ein Umzug in das Landesinnere nicht zu beschwerlich ist, wird in Brasilia Einfluß gewinnen.
Noch ist »Brasilia« allerdings nicht viel mehr als ein riesiger Bauplatz vom Ausmaß des Dreiecks Köln - Aachen - Bonn. Kilometerweit ist die rote Erde aufgerissen. Das Rattern der Preßlufthämmer ersetzt den Kindern Brasilias das Schlaflied. Der Geruch von Benzin und feuchtem Beton liegt wie eine Glocke über der Stadt:
Nur das Wolkenkratzer-Skelett der künftigen Großstadt ist bisher zu sehen. Es hat aus der Vogelperspektive die Form eines Flugzeugs:
- In der Kanzel wurden die Bauten
der Bundesbehörden errichtet.
- Im hinteren Teil des Rumpfes sind Stadtverwaltung, Pressezentrum und Radiostationen untergebracht.
- Wo sich Rumpf und Tragflächen schneiden, sind Bank-, Handels- und Vergnügungsviertel gruppiert.
- In den Tragflächen liegen die Wohnviertel mit dazugehörigen Einkaufszentren, Schulen und Parkanlagen.
- Im Leitwerk schließlich sind Lagerhäuser, Hauptbahnhof und Kleinindustrie zusammengesperrt.
Für eine halbe Million Menschen ist Brasilia zunächst geplant. Am Tag der Einweihung waren nicht mehr als 5000 Wohnungen fertig, nur etwa fünf Prozent des benötigten Wohnraums und dennoch fünfmal soviel Appartements wie sie Canberra aufwies, als es Australiens Hauptstadt wurde.
Die wichtigsten Regierungsbauten sind immerhin fertiggestellt: Die gläserne Residenz des Präsidenten mit einer schneckenhausähnlichen Kapelle und ein auf Stelzen schwebender Amtssitz.
Gegenüber dem Amtssitz am »Platz der drei Gewalten« liegen der Oberste Gerichtshof und das Parlament. Senat und Kongreß sind in schalenförmigen Betonhalbkugeln untergebracht, von denen die eine auf dem Kopf steht, die andere auf ihrer Schnittfläche liegt. Dazwischen stehen zwei schmale Hochhäuser mit je 25 Stockwerken, in denen Abgeordnetenbüros untergebracht sind.
In einiger Entfernung sind 14 Wolkenkratzer für die Ministerien in den Himmel gewachsen und - erst halbfertig, - die moderne Kathedrale von Brasilia, eine Rotunde aus achtzehn Beton-Bumerangs, die an das beinerne Stäbchen-Korsett einer unförmigen Dame erinnert.
Die Entfernungen in Brasilia sind auf südamerikanische Verhältnisse zugeschnitten: 20 Kilometer vom Flugplatz zur Stadt, sechs Kilometer von der Residenz des Staatschefs zum Platz der drei Gewalten. Der Präsident läßt seine Besucher mit einem Hubschrauber vom Hotel abholen. Wer einen Boulevard zu Fuß überschreiten will, rüstet sich für einen 100-Meter-Spurt. Bisher sind 400 Kilometer Straße in dem hauptstädtischen Distrikt asphaltiert worden. Es gibt innerhalb der Stadt selbst keine Kreuzungen; Über- und Unterführungen, auch für Fußgänger, lassen den Verkehr ungehindert fließen.
Zu zwei Dritteln ist Brasilia von einem nierenförmigen Stausee - 45 Kilometer lang, fünf Kilometer breit - umgeben. An seinen Ufern sollen Wohnviertel und Botschaften liegen, Golfplatz, Jachtklub, das »Brasilia Palace Hotel« und die Residenz des Präsidenten.
Wenn auch die Konturen der neuen Hauptstadt in der bisherigen Wolkenkratzer-Skyline erst schemenhaft zutage treten, so sind doch zwei Charakterzüge Brasilias klar erkennbar: - Einfach und verwegen wie der Entschluß des Juscelino Kubitschek, inmitten der Wildnis eine Hauptstadt zu errichten, um seiner Nation eine bessere Zukunft zu sichern, ist die Anlage der Stadt durch Brasiliens Städteplaner Lucio Costa.
- Verführerisch attraktiv, entsprechend dem politischen Ziel, das Juscelino Kubitschek der neuen Hauptstadt zugedacht hat, ist Brasilias Fassade von Brasiliens Star-Architekten Oscar Niemeyer in Beton modelliert. Vor noch nicht einmal vier Jahren wurde mit den Erdarbeiten begonnen. Als erstes entstand ein drei Kilometer langes Flugfeld, auf dem zunächst herangeflogene Zementsäcke ausgeladen wurden und im Februar dieses Jahres sogar Eisenhowers Düsen-Boeing ausrollen konnte. Inzwischen sind die Straßen nach Rio (Luftlinie 940 Kilometer) und Sao Paulo (Luftlinie 890 Kilometer) ausgebaut, eine Eisenbahnlinie ist herangeführt worden.
Die günstigen Klima-Bedingungen schlossen jedwede Verzögerung durch Witterungseinflüsse aus. Obgleich in etwa 500 Kilometer Entfernung ein Staudamm nebst Kraftwerk, von dem Brasilia seine elektrische Energie beziehen wird, noch nicht in Betrieb genommen ist, wachsen die Stahlgerüste auch nachts im Schein von 37000 Lampen weiter in den Himmel. Rund um die Stadt aufgestellte Generatoren versorgen sie mit Strom.
80 000 Arbeiter bauen Brasilia. Ihre Löhne sind hoch, ihr Leben ist erbärmlich. Das Wahrzeichen des neuen Brasilien wird von den primitivsten und ärmsten Bewohnern der erschlossenen Provinzen errichtet. Aber, so schrieb das Magazin »Machente« mit neuerwachtem Nationalstolz: »Auch jene Ägypter, die Pyramiden bauten, konnten weder lesen noch schreiben.«
Die Erbauer Brasilias, die tagsüber mit ihren Sandalen durch die neuen Staatspaläste trapsen, schlafen und leben 14 Kilometer von der neuen Hauptstadt entfernt in einer namenlosen »Free City«, einer unübersehbaren Barackenstadt, angefüllt mit Schmutz, Autos und allen Rassen, der Erde.
Neben der Wäscherei eines Chinesen verkauft dort ein Belgier Geldschränke, die so groß sind, daß sie nicht in seine Holzhütte passen; sie stehen, mit Zeitungen umwickelt, auf der Straße. Gegenüber liegt »Abrahams Bar«. Der schwarze Wirt thront hinter einer Theke, die mit zwei Plakaten geschmückt ist. »Die Gäste werden gebeten, ihre Waffen an der Bar abzugeben«, steht auf dem einen. Das andere kündet: »We like Ike!« Vor der Tür ist ein Maulesel angebunden.
Durch die ungepflasterten Straßen der »Free City« schaukeln täglich vierundzwanzig Stunden lang Lastkraftwagen mit Baukolonnen. Sind es Indios, so hocken sie in stoischer Ruhe auf ihren Fersen, ihre lang ausgestreckten, auf die Knie gestützten Arme schwingen im -Rhythmus der Schlaglöcher nach links und rechts, nach oben und unten.
Auf acht Männer kommt in der »Free City« eine Frau. Das älteste Gewerbe dieser Welt floriert entsprechend. Wenn die Mädchen mit wippenden Röcken und Hüften, einen Sonnenschirm balancierend, über die Straßen kreuzen, halten 'die Männer Autos und Atem an. Selbst hier ist nicht zu übersehen' daß in Brasilien die schönsten, meist milchschokoladefarbenen Frauen der Erde wachsen.
Über allem aber liegt der rote Staub der aufgewühlten Erde des Hochlands von Goias, setzt sich beißend in Zahnfleisch und Augen, Motoren und Kleider. Rot sind sogar die jungen Welpen, die sich klaffend im Schmutz der Straße balgen, und rosa ist - als Tarnfarbe gegen den Staub - die Bettwäsche im Palace-Hotel.
Die »Free City«- soll abgerissen werden, sobald Brasilia steht. Sie wird wohl für immer bleiben und noch in fünf Jahren so sein wie sie heute ist: namenlos, gesetzlos und kanalisationslos - eine Goldgräberstadt, die jedem Hollywood-Western zur Ehre gereichen würde. Die Menschen dieser trostlosen Stadt aber sind keine Filmkomparsen. Sie sind Statisten des Lebens. Und sie graben auch kein Gold. Sie graben zur höheren Ehre Brasiliens und Kubitscheks.
Das Leben dieses Juscelino Kubitschek verbindet sich in seltsamer Weise mit dem Schicksal von drei brasilianischen Städten, die alle in die Geschichte des Landes eingegangen sind:
- Er wurde in einer Stadt geboren, die einst eine der größten und reichsten Siedlungen Südamerikas war und heute eine verlassene Geisterstadt ist.
- Er begründete seine politische Karriere und seinen nationalen Ruhm als Bürgermeister und Gouverneur durch den Ausbau einer anderen Stadt, die vor 60 Jahren am Reißbrett geplant wurde und heute Brasiliens größte Inlandsiedlung ist.
- Er verwirklichte endlich auf dem Gipfel seines Lebens den schon 150 Jahre alten Traum Brasiliens von einer Metropole im Landesinnern.
Diamantina in der Hochebene von Minas Geraes war seine Geburtsstadt. Während des Diamantenrausches im 18. Jahrhundert war die Stadt aufgeblüht und beherbergte damals die für jene Zeit fast unvorstellbare Menge von 50 000 Einwohnern. Ein Diamantenkönig jener Tage hatte ein künstliches Miniaturmeer mit zahlreichen Schiffsmodellen herrichten lassen, um seiner Mulatten-Geliebten im Sommer die drei Wochen dauernde Muli-Reise an die Küste des Südatlantik zu ersparen.
Als Juscelino Kubitschek de Oliveira am 12. September 1901 das Kreuz des Südens erblickte, war der Diamantenrausch vorüber, Diamantina eine verödete Kleinstadt. Juscelinos Vater, Joao Oliveira, ein ebenso fröhlicher wie mittelloser Poet, starb, als sein Sohn kaum zwei Jahre alt war. Juscelinos Mutter, Julia Kubitschek de Oliveira, blauäugige Tochter deutschsprechender Einwanderer aus dem heute tschechischen, einstmals -österreichischen Dorf Jalta*, ernährte ihren Sohn und dessen ältere Schwester Maria von einem kümmerlichen Lehrerinnen-Gehalt. Sie, die heute 87jährig noch immer im Staate Minas Geraes lebt, flößte Juscelino den Willen zum Erfolg ein.
»Ich bin wirklich mehr meiner Mutter als meines Vaters Sohn«, gesteht Brasiliens Präsident heute. Aus Dankbarkeit hat er ihren Familiennamen weitergeführt, an dem sich seine Landsleute noch -immer die Zunge abbrächen, wenn sie nicht längst dazu übergegangen wären, ihn »Juscelino« zu nennen.
Der erste Schultag bedeutete für Juscelino das erste Paar Schuhe seines Lebens. Doch nur ein paar Jahre lang konnte seine Mutter ihn auf das römischkatholische Seminar von Diamantina senden. Dann mußte er sich selbst durchbringen. Er lernte als Autodidakt das Morse-Alphabet und wanderte - mit einem Ersatzhemd und einem gebratenen Huhn als Gepäck - in die Provinzhauptstadt Belo Horizonté, Wo er einen Job als Funker bei der staatlichen Telegraphen-Agentur erhielt.
Sein Dienst ging von Mitternacht bis sieben Uhr morgens. Ab acht Uhr besuchte er zunächst die höhere Schule, später Vorlesungen der medizinischen Fakultät. An dem Tage, an dem er den medizinischen Doktortitel erhielt, kündigte er seinen Arbeitsplatz als Telegraphist. Er war 26 Jahre alt. Der Mann seiner Schwester Maria, ein wohlhabender Chirurg in Belo Horizonte, stellte ihn als Assistenten ein.
Ein Jahr darauf - 1929 - lieh sich Juscelino Kubitschek von reichen Freunden Reisegeld und unternahm seine erste Auslandsfahrt, nach Paris, Wien, Berlin und in den Vorderen Orient.
Von seinem Ausflug hinter den Horizont nach Belo Horizonte zurückgekehrt, kletterte Kubitschek als erfolgreicher, weitgereister Doktor schnell die soziale Stufenleiter hinan, übernahm mehrere politische Ämter und heiratete die dunkeläugige Tochter Sarah eines vermögenden Provinz-Politikers.
Noch heute pflegt Brasiliens Staatschef beim Tanzen - Tango und Slow-Fox sind seine bevorzugten Rhythmen - mit sicherem Griff die attraktivsten Partnerinnen im Saal auszuwählen. Getulio Vargas, langjähriger Diktator Brasiliens, fragte ihn einmal augenzwinkernd, ob er denn niemals einen hausmütterlichen Typ auffordere. »Doch, Herr Präsident«, sagte Kubitschek, »aber nur im Wahlkampf«.
Sarah Kubitschek, die erste Dame Brasiliens, hat sich mit solchen Schwächen ihres Mannes abgefunden: »Er war nicht immer ein perfekter Ehemann, aber schließlich: Perfektion ist auch langweilig.«
Die Kubitscheks haben zwei Töchter im Alter von sechzehn Jahren. Marcia ist ihr eigener Sproß, Maristela wurde von ihnen fünfjährig adoptiert, um Marcia davor zu bewahren, als einziges Kind aufzuwachsen.
1940 wurde Juscelino Kubitschek vom Gouverneur des Staates Minas Geraes zum Bürgermeister von Belo Horizonte ernannt. Die im letzten Dezennium des vergangenen Jahrhunderts nach dem Vorbild Washingtons geplante Stadt, die heute eine Dreiviertelmillion Einwohner hat, verdoppelte in Kubitscheks Amtszeit Wasserversorgung und Straßennetz;
die Länge von gepflasterten Bürgersteigen und Kanalisation wurde verdreifacht.
Damals entdeckte Juscelino Kubitschek, wie sicher die Wähler über asphaltierte Trottoirs an die Wahlurne gebracht werden. Damals beschäftigte er auch zum erstenmal einen aufgehenden Stern an, Brasiliens Architektenfirmament mit Namen Oscar Niemeyer der nun Brasilias futuristisches Profil gemeißelt hat.
In Belo Horizonte erhielt Niemeyer, der bis dahin im Schatten seiner Lehrmeister Le Corbusier (Frankreich) und Lúcio Costa (Brasilien) stets nur an Gemeinschaftsarbeiten beteiligt gewesen war, sein erstes umfangreiches eigenes Projekt.
Bürgermeister Kubitschek beauftragte ihn, eine neue Trabantenstadt - Pampulha - zu bauen. Erinnert sich Niemeyer: »Juscelino war der ideale Kunde. Er sagte mir, was er wollte, und gab mir völlige künstlerische Freiheit, es auszuführen.«
So viel künstlerische Freiheit führte allerdings auch dazu, daß der katholische Bischof von Belo Horizonte sich 1944 weigerte, die St.-Franziskus-Kirche, von Pampulha zu weihen. »Das ist ja ein Tonnengewölbe«, grollte er. Architekt Niemeyer hatte sich von Paul Claudels Versen inspirieren lassen: »Die Kirche ist der Hangar Gottes« und einen Bau erstellt, der in der Tat eher einer Nissen-Hütte als einem herkömmlichen Gotteshaus ähnelt.
Fünfzehn Jahre lang weigerte sich der Klerus standhaft, den Kirchen-Silo zu weihen. Aber auch abreißen lassen konnte die katholische Kirche »die Kirchenschändung« nicht. Bürgermeister Kubitschek hatte sie gerade noch rechtzeiltig unter Denkmalsschutz gestellt.
Erst im vergangenen Jahr gab die Kirche nach, und der Bischof von Belo Horizonte zelebrierte in Anwesenheit des kommunistischen Architekten Niemeyer und seines inzwischen zum Staatspräsidenten avancierten Protektors Kubitschek die erste Messe.
1950 war Kubitschek zum Gouverneur seines Heimatstaats Minas Geraes gewählt worden; 1955 griff er nach dem höchsten Staatsamt. Der Tod des sozialreformatorischen Diktators Getulio Vargas, der mit nur fünfjähriger Unterbrechung fast ein Vierteljahrhundert Brasiliens Geschicke bestimmt hatte, gab ihm den Weg dazu frei.
Im Palacio Catete, dem traditionellen Amtssitz der brasilianischen Präsidenten in Rio de Janeiro, hatte sich der 71jährige Diktator eine Kugel ins Herz gejagt. Auf seinem Schreibtisch, den er lebend nicht hatte verlassen wollen, hinterließ er ein politisches Testament, das ihn zum Märtyrer stempelte, seinen Gegnern, die ihn zur Abdankung hatten zwingen wollen, keine Chance gab, die Macht zu übernehmen, und seinen politischen Kurs noch über sein Grab hinaus festlegte: »Ich scheide jetzt aus dem Leben und gehe in die Geschichte ein . . . Ich nehme die Sorge mit, nicht alles das, was ich eigentlich zu tun wünschte, für die Armen getan zu haben.«
Mit diesem Leitfaden trat der Sozialdemokrat Kubitschek selbstbewußt als Vargas-Erbe auf, kopierte die Ideen des »Getulismus« und gewann 1955 die demokratische Präsidentenwahl, wobei er auch die Hilfe der Kommunisten nicht verschmähte. Ein Staatsstreich seiner politischen Gegner, der seinen Amtsantritt verhindern sollte, wurde von der Armee unter General Lott vereitelt.
Im Januar 1956 - über dem Land hing noch der Belagerungszustand, und Kubitschek hatte soeben eine Blitz-Tournee durch die USA und Europa absolviert - zog Juscelino in den Palacio Catete ein. Der Mann, der als Bürgermeister Trottoirs und Siele, als Gouverneur Dämme und Rollbahnen gebaut hatte, konnte nun darangehen, sich ein geschichtliches Denkmal zu errichten: durch den Bau der neuen Hauptstadt Brasilia.
»Fünfzig Jahre Fortschritt in fünf Jahren« hatte Juscelino Kubitschek seinen Wählern in der Präsidentschafts-Kampagne versprochen: »Energie, Verpflegung und Verkehrswege.« Und dies hat er in den abgelaufenen vier Amtsjahren erreicht:
- Aus sieben Milliarden Kubikmetern Stauwasser für die Energieversorgung sind 80 Milliarden Kubikmeter geworden.
- Die Autoproduktion stieg von Null
im Jahre 1956 auf 170 000 Wagen 1959. Jeeps und Renaults, Mercedes-LKW, Volkswagen und DKW werden in Brasilien gefertigt.
- Das Netz der - größtenteils ungepflasterten - Überlandstraßen wurde vergrößert: von 22000 Kilometern auf 40 000 Kilometer. Die beiden längsten Verbindungswege nach Belém im Norden und Rio Branco im Westen (nur tausend Kilometer von der pazifischen Küste entfernt) sollen in diesem Jahr von 20 000 Arbeitern fertiggestellt werden.
- Die jährliche Stahlproduktion hat 2 Millionen Tonnen erreicht. Drei neue Walzwerke, darunter eines von Mannesmann (in Belo Horizonte), sind in Bau.
- Die ausländischen Investitionen in Brasilien kletterten im vergangenen Jahr auf eine Rekordhöhe von 2,5 Milliarden Mark.
Die meisten großen deutschen Unternehmen von Klöckner bis zur Dresdner Bank haben in Brasilien Niederlassungen etabliert. Das einzige Auslandswerk von Krupp - im Wert von rund 90 Millionen Mark - wird bei Sao Paulo von dem ehemaligen »Organisations-Genie« des Amtes Blank, Oberst a.D. Kurt Fett, geleitet.
Diesen Beweisen industriellen Aufschwungs steht ein heilloses fiskalisches Debakel gegenüber. Die Inflation überwuchert das Land. Im letzten Jahr allein sind die Lebenshaltungskosten um 52 Prozent gestiegen. Die Notenpressen der Regierung rotieren immer schneller, werfen dem schlechten Geld noch schlechteres hinterdrein.
Der Kaffee, noch immer wichtigster Exportartikel des Landes, von dem Wirtschaft und Währung entscheidend abhängen, ruiniert Brasilien. Es gibt davon zu viel. Je besser die Ernten geraten, um so größer werden die finanziellen Nöte des Staates. Nach der guten Kaffee-Ernte von 1958/1959 war das brasilianische Kaffeeangebot bereits so groß, daß es allein den Weltverbrauch eines Jahres in Höhe von 38 Millionen Sack hätte decken können. Von Jahr zu Jahr wuchsen seitdem in dem Amazonas-Staat die Vorräte unverkäuflichen Kaffees, während die Kaffeepreise an den Weltmärkten fielen. Brasilien hatte auf Lager: - 1958: 14 Millionen Sack, - 1959: 26 Millionen Sack, - 1960: 34 Millionen Sack.
Kubitscheks Finanzminister Sebastiao Paes de Almeida erklärte daher; er wolle mindere Kaffeequalitäten - das sind etwa 40 Prozent der gesamten Ernte - mit Staatsgeldern erwerben, um die Preise der übrigen Kaffeesorten zu stützen.
Diese alljährlichen Stützungskäufe zugunsten der Kaffeepflanzer strapazieren die Staatsfinanzen in unerträglichem Ausmaß. Und der einzige Ausweg auf lange Sicht - die Umwandlung des Kaffee-Landes in einen Industrie-Staat
- verschlingt noch größere Summen.
Dennoch hat sich Kubitschek zu diesem Weg und einer robusten Investitionspolitik entschlossen, um die Industrialisierung voranzutreiben und der ewigen
Kaffee-Misere zu entrinnen. Im Verlauf der damit verbundenen Kehrtwendung von der Küste ins Landesinnere soll die wirtschaftliche Vorherrschaft Sao Paulos
- des mächtigsten der 20 Bundesstaaten,
in dem zwei Drittel des brasilianischen Kaffees wachsen - gebrochen werden und Kubitscheks Heimatstaat Minas Geraes - zwischen Rio und Brasilia gelegen und reich an Eisen- und Manganerzlagern, Gold, Silber und Diamanten - als Industrierevier der Nation entstehen.
Das durch diese wirtschaftlichen Gewaltmaßnahmen chronisch gewordene Etatdifizit und die progressive Inflation werden schließlich gekrönt durch die kostspielige Geburt und Aufzucht von Juscelino Kubitscheks Lieblingskind Brasilia, dem Symbol der brasilianischen Metamorphose. An den Belangen dieses Babys wird nicht gespart. Niemand weiß, wieviel es bisher gekostet hat. »300 Millionen Mark«, sagte Kubitschek dem SPIEGEL. Seine Gegner behaupten: »Das Fünffache« Kubitschek zuckt mit den Achseln: »Was ich begonnen habe, führe ich auch zu Ende. Das gilt erst recht für Brasilia.«
Die Idee einer Hauptstadt im Landesinnern stammt nicht einmal von Juscelino Kubitschek. Sie ist so alt wie Brasiliens Unabhängigkeit. Einer der Mitbegründer des aus portugiesischer Kolonialherrschaft gelösten brasilianischen Kaiserreichs, Jose Bonifacio, schrieb schon 1822 eine »Aufzeichnung über die Notwendigkeit und Mittel zur Errichtung einer neuen Hauptstadt im Innern Brasiliens«. Damals war die leitende Idee, die Hauptstadt dem Zugriff eines Feindes mit einer starken Kriegsflotte zu entziehen.
José Bonifacio fürchtete eine portugiesische Attacke, nachdem Prinz Dom Pedro, gestützt auf die begeisterten Bürger von Sao Paulo und Rio- de Jareiro, am 7. September 1822 die Unabhängigkeit proklamiert und sich selbst als Pedro I. zum Kaiser Brasiliens gemacht hatte. Das Land am Amazonas war damit zur ersten und - abgesehen von dem kurzlebigen mexikanischen Experiment (1864 bis 1867) - einzigen Monarchie Amerikas geworden.
Dom Pedro, der den liberal-gesinnten Brasilianern versprach, konstitutionell zu regieren, rebellierte nicht nur gegen die portugiesische Krone und die Cortez zu Lissabon, die den Thronfolger barsch zur Heimkehr aufforderten, er putschte zugleich gegen seinen Vater, König Johann VI., der einst selbst 13 Jahre im brasilianischen Exil verbracht hatte, während die Armeen Napoleons I. Spanien überfluteten und der gewalttätige Korse auch Portugal bedrohte.
Kaiser Pedro I. überwarf sich bereits acht Jahre nach seiner Kaiser - Proklamation (1831) mit seinen hitzköpfigen Brasilianern, dankte selbst zugunsten seines - noch unmündigen - Sohnes ab und nahm das nächste Schiff nach Lissabon.
Sein Sohn und Nachfolger, Kaiser Pedro II., vergrößerte den Amazonasstaat in einem gemeinsam mit Argentinien und Uruguay gegen Paraguay und dessen Diktator Francisco Solano López ausgefochtenen Krieg (1865 bis 1870) um einige bis dahin umstrittene, halbwüste Landstriche.
Die Kaiserliche Majestät mußte jedoch 1889 nach fast 50jähriger Regierung einer Koalition aus Plantagenbesitzern, rebellischen Offizieren und katholischen Klerikern weichen. Wichtigster Grund: Pedro
hatte 1888 die Sklaverei, bis dahin das solide Fundament brasilianischer Plantagenwirtschaft, ohne finanzielle Entschädigung für die Sklavenhalter abgeschafft.
Bei der Umwandlung des brasilianischen Kaiserreichs in eine Bundesrepublik tauchte der Gedanke, die Hauptstadt in das Landesinnere zu verlegene sofort wieder auf. Der Plan wurde 1891 sogar in die erste republikanische Verfassung übernommen, die nach dem Vorbild der nordamerikanischen USA modelliert worden war; er blieb auch Bestandteil der drei nachfolgenden Verfassungstexte.
In der Zeit zwischen 1935 und 1955 wurden im Landesinneren durch Expeditionen und Luftaufklärung intensive geophysikalische und meteorologische, Studien über den zweckmäßigsten Bauplatz unternommen. Sie führten 1950 zu der Proklamierung eines Bundesdistrikts von 5000 Quadratkilometern auf der einsamen Hochebene des Staates Goias, wo heute Brasilia wächst. Die ursprüngliche Idee, die Hauptstadt an den geographischen Mittelpunkt des Landes zu legen, so wie einst Philipp II. Madrid in der Einöde von Kastilien zur Residenz bestimmte, wurde fallengelassen. Aber niemand rechnete mit einer Verwirklichung des Projekts in naher Zukunft. Entsinnt sich Kubitschek in Brasilia: »Als ich 1955 hier oben auf dem Plateau von Goias in dem Dorf Trebon meine erste Wahlversammlung als Präsidentschaftskandidat abhielt, stand ein Mann auf und fragte, wann ich denn die Hauptstadt ins Innere verlegen würde. Ich war verblüfft und sagte, sobald ich gewählt worden sei. Von da an mußte ich die Frage auf jeder Versammlung beantworten.«
Juscelino Kubitschek hielt sein Versprechen: Anfang 1956 hatte seine Amtszeit begonnen - im September des gleichen Jahres unterzeichnete er das Dekret über die Verlegung der Hauptstadt in den Bundesstaat Goias.
»Ich möchte, daß du Brasilia baust«, hatte Kubitschek damals seinem Freund Oscar Niemeyer beiläufig gesagt. Aber der Architekt, der wußte, daß er ein ungleich besserer Baumeister als Städteplaner ist, schlug eine öffentliche Ausschreibung vor.
Eine Jury internationaler Städteplaner, darunter Sir William Holford (London), prüfte etwa fünfundzwanzig Monumentalentwürfe, jeder mit Miniaturmodellen, vervielfältigten Graphiken, Landkarten und erklärenden Begleitbroschüren versehen. Am letzten Tag der Ausschreibung reichte Brasiliens Alt- und Niemeyers Lehrmeister Lúcio Costa einen Entwurf ein.
1902 in Toulon als Sohn brasilianischer Eltern geboren, ist Costa seit 1931 - als er ein Jahr lang die Architektur-Akademie in Rio leitete und den gesamten Lehrplan revolutionär änderte - der anerkannte Führer der jungen Garde brasilianischer Städteplaner und Architekten.
Der bescheidene, schnauzbärtige Städteplaner, der mit seiner Familie im Rio-Vorort Lebion ein kleines Appartement bewohnt, ließ seinen Plan durch einen Boten überbringen. Der Entwurf bestand aus drei Skizzen und einigen auf ein Blatt Papier gekritzelten Bleistiftnotizen. Sagt Lúcio Costa: »Der Entwurf Brasilias entstand aus der ursprünglichen Geste, mit der man einen Platz kennzeichnet, von dem man Besitz ergreift. Zwei Achsen, die sich im rechten Winkel schneiden, bilden ein Kreuz.«
Die Jury war enthusiasmiert. Begeistert war auch Lúcio-Costa-Schüler Oscar Niemeyer: »Costa hat uns große Maßstäbe gesetzt. Wir werden sie aufrechterhalten«, versprach er.
Oscar Niemeyer* wurde von Kubitschek mit der architektonischen Gestaltung Brasilias beauftragt. Der heute 52jährige Architekt ist ein scheuer Träumer, von seinem künstlerischen Können zutiefst überzeugt. Erst mit 22 Jahren, schon Familienvater (mit 41 Jahren wurde er Großvater), begann er sich für Architektur zu interessieren und absolvierte mit Weh und Ach die Abschlußprüfung in Rios »Escola das Belas Artes«.
1936 entwarf er unter Costas und Le
Corbusiers Anleitung den Bau eines neuen Erziehungsministeriums in Rio, einen streichholzschachtelähnlichen Wolkenkratzer. Dadurch fiel er dem Bürgermeister Kubitschek in Belo Horizonte auf.
Niemeyer: »Fünf Jahre lang nach Corbusiers Besuch (anläßlich des Ministeriums-Baues in Rio) folgten wir ergeben seinen Spuren. Erst in Pampulha (Belo Horizonte) befreiten wir uns und entwickelten eine eigene Architektur.«
Bald errang Niemeyer internationales Ansehen. Mit Costa zusammen entwarf er Brasiliens Pavillon für die Weltausstellung in New York (1939). Er arbeitete als Abgesandter Brasiliens mit an der Gestaltung des Uno-Hauptquartiers in New York (1947), entwarf einen Vorort von Habana (Kuba) und baute im Hansa-Viertel von Berlin ein eigenwilliges Apartment-Haus (1955).
Politisch nannte er sich frühzeitig - wie viele Künstler von Picasso bis Sartre - einen Kommunisten. Während der Wahlen 1955 verkaufte er in den Straßen von Rio die Zeitung »Tribuna Popular« der verbotenen kommunistischen Partei. Auch nach dem Ungarn-Aufstand lehnte er es ab, seine Weltanschauung zu ändern: »Wir sind zu alt, um uns umzustellen.«
Mit dem antikommunistischen Staatschef Kubitschek, der - selbst schmächtig - gut einen halben Kopf größer ist als sein Star-Architekt, verbindet Niemeyer echte Freundschaft.
Während Lúcio Costa nur selten Rio verläßt, lebt Niemeyer seit Jahren in Brasilia: »Bis zum Bau Brasilias war die Architektur in meinen Augen etwas, das man als einen Sport betrachten und ausüben müsse. Nun lebe ich für Brasilia ... Hier hat eine neue Phase meiner Arbeit begonnen: geometrischer, einfacher, monumentaler.«
Walter Gropius, der nach den USA emigrierte Schöpfer des Bauhauses Weimar, hatte einst Niemeyers Schöpfungen als »tropische Phantasien« bezeichnet, ihn selbst einen »seltenen Paradiesvogel« genannt. Die Harmonie von Bauwerk und umgebender Natur ist für Niemeyer entscheidend. Ingenieur-Probleme interessieren ihn nicht; Fassaden sind seine Leidenschaft. Dabei kommt es vor, daß er im Innern des Hauses das Badezimmer- oder die Küchenfenster vergißt.
Glas und Eisenbeton sind Niemeyers bevorzugte Baustoffe. Aus ihnen hat er in Brasilia eine Art neuen Kolonialstil entwickelt, dessen geschweifte, segelförmige Säulen zum Wahrzeichen Brasilias geworden sind. Fast alle seine wichtigen Gebäude stehen auf Stelzen. Girlandenartige Betonpfeiler, die an die Stelle der üblichen Kolonialstil-Säulen getreten sind und die Dächer der rund um die Häuser laufenden Veranden tragen, machen es möglich, auch in dem tropischen Klima Brasiliens Häuser mit Glaswänden zu errichten, ohne die Einwohner der direkten Sonnenbestrahlung auszusetzen.
Selbst Niemeyers monumentale Gebäude wirken, aus einem Kilometer Abstand betrachtet, wie ein Bungalow, der dreihundert Meter entfernt liegt. Um die Stadt aus der Retorte nicht durch private Baustile verschandeln zu lassen, müssen alle Baupläne privater Bauherren bei Niemeyers Architektenbüro - später einer städtischen Behörde - eingereicht und dort gebilligt werden. Niemeyer hat juristisch keine Handhabe, den Bau eines gräßlichen Stuck-Palasts auf immer zu verhindern, aber er kann die Genehmigung so lange hinauszögern, daß es praktisch einem Veto gleichkommt.
Um auch die ausländischen Mächte anzuspornen, beim Bau ihrer Botschaften mit den künstlerischen Maßstäben Brasilias Schritt zu halten, haben sich Lúcio Costa und Niemeyer einen Trick einfallen lassen. Vom Flugplatz zur Stadt führt ein Weg durch eine Botschaftsallee, die auf der einen Seite vom Stausee, auf der anderen von Krüppelwald begrenzt ist; Urwald gibt es entgegen allen Zeitungsmeldungen von der »Hauptstadt im Dschungel« in hundert Kilometer Entfernung nicht.
In diesem Unterholz steht etwa alle hundert Meter ein kleines Schild, das den Namen eines Staates trägt. Hier sollen die ausländischen Missionen entstehen. Und, ob deren Regierungen es wollen oder nicht: Jeder Besucher Brasilias wird diese Allee als eine internationale Architektur-Konkurrenz betrachten.
Sagt Lúcio Costa: »Wir möchten, daß die Nationen ihre besten Architekten beauftragen. Nicht die besten Architekten der jeweiligen Regierung, sondern die besten Architekten des Landes. Das ist gewöhnlich ein himmelweiter Unterschied.«
Bisher haben nur die Amerikaner mit dem Bau eines Amtsgebäudes begonnen. Und auch das ist nur ein Behelfsbau. Die Bundesrepublik will den gleichen Umweg beschreiten.
Zur Ausführung und Finanzierung Brasilias hat die, Regierung 1956 eine Mammut-Organisation ins Leben gerufen, die »Novacap« *, mit einem Gründungskapital von fünf Millionen Dollar, unter Leitung des Abgeordneten Israel Pinheiro, eines grauhaarigen Finanziers, der vorher dem Industrie-Konzern »Cia Vale do Rio Doce« vorstand.
Die Novacap kaufte zunächst in dem 5000 Quadratkilometer großen Bundesdistrikt jene 1000 Quadratkilometer auf, in denen der Kern der Hauptstadt entsteht, so wie er von Lúcio Costa geplant wurde.
Wer immer in Brasilia bauen wollte, mußte nun das Land von Novacap kaufen. Weite Sektoren, wie das Regierungsviertel, Seeufer, Diplomatenviertel und Parkanlagen waren von vornherein unverkäuflich.
Dennoch war mit dem Beginn des Landverkaufs die Tür zu ungeheuren Grundstücksspekulationen aufgestoßen. Heute besitzt die Novacap- von allen zum Verkauf vorgesehenen Grundstükken nur noch etwa zwei Prozent. Alles andere befindet sich bereits in Privatbesitz, und zwar zu weniger als einem Drittel in Händen von Eigentümern, die dort tatsächlich bauen wollen. Dies sind die Spekulationspreise: 50 000 Quadratmeter im Raum Brasilia kosteten vor zehn Jahren 20 Cruzeiros. Novacap kaufte die gleiche Fläche schon für 800 Cruzeiros und verkaufte den Quadratmeter für 200 Cruzeiros. Heute wird der Quadratmeter privat mit 600 Cruzeiros bezahlt. Damit sind die Grundstückspreise in zehn Jahren - die Geld entwertung allerdings nicht eingerechnet - genau um das Anderthalbmillionenfache gestiegen.
Staatspräsident Kubitschek und Novacap-Präsident Pinheiro haben diese Bodenspekulation vorsätzlich zugelassen und nicht durch Gesetze, die etwa die Wiederverkaufspflicht jedes Grundstücks an Novacap vorschreiben würden, zu verhindern gesucht. Denn Kubitschek und Pinheiro wußten, daß die Aussichten auf die Millionengewinne bei den Grundstücksspekulationen in Brasilia die starke Front ihrer politischen Gegner im Kampf um die Hauptstadtverlegung entscheidend schwächen würden. Was auch geschehen ist. Die Spekulation auf die Spekulation erwies sich als erfolgreich.
Für sich selbst allerdings beteuert
Kubitschek: »Ich besitze keinen Quadratzentimeter Boden in der Nähe Bralisias.« Aber er hat die Absicht, nach Ablauf seiner Amtszeit in der Nähe seiner neuen Hauptstadt eine kleine Farm zu erwerben.
Noch einen zweiten, für europäische Begriffe ebenso leichtsinnig verursachten Nachteil - der genau wie die Bodenspekulationen von den idealistischen Architekten und Planern beklagt wird - hat Brasilia-Schöpfer Kubitschek sehenden Auges in Kauf genommen: Er hat den Bau in unzulässigem Tempo vorangetrieben.
»Wir hätten es besser gemacht, hätten wir mehr Zeit gehabt«, jammert Gladson da Rocha, ein junger Mitarbeiter Niemeyers. »Poor workmanship«, grunzen die amerikanischen Ingenieure, wenn sie Straßen, Wolkenkratzergerüste und Kanalisation inspizieren.
In der Tat: Das wenige, was von Brasilia heute steht, ist nicht für die Ewigkeit gebaut. Es wird alles bereits in wenigen Jahren erneuerungsbedürftig sein. Schon jetzt klaffen Risse im Asphalt, bröckelt Putz von den Wänden, klemmen Türen und Fahrstühle.
Aber Juscelino Kubitschek hat keine Zeit. Er kannte das Gesetz südamerikanischer Politik: Was ein Präsident zu seinen Amtszeiten nicht vollendet, setzt sein Nachfolger nicht fort. Er wußte, daß Brasilia niemals gebaut würde, wenn er es jetzt nicht baute. Mithin kam es ihm darauf an, in so kurzer Zeit wie möglich so viel Geld wie möglich zu verbauen, damit nach Ablauf seiner Amtszeit kein Nachfolger diese Stadt aufgeben konnte, ohne noch wahnwitziger zu erscheinen als der Brasilia-Gründer Kubitschek. Das hat der Staatschef erreicht. Frohlockte er: »Mein Nachfolger wird nicht die Freude oder das Mißvergnügen haben, den Bau Brasilias zu stoppen. Er wird Brasilia vorfinden.«
Dieser Wettlauf gegen die fallenden Kalenderblätter hat den Bauherrn erschöpft. Im Januar dieses Jahres brach Kubitschek für zehn Tage zusammen. Seither weicht ihm sein Leibarzt nicht mehr von der Seite. Aber der Präsident ist entschlossen, auch sein letztes, nun angebrochenes Amtsjahr im kräftezermürbenden Tempo durchzuhalten.
Gegen 5.45 Uhr läutet er gewöhnlich vom Bett aus nach den ersten Akten. Eine Viertelstunde später jagt er per Telephon (vier an seinem Bett, vier in seinem Bad, drei im angrenzenden Studio) die ersten Minister, Sekretärinnen und Ingenieure aus dem Schlaf. Um 7 Uhr trottet er in Pyjama und Hausschuhen in den einstühligen Friseursalon seines Palasts zu einer einstündigen rituellen Sitzung: Gesichtsmassage, Maniküre, Rasur, dazwischen wieder Telephongespräche, Diktate oder ein kurzer Englisch-Unterricht.
Um 8.30 Uhr, wenn seine Nation langsam erwacht, ist der Staatschef schon unterwegs, in seiner »Viscount« oder im Cadillac, zur Einweihung einer neuen Straße, eines neuen Damms, einer neuen Schule oder zu Kabinettssitzungen und Staatsempfängen. Er flog in einem amerikanischen Düsenjäger über Rio, ließ sich mit der barfüßigen Kim Novak auf einem Sofa photographieren und assistierte bei der ersten Operation unter Verwendung eines künstlichen Herzens in Brasilien dem US-Spezialisten Dr. Earl Kay bei der Rettung eines fünfjährigen Jungen.
Grinst Kubitschek: »Ich bin überall, ich sehe jedermann, und das Volk sieht mich. Wenn tief im Innern, wo es keine Luftlinie gibt, Kinder ein Flugzeug sehen, rufen sie ihre Mutter: »Sieh, Mama, da fliegt Präsident Juscelino'.«
Die traditionelle Form südamerikanischer Politik als ein Gemisch von Geschäft und Intrige, Staatsstreich und Korruption zu betrachten, ist Kubitschek fremd. Tatsächlich interessiert ihn Politik überhaupt nicht. Er fühlt sich innenpolitisch als Generalmanager eines unter Schmerzen wachsenden Konzerns; außenpolitisch kennt er nur ein Ziel: fremdes Kapital ins Land zu ziehen.
Diese völlige Negierung der Politik
einschließlich der »unsachverständigen«, nachsichtigen Behandlung einiger kleinerer Verschwörungen - hatte einen unerhörten politischen Effekt: Die Demokratie arbeitete in Brasilien während der letzten vier Jahre entgegen allen lateinamerikanischen Gepflogenheiten eine volle Amtsperiode hindurch reibungslos.
Obgleich noch Ende dieses Jahres neue Präsidentschaftswahlen abgehalten werden, kündigt im politischen Klima kaum ein Hauch die sonst zu dieser Zeit schon steif wehenden Putsch-Böen an. Kubitschek selbst kann nicht wieder kandidieren. Das untersagt ihm nicht nur die Verfassung - noch gebieterischer wird ihm eine solche politische Eskapade von seinen Ärzten verboten.
Als Präsidentschaftskandidaten und Nachfolger Kubitscheks präsentieren sich paradoxerweise
- für die Rechtsparteien der Links-Demagoge und Ex-Gouverneur von Sao Paulo, Janio Quadros,
- für die Linksparteien der konservative General Henrique Teixeira Lott, dessen Eingreifen vor fünf Jahren Kubitscheks Amtsantritt ermöglichte.
Noch ist es völlig offen, welcher der beiden gewählt wird. Sicher aber ist schon heute: Der neue Präsident wird sein Amt in der neuen Hauptstadt Brasilia antreten, und er wird es wahrscheinlich - wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht - eben dort nach fünf Jahren auch wieder an den Schöpfer der Stadt abtreten, an Kubitschek.
Denn für 1965 geben Verfassung und Doktoren ihm wieder die Bahn frei. Und Kubitschek wird dann nicht zögern, die Arena noch einmal zu betreten. Kokettierte er vor dem SPIEGEL: »Ich weiß, es gibt eine Volksbewegung mit diesem Ziel. Aber ich habe daran natürlich keinen Anteil.«
* Brasilien umfaßt 8,5 Millionen Quadratkilometer. Nur das kommunistische China (9,7 Millionen Quadratkilometer), Kanada (9,9) und die Sowjet-Union (22,3) verfügen über größere Territorien.
Kubitschek: »Als Brasiliens erster Kaiser, Dom Pedro I., als zweite Frau eine österreichische Prinzessin heiratete, folgten ihr eine Menge Untertanen nach Brasilien; so auch meine »Vorfahreen.«
* Niemeyer entstammt einer deutschen Familie, die 1823 auswanderte. Urgroßvater und Großvater waren Stadtbaumeister in Rio de Janeiro.
* NovaCap = »Nova Capital (neue Hauptstadt).
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