FERNER OSTEN / CHINA-EMBARGO Der rote Handel lockt
Unter frenetischem Beifall des gesamten britischen Parlaments stieß die Regierung Macmillan ein Fenster auf, durch das der frische Frühlingswind weltpolitischer Entspannung auch in die letzte muffige Waffenkammer des Kalten Krieges blasen soll. England lockerte in der vorletzten Woche sein Handelsembargo gegen Rotchina.
In der Zwischenpause der Londoner Abrüstungskonferenz hatte sich die britische Regierung entschlossen, dem unwilligen Stirnrunzeln des, amerikanischen Bundesgenossen zum Trotz, diesen Schritt zu wagen, mit dem sich Albion nicht nur verständigungsbereit, sondern ebenso geschäftstüchtig zeigt:
- England strich eigenmächtig 207 Warentypen von jener Embargoliste, die den Warenexport westlicher Staaten nach dem kommunistischen China reguliert, und
- benachrichtigte die Embargobehörde, das in Paris residierende China-Komitee*, daß England fortan den Sitzungen des Komitees nur noch als »Beobachter« beiwohnen wird.
Prompt ertönten über den Atlantik empörte Klagerufe. Ein Sprecher des amerikanischen Außenamts nannte das britische Vorgehen »einen bedauerlichen Schritt, der die industriellen Pläne des kommunistischen Regimes in China erleichtern« werde. Der republikanische Senator Knowland, ein grimmiger Feind Rotchinas, erregte sich: »England ermuntert die Feinde der freien Welt!«
Dennoch atmete die amerikanische Reaktion nicht jene Aggressivität, die man in London befürchtet hatte. Daß sie ausblieb, war nicht zum geringsten Teil britischer Umsicht zu verdanken.
Die Engländer hatten nämlich ihren Vorstoß gegen das von der Patina des Kalten Krieges angestaubte China-Embargo just auf den amerikanischen Heldengedenktag gelegt, den Memorial Day, an dem sich Regierung und Kongreß der Vereinigten Staaten patriotischen Feiern hingeben. Außerdem kam den Briten die amerikanische Verärgerung über die antiamerikanischen Unruhen auf Formosa zugute, dem Gegenspieler des rotchinesischen Ketzers (SPIEGEL 23/1957).
Die britische Umsicht verriet deutlich genug, daß Englands Sprung in die handelspolitische Unabhängigkeit von langer Hand vorbereitet worden war. Diese Unabhängigkeit hatte England in der furchterfüllten Zeit des Koreakrieges eingebüßt.
Damals bebte der amerikanische Volkszorn ob der »heimtückischen« Waffenhilfe Rotchinas für die bedrängten koreanischen Genossen und setzte sich in einen amerikanischen Kreuzzug gegen Peking um. Ein Produkt dieses Kreuzzuges war auch der Beschluß der Vereinten Nationen im Mai 1951, das rote China einer fugendichten Wirtschaftsblockade zu unterwerfen.
Unter dem Protektorat der Amerikaner wurde schließlich in Paris als Kontrollbehörde das China-Komitee errichtet, das die strikte Einhaltung des China-Embargos beaufsichtigen sollte. Die Embargoliste enthielt über 400 Warentypen, die in zwei Kategorien aufgeteilt waren: nämlich in
- Warentypen, die keinesfalls nach China geliefert werden durften, wie zum Beispiel Rüstungsmaterial und Grundstoffe für die Gewinnung von Atomenergie, und
- Warentypen, deren Ausfuhr nach China nur in beschränkten Mengen zugelassen war.
Dabei hatten die Amerikaner dem China-Komitee ein erhebliches Eingriffsrecht in die Außenhandelspolitik der westlichen Staaten zugeschanzt. Die Mitgliedstaaten mußten über alles, was sie nach Rotchina lieferten, Rechenschaft ablegen; hatte ein Mitgliedstaat die erlaubte Quote überschritten, so konnte das Komitee die China-Ausfuhr des betreffenden Landes auf unbestimmte Zeit sperren.
Nach dem Ende des Koreakrieges rüttelte jedoch die britische Geschäftswelt bald an den Gittern, die England von seinem traditionellen China-Markt trennten und vor denen das Pariser Komitee Posten stand.
Die Londoner City klagte über die handelspolitische Unselbständigkeit Großbritanniens. Die Sorge vor der steigenden Absatzkrise gewisser Zweige der britischen Maschinenbau-Industrie verbanden sich mit romantischen Erinnerungen an das lukrative 19. Jahrhundert. Damals hatte England 65 Prozent des chinesischen Außenhandels bestritten, und 85 Prozent der Einfuhren nach China waren von britischen Schiffen besorgt worden.
Die Lobbyisten der Londoner City setzten nun die englische Regierung unter Druck: Sie sollte sich bei den Vereinigten Staaten für eine Auflockerung des, China-Embargos verwenden. Bevor Englands damaliger Premier Sir Anthony Eden Anfang 1956 nach Washington startete, rüsteten ihn die Vertreter der City mit zwei politischen Argumenten aus, denen die Amerikaner sich schwerlich widersetzen konnten.
Einerseits sei die Wirtschaftsblockade gegen Peking - so argumentierten die britischen Chinahändler - ohnehin unwirksam, weil Peking durch den Handel mit der Schweiz und Osteuropa in den Genuß westlicher Waren gelange, andererseits aber treibe die westliche Wirtschaftsblockade Rotchina immer stärker in die weitgeöffneten Arme der Sowjet-Union.
Die Lobbyisten warteten mit eindrucksvollen Zahlen auf: 1950 hatte der Anteil des Ostblocks am rotchinesischen Außenhandel nur 26 Prozent betragen, im Jahr darauf, als das westliche Embargo begann, war er jedoch auf 61 Prozent emporgeschnellt.
Das Drängen der Londoner City bewog Macmillan, auf der Bermuda-Konferenz im März dieses Jahres den Amerikanern vorzuschlagen, die China-Embargoliste, die 400 Warentypen aufführt, sollte wenigstens der Liste angeglichen werden, die den Warenverkehr mit den Ostblock-Staaten regelt und die nur 200 Warentypen mit dem Ausfuhrbann belegt. Es sei wenig logisch, argumentierte der britische Premierminister, China schärfer einzuschränken als die Sowjet-Union. Eisenhower sagte eine Prüfung des Macmillan-Vorschlags zu.
Das amerikanische Außenamt arbeitete dann Gegenvorschläge aus, die jedoch von England nicht akzeptiert wurden. Die Amerikaner wollten die Embargoliste offenbar nur um 100 Warentypen reduzieren. Wochenlang verhandelte das China-Komitee in Paris ergebnislos.
Da alarmierten Nachrichten aus dem Fernen Osten die Londoner City und das britische Handelsministerium. Englands traditioneller Rivale auf dem chinesischen Markt - Japan - war soeben zu einer diplomatischen Offensive gestartet, die offensichtlich bezweckte, die japanische Handelsposition von einst zurückzugewinnen.
Die politisch einflußreichen Kaufherren Japans, die ebenso wie ihre britischen Konkurrenten am China-Embargo Anstoß nehmen, hatten ihren Ministerpräsidenten Kischi zu einer Blitzreise durch den Fernen Osten angespornt. Er sollte mit Hilfe der südostasiatischen Staaten das China-Embargo aufbrechen.
Zwischen der Geschäftswelt Englands und Japans entspann sich nun in der zweiten Maihälfte ein erbitterter Wettlauf um die Zeit. Während der Japaner Kischi von einem asiatischen Land zum andern hastete und Stimmung für das Ende des westlichen China-Embargos machte, drängte die Londoner City den Premier, jetzt keine Rücksicht mehr auf die störrischen Amerikaner zu nehmen und aus eigener Machtvollkommenheit die Auflockerung des Embargos zu verkünden.
Macmillan zögerte nicht lange. Am Donnerstag der vorletzten Woche ließ er seinen Außenminister Selwyn Lloyd vor das Unterhaus treten und die Streichung von 207 Warentypen auf der Embargoliste bekanntgeben. Säuerlich kommentierte der Verlierer Kischi: »Ich bedaure das einseitige Vorgehen Englands.«
Neuerdings aber droht den britischen Handelshoffnungen eine neue Gefahr. Wenige Tage nach der Erklärung des Selwyn Lloyd wurde bekannt, daß der Ostausschuß der Deutschen Wirtschaft unter der Leitung des Stahlindustriellen Otto Wolff von Amerongen im Oktober eine Delegation nach Peking entsenden wird, um mit Rotchiria ein Handelsabkommen abzuschließen. Die Bundesrepublikaner sind heute der größte westliche Handelspartner Pekings.
Bis vor kurzem konnte sich die Londoner City freilich mit dem Gedanken trösten, daß die Bundesregierung wenig Neigung zeigte, dem Ostausschuß des Otto Wolff grünes Licht für seine Verhandlungen mit Peking zu geben. Das amtliche Bonn legte die Bestimmungen des China-Embargos stets besonders pedantisch aus. Als dem Ostausschuß im Herbst 1954 zum erstenmal eine Einladung für eine Reise westdeutscher Wirtschaftsexperten nach Peking übermittelt wurde, versagte die Bundesregierung die Erlaubnis zu der Peking-Fahrt.
Im September vergangenen Jahres erneuerten die Rotchinesen ihre Einladung, zunächst allerdings nur in mündlicher Form. Die Mitglieder des Ostausschusses - so begründeten die Abgesandten Pekings die eigenartige Form ihrer Einladung - sollten erst einmal in Bonn nachfragen, ob jetzt eine Reise nach Rotchina genehm sei.
Vor wenigen Wochen ließ nun Otto Wolff den Chinesen die vertrauliche Nachricht zukommen, Bundeskanzler Adenauer habe diesmal keine Bedenken. Auf der Hannoverschen Messe im April konnte schließlich der chinesische Delegationschef Dr. Tschi Tschao-ting seinen deutschen Gesprächspartnern die schriftliche Einladung der roten Mandarine von Peking nachreichen.
* Dem Komitee gehören die Nato-Staaten England. Westdeutschland, Frankreich. Benelux, Norwegen. Portugal. Griechenland. Türkei. USA. Dänemark, Italien, Kanada und außerdem Japan an.
Japans Ministerpräsident Kischi Wettlauf mit den Briten
Daily Express, London
Macmillan: »O Wand, du hast schon oft gehört das Seufzen mein... (Shakespeare: Ein Sommernachtstraum, V, I)
Industrieller Wolff von Amerongen Von den Mandarinen eingeladen