SCHRIFTSTELLER / DODERER Der Spätzünder
Auf der Suche nach einem Thronfolger für die verwaisten Kronsessel der deutschen Literatur - Thomas Mann starb 1955, Gottfried Benn und Bertolt Brecht starben 1956 - wendet sich der Blick des deutschen Lesepublikums deutlich nach Wien. Der taxierende Blick gilt dem sechzigjährigen österreichischen Schriftsteller Heimito von Doderer.
Von Doderer nämlich stammt ein Beitrag zum deutschsprachigen literarischen Auftrieb der vergangenen Buchsaison, der die Experten, die wegen des Zustandes der deutschen Schriftstellerei bereits zu verzagen meinten, mit neuer Hoffnung erfüllt hat. Es handelt sich um den Roman »Die Dämonen"*, dessen zweite Auflage der Münchener Biederstein Verlag seit einiger Zeit ausliefert. Der Roman »Die Dämonen« ist unter den belletristischen - den sogenannten »schöngeistigen« - Büchern des vergangenen Winters nicht nur eines der dicksten (1348 Seiten) und eines der teuersten (38 Mark). Dieser Roman, dem Untertitel zufolge »nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff« verfaßt, ist vor allem ein so kompliziertes Buch, daß es sich dem Konsum in der Normallage des Bücherlesers, also der Lektüre in der Bahn oder am Feierabend, nach besten Kräften entzieht.
Die Barriere aber, die Doderer in fünfundzwanzig Jahren - er hat seit 1931 an den »Dämonen« gearbeitet - vor ein allzu schnelles Verstehen seines Romans gelegt hat, beeinträchtigte den durchschlagenden und in der jüngsten Vergangenheit unvergleichbaren Erfolg des Buches bei der Fachkritik nicht. Fast alle Rezensenten nahmen sein Buch so hin, wie es vom Verlag nicht ohne Selbstbewußtsein angekündigt war, als »ein literarisches Ereignis«.
Zwar bekannten die meisten Kritiker ihren Lesern, daß sich der Inhalt dieses Romanes wegen seines Personenreichtums und der verzwickten Handlung auch nicht annähernd wiedergeben lasse. Ebenso einig aber waren sie im allgemeinen darüber, daß sich den »Dämonen« Doderers nur durch Vergleiche mit den Spitzenwerken der Weltliteratur beikommen lasse.
Die »Bücherkommentare« sahen keine andere Möglichkeit, »der Erzählkunst Heimito von Doderers gerecht zu werden«, als sein Werk in eine Reihe mit Dantes Göttlicher und Balzacs Menschlicher Komödie, mit Tolstois und Dostojewskis Romanen zu stellen. Ähnlich empfand die Zeitschrift »Wort und Wahrheit": »Neben das Paris Balzacs, das London Dickens', das Petersburg Dostojewskis tritt nun das Wien Heimito von Doderers.«
Die Zeitschrift »Bücherschiff«, die bereitseinen früheren Roman Doderers, »Die Strudlhofstiege«, gelobt hatte, bekannte: »Nannten wir die 'Strudlhofstiege' einen Gipfel, so muß von den 'Dämonen' als von einem ganzen Gebirgsmassiv gesprochen werden.« Das Hamburger »Sonntagsblatt« bezeichnete Doderers Roman als einen »Glücksfall der neueren Literatur« und fand am Ende, »daß in diesem ungewöhnlichen Autor ein weiser Mann namens Sokrates wiedergeboren wurde«. Der Wiener Kritiker Hans Weigel ließ sich in seinem Enthusiasmus hinreißen, das Erscheinen des Romans »eine Sternstunde der österreichischen Literatur« zu nennen, während mehrere Zeitungen den Roman Doderers sogar zu einem »Beitrag zur Weltliteratur« avancieren ließen und der Westberliner »Tagesspiegel« lobte, der Leser habe bei Doderer »den vermutlich bedeutendsten deutschschreibenden Romancier unserer Zeit vor sich«. »Der Monat« qualifizierte »Die Dämonen« als den »eigenwilligsten Geniestreich ..., den die deutsche Nachkriegsliteratur hervorgebracht hat«.
Eine nicht geringe Zahl von Rezensenten nahm überdies Doderers Buch als ein willkommenes Argument, um der von dem Schweizer Literaturkritiker Walter Muschg vertretenen, unbehaglichen These* entgegenzutreten, daß es mit der deutschen Literatur vorerst zu Ende sei. Unter dem Eindruck so heftiger Akklamation schien es auch dem Autor Doderer: »Es gibt richtige Heimitisten.«
Das Idol der »Heimitisten«, der Schriftsteller Heimito von Doderer, ist, wie es die Schweizer Zeitung »Die Tat« formulierte, »in der an Frühbegabungen so reichen deutschen Literatur wohl der erstaunlichste Fall eines 'Spätzünders' seit Fontane«. Er hält zwischen den zwei prominenten Repräsentanten des modernen österreichischen Romans, zwischen Robert Musil (SPIEGEL 20/1956) und Joseph Roth (SPIEGEL 8/1957), eine durchaus eigenständige Mitte. Mit dem jüdischen Roth, der sich bohèmehaft in Pariser Bistros an Absinth vergiftete, teilt Doderer die poetische Wortkraft, mit Robert Musil, der sein Hauptwerk »Der Mann ohne Eigenschaften« niemals vollendete, die planerische Genauigkeit. Dennoch lehnt Doderer den Vergleich mit Musil, den ihm manche Literaturkritiker antragen, nicht ohne Energie ab: »Ich schreibe keine Fragmente.«
In der Tat haftet Doderers umfänglichem Romanwerk nichts Fragmentarisches an; der ausgedehnte Personenkreis und die Handlung sind in einer lebenslangen Anstrengung bis ins winzige Detail zu Ende komponiert. Es ist auch nicht so, daß Doderer die ersten Seiten der »Dämonen« 1931, die letzten aber 1956 geschrieben hätte. Vielmehr hat er seinen Riesenroman immer wieder von vorn an neu begonnen oder umgeschrieben.
Nach der- in der Zeitschrift »Merkur« veröffentlichten - Ansicht des Essayisten Karl August Horst haben Doderers »Dämonen« in der, Geschichte des Romans eine »glorreiche Revolution« bewirkt: Heimito von Doderer habe, heißt es, einen für Romanciers »völlig neuen Weg beschritten«. Die Situationen dieses vom Verfasser wie bei einem militärischen Planspiel präzise abgesteckten Weges werden von der Literaturkritik gegenwärtig erst mit gebührender Vorsicht ausgeforscht.
Einige Anhaltspunkte konnte dabei der Roman bieten, den Der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski (1821-1881) rund achtzig Jahre vor Doderer unter dem gleichen Titel »Die Dämonen« veröffentlicht hatte. Auch bei Dostojewski tritt ein Chronist nicht mit seinem vollen Namen, sondern unter der Abkürzung »G-ff« auf, wie bei Doderer der Sektionsrat außer Diensten Geyrenhoff zumeist als »G-ff« figuriert. Die Möglichkeit, eine Romanhandlung durch einen vorgeschobenen Chronisten wiedergeben zu lassen, haben
freilich auch andere Autoren in jüngster Zeit genutzt, so Hermann Hesse für den Roman »Das Glasperlenspiel« mit dem Magister Josef Knecht und Thomas Mann mit dem Studienrat Serenus Zeitblom für seinen Roman »Doctor Faustus«.
Bei Doderers »Dämonen« aber wie bei denen von Dostojewski steht zudem im Mittelpunkt der Handlung eine Gruppe von Menschen, die als »die Unsrigen« bezeichnet werden, in beiden Büchern* ist eine politische Brandstiftung eine Art Probefall für bevorstehende Revolutionen.
Bei Dostojewski handelt es sich um einen (fiktiven) Brand, der- Jahrzehnte vor der russischen Revolution des Jahres 1917 - von einer Gruppe von Umstürzlern verursacht wird. Bei Doderer geht es um den (historischen) Brand des Wiener Justizpalastes, der im Juli des Jahres 1927 von Demonstranten angelegt wurde und den Doderer als das »Cannae der österreichischen Freiheit« empfindet, das dem »Anschluß« an Großdeutschland vorausging.
Beide Autoren scheitern an der Schwierigkeit, die Ereignisse nur durch die Herren »G-ff« schildern zu lassen. Dostojewski entschließt sich nach einigen hundert Seiten, so weiterzuberichten, »wie sich schließlich alles, als es an den Tag kam, in seinen Zusammenhängen erklärte": Doderers Sektionsrat Geyrenhoff nimmt statt dessen in seine Chronik die Berichte anderer Beteiligter mit auf und wird am Ende vom »Steckenpferd«, vom ruhigen »Sessel« des Chronisten - hinabgestürzt und selbst zur handelnden Person.
Die Notwendigkeit eines solchen Kunstgriffs ergab sich für Doderer allerdings nicht erst beim Schreiben: Er hatte, wie er sagt, Dostojewskis Roman zuvor gänzlich »auseinandergeschnitten und, auf drei Tische verteilt«, dessen Konstruktion genau geprüft.
Nun sind freilich Dostojewski-Anspielungen und Parallelen nur ein Motiv von vielen, die Doderer auf eine ebenso verzwickte wie kunstvolle Weise in seinen »Dämonen« benutzte. Ein anderes ist das Autobiographische. Autor Doderer figuriert in seinem neuesten Buch zugleich unter drei Namen,
- als der Sektionsrat Dr. Georg von Geyrenhoff (also als Autor der Chronik),
- als der Schriftsteller Dr. Kajetan von Schlaggenberg,
- als der Historiker Dr. René von Stangeler (unter diesem Namen hat Dr. Heimito von Doderer in der Tat einige Aufsätze veröffentlicht).
Freunde des Autors wissen zu berichten, daß Doderer mit dem Kajetan von Schlaggenberg unter anderem eine zeitweilig sehr heftige Vorliebe für ungewöhnlich dicke Damen, zudem eine unglücklich verlaufene Ehe mit einer Jüdin gemein habe. Mit dem Rene von Stangeler teilt Autor Doderer vor allem die akademische Ausbildung als Historiker und eine Art spezieller Geschichts- und Menschenanschauung.
Das Kernstück dieser speziellen Philosophie, die auch den Rhythmus seiner literarischen Produktion bestimmt, ist das, was Doderer in einer autobiographischen Notiz* »die für dieses Leben wichtige Entdeckung« nennt, die Entdeckung »des indirekten Weges«.
Dieser »indirekte Weg« hat bei Doderer durchaus den Rang einer zentralen, moralischen Forderung. Bei anderer Gelegenheit umschreibt ihn Doderer-Bogenschütze aus Passion - mit dem Bild der Bogensehne, die vom Schützen auch möglichst weit zurückgezogen wird - also vom Ziel entfernt wird -, um den Pfeil dann um so kräftiger ins Schwarze zu schnellen.
Blick in erleuchtete Fenster
Dem Schriftsteller Doderer scheint vor allem bedeutsam, wie sich ein Mensch auf die Fakten einrichtet, die ihn betreffen. Der Mensch tut es - wie Doderer an einer großen Zahl seiner Romanfiguren exemplifiziert - oft mit der größten Aussicht auf Erfolg, indem er sich scheinbar zunächst von ihnen zurückzieht (wie die Bogensehne zurückgezogen wird). Von dem nach hinten, nach rückwärts verlegten Standort aus soll er sein Dasein dann, nach Doderer, um so gewisser bewältigen. Der Mensch, der in der Ebene der Fakten, der Ereignisse bleibt, ist ihm uninteressant, ist Alltag und Durchschnitt. Die »Menschwerdung« - die Bewältigung der Ereignisse und des eigenen, von Doderer für unveränderlich gehaltenen Charakters - ist dagegen eine Art Kunstwerk.
Kunstleistungen dieser Art, Treffer beim Bogenschießen, werden in Doderers Romanen immer wieder erzielt. In einem früher erschienenen Roman mit dem für Doderer charakteristischen Titel »Ein Umweg"** gelingt es zwei zum Tode verurteilten Männern, einem Adligen und einem Soldaten - das Buch spielt im siebzehnten Jahrhundert - durch einen »Umweg«, ihr Ende als eine Art sinnvollen Abschluß ihres Erdendaseins zu begreifen.
Drastischer, und viel weniger als eigene Leistung zu akzeptieren, vollzieht sich die in Doderers Buch »Die erleuchteten Fenster« als Untertitel zugesagte »Menschwerdung des Amtsrates Zihal«. Dieser Amtsrat hat die indiskrete Gewohnheit, von seinen Zimmern aus mit einem Fernglas zu beobachten, was sich hinter den gegenüberliegenden erleuchteten Fenstern begibt; er führt genau darüber Buch, zu welchen Zeiten der Blick in welche Fenster für einen noch lebensdurstigen Witwer lohnend ist. Vor Eifer fällt er dabei von einem Gerüst aus Stuhl und Tisch, bleibt im wesentlichen ohne Verletzung und erobert am Ende eine Dame - das für ihn lohnendste Objekt seiner abendlichen Beobachtungen -, indem er ihr sein Fernglas für einen Opernbesuch ausleiht.
Abgesehen von dem Happy-End ist die kaum sehr reputierliche Angewohnheit des Amtsrates Zihal durchaus ein Stück aus Doderers Biographie.
Der kleine, heitere Roman über die Abendgewohnheiten des Amtsrates Zihal erschien im Jahre 1951, einen Monat vor jenem umfänglichen Roman »Die Strudlhofstiege"***, der den Autor Doderer erst eigentlich in Deutschland bekannt gemacht hat und dessen Auflage sich inzwischen dem zwanzigsten Tausend nähert. Das letzte Wort in der »Strudlhofstiege« aber hat der Amtsrat Zihal.
Damit wird das eine Ende einer Kette sichtbar, die bis zu den »Dämonen« nicht abgerissen ist. So wie der Amtsrat Zihal aus dem Roman »Die erleuchteten Fenster« auch in der »Strudlhofstiege« wieder zu Wort kommt, so sind beträchtliche Teile des Personals, das den Roman »Die Strudlhofstiege« belebt, zugleich die Hauptpersonen aus dem Roman »Die Dämonen«.
Bereits in der zweiten Zeile des Romans »Die Strudlhofstiege« zum Beispiel erfährt der Leser, daß eine als sehr schön geschilderte Frau namens Mary K. später durch einen Verkehrsunfall ein Bein verlieren wird. Dieses - sogleich avisierte - Ereignis wird jedoch erst auf den letzten Seiten der »Strudlhofstiege« gleichsam eingeholt, es tritt erst zum Schluß ein. In den »Dämonen« aber ist - neben vielem anderen - beschrieben, wie Frau Mary dieses beklagenswerte Ereignis seelisch und körperlich bewältigt.
»Eine Mary K.«, so interpretiert es der »Merkur«, »die nach dem Verlust ihres Beines die Lebenspartie aufgäbe und im buchstäblichen Sinne zum Opfer ihres Unfalls würde, hätte in Doderers Augen ihr Anrecht auf unser Interesse verwirkt. Die Geschichte einer schönen Frau, die über Nacht zum Krüppel wird und sich darob zu Tode grämt, wäre ausgestattet mit allen Symptomen des schlechthin Absehbaren, des nur Natürlichen und Landläufigen ...«
Die Spannung in Doderers Romanen aber, so resümiert die Zeitschrift, bestehe darin, »welche Haltung das Ereignis . . . dem Betroffenen abnötigt. Die Spannung gilt der moralischen Frage . . .«
Aber auch solcherart moralische Prozesse sind in Doderers Prosa nur ein Faden in einem ungemein fein gesponnenen Netz von gegenseitigen Bezüglichkeiten und Motivierungen, von Anspielungen und ineinander komponierten Themen, die bloßzulegen es einer Generation von Doderer-Philologen bedürfte.
Zu diesen Bezügen des Autobiographischen auf die Bücher, zu den Bezügen der Bücher zueinander gehört durchaus, daß Doderer seine Leser auch zu seinem Hauptwerk, zu den »Dämonen«, auf einem indirekten Weg geführt hat. Ehe er sein 1931 begonnenes Buch endgültig vollendete, verfaßte er, nach seinen Worten als eine Art »Rampe« für »Die Dämonen«, den Roman »Die Strudlhofstiege« - der Titel dieses Romans stammt von einer Wiener Treppenanlage, die zwei Straßen unterschiedlicher Höhe miteinander verbindet.
Dieser Rückgriff resultiert aus Doderers spezieller Ansicht über das Wesen geschichtlicher Erfahrungen. Der Historiker Doderer ist nämlich der Ansicht, daß sich die (politische) Geschichte, daß sich die Vergangenheit nicht verstehen - und bewältigen - lasse, indem man nur auf sie zurückblickt. »Wenn irgendeine Zeit mit ihren Gestalten oder Erscheinungen und Formen begriffen werden soll«, erläutert er, »so muß man sich weit über diese Zeit hinaus in die Vergangenheit zurückziehen und die betreffende Periode von vorne anvisieren, nicht nur von rückwärts her sie betrachten.«
Aus diesem Grunde geht Doderer dem zentralen Problem der mitteleuropäischen Gegenwart - dem Ausbruch des Totalitären im Jahre 1933 - nicht retrospektiv zu Leibe, sondern er visiert es »von vorne« an, von einem Ereignis aus, das vor dem Ende der Freiheit in Europa lag. Für ihn, den österreichischen Schriftsteller, ist dies der Brand des Wiener Justizpalastes: ein erster symptomatischer Akt für den später so augenfälligen Aufstand des »gesunden Volksempfindens« gegen das römische Rechtsdenken, auf dem die Freiheit des Europäers basierte. »Die Dämonen« liegen auf dem indirekten Weg, auf dem Doderer seine Leser zur Gegenwart führt. Die Handlung der »Dämonen« spielt zwischen dem Herbst 1926 und dem 15. Juli 1927. »Die Strudlhofstiege«, Rampe für »Die Dämonen«, endete 1926.
Der Brand des Wiener Justizpalastes im Jahre 1927 ist Hintergrund und Folie in Doderers »Dämonen«-Roman. Dieses Feuer wurde an einem Tage gelegt, an dem Wiener Arbeiter gegen ein in der Tat zumindest zweifelhaftes politisches Urteil demonstrierten. Den Nutzen am Aufstand allerdings verschaffte sich, laut Doderer, die Wiener Unterwelt - im Jargon heißt es: »Der Ruass (der Pöbel) is' los.«
Für die Biographie vieler Personen in Doderers Roman hat dieser Brand allerdings nur dadurch Bedeutung, daß der elektrische Strom ausfiel, daß die Straßenbahnen nicht verkehrten, daß die Taxis für den Transport von Verwundeten belegt waren. Das Verhalten seiner Romanfiguren vor dem rauchigen Panorama eines solchen alarmierenden Feuerfanals ist aber eine Art moralischer Gradmesser, den Doderer seinen Lesern unausgesprochen, aber unübersehbar zuspielt: Der Leser mag daran jeweils ablesen, was von den Leuten zu halten ist, deren Schicksale ihm über Hunderte von Seiten mitgeteilt werden.
Private Hexenprozesse
Nun wirkt allerdings Doderers Hauptwerk »Die Dämonen« auf den ersten Blick keinesfalls so, als wäre es mit allen diesen (und vielen anderen) Systemen, Motiven, Themen, Ansprechungen und Moralprinzipien befrachtet. Vielmehr könnte beim Leser zunächst der Eindruck entstehen, hier sei ein Erzähler vollkommen ungeniert an sein Geschäft gegangen und dabei freilich recht schnell vom Hundertsten ins Tausendste geraten. Es kommen immer neue Personen ins Spiel, adlige Herren und Kleinbürger, Arbeiter, Direktoren, Vertreter, Künstler, Verbrecher, Portiers, Diplomaten, Journalisten und dazu eine Unzahl von - zum Teil sehr dicken - Frauen: Witwen, Prostituierte, Teenager, heiratssüchtige oder streitbare Mädchen.
Dazu ist Doderer ein hochpotenter Schilderer von Stadtlandschaften, von Wetter-Impressionen, von Gebäuden, Caféhäusern, Straßen und Wäldern, von Farbeffekten und mannigfachen Gerüchen. Einen Wiener Sommermorgen schildert er etwa: »Die Luft schien mir mild und schaumig, wie frische Seifenflocken, große, geschlossene Blocks von Kühle enthaltend. Die mächtige blaue Fahne des Himmels schlug noch keinerlei Hitze herab auf den Asphalt.«
Doderer belehrt seine Leser über Schmetterlinge, über Kraken, über das Geigenspiel und über Hexenprozesse - fast fünfzig Seiten füllt ein mittelhochdeutsch gehaltenes Manuskript -, er gibt in den »Dämonen« Erläuterungen über die Geschäftsprinzipien der Großbanken und Beschreibungen des Wiener Kanalisationssystems, breiten Raum hält das Geschlechtliche mit einigen Abarten.
Das in einer Art mittelhochdeutscher Schriftsprache gehaltene Kapitel - als aufgefundenes Manuskript deklariert - soll zum Beispiel dem Nachweis der von Doderer-Stangeler vertretenen These dienen, daß Hexenprozesse zuweilen ganz ungeistliche Zwecke hatten und von kleineren Gerichtsherren angezettelt wurden, wenn sie widerstrebende Frauen in ihre Gewalt bringen wollten. Die vom Autor für dieses Kapitel gewählte Überschrift »Dort unten« scheint zudem eine Anspielung auf den Titel des Buches »Là-bas« zu sein, das der französische Schriftsteller Joris Karl Huysmans (1848-1907) geschrieben hat. In diesem Buch werden neben der Handlung die Forschungsergebnisse mitgeteilt, zu denen der Held des Romans über die Person des mittelalterlichen Knabenmörders Gilles de Rais gelangt.
Dieses Neben- und Übereinander von sinnlichem Fabuliertalent, wissenschaftlicher Akribie und striktester Anwendung dramaturgischer Ordnungsprinzipien ist möglicherweise aus den widersprüchlichen Erbteilen zu erklären, die Heimito von der Familie der Doderer mit auf den Weg bekam.
Heimito ist am 5. September 1896 bei Wien geboren, im Schloß Weidlingau, das einst für den Feldmarschall der Kaiserin Maria Theresia, den Kunersdorf-Sieger Gideon von Laudon, erbaut worden war. Doderers Großmutter väterlicherseits war die Nichte des romantischen Dichters Nikolaus Niembsch Edler von Strehlenau (1802 bis 1850), genannt Nikolaus Lenau. Doderers Vater, der Oberbaurat Wilhelm Ritter von Doderer, war Architekt und als solcher am Bau des Nord-Ostsee-Kanals, der Tauern- und der Karawanken-Bahn beteiligt. Doderers Mutter war eine Deutsche: Tochter des Oberbaurats von Hügel.
Zu seinem ungewöhnlichen Vornamen kam Heimito auf ungewöhnliche Weise: Bei einem Ferienaufenthalt an der Riviera lernten Doderers Eltern ein spanisches Ehepaar kennen, dessen Sohn Heimito hieß. Dieser Name - Heimito ist die Diminutivform, die Verkleinerungsform des im dreizehnten Jahrhundert in romanischen Gegenden gebräuchlichen Vornamens Heimo gefiel den Doderers so gut, daß sie ihn für ihr zu erwartendes Kind vormerkten, falls es ein Sohn würde.
Seinen Lebenslauf - er nennt es seine »Ernte« - beschreibt Heimito von Doderer so: »Mit 19 Jahren trug er (Doderer) ein heute längst historisches Kostüm in lustigen roten und blauen Farben: die Uniform eines k. u. k. Dragoner-Offiziers. Mit 23 war er Holzknecht tief im sibirischen Urwald; mit 24 Drucker; mit 25 durchwanderte er die Kirgisen-Steppe zu Fuß; noch im gleichen Jahr wurde er Student der historischen Wissenschaften und Hilfswissenschaften zu Wien. Mit 29 lag auch das hinter ihm, und auch das Erscheinen seiner ersten Bücher: Kühlung des Ehrgeizes, Rückansicht des literarischen Lebens ...
»Zwischen Geburt und dem noch ausstehenden Tod waren damals immerhin schon mehrere tragende Pfeiler mit Vor- und Rückansicht eingebaut, als der zweite Weltkrieg den Verfasser in die blaue Uniform eines Hauptmannes der Luftwaffe brachte. Aber die sechs Jahre dieses Dienstes in aller Herren Ländern, davon eines als Kompaniechef an der russischen Front, waren doch gesammelte und sammelnde, ja, tief beschauliche. 'Wer es versteht und den Weg weiß, der lebt auch in der Hölle behaglich', sagt ein tibetanisches Sprichwort . . .«
Ein Schreibtisch in Ostasien
Mit der Schriftstellerei begann Heimito von Doderer, damals Reserve-Leutnant beim k. u. k. Kavallerieregiment »König von Sachsen«, während seines ersten Fronturlaubs im Jahre 1916 - seines einzigen. Doderer: »Es war Juni, ich wohnte in meinem Zimmer in der Villa meiner Eltern, und dort habe ich eines Tages auf einem Blatt Papier ganz genau beschrieben, was ich bemerkt habe: Zimmer, Sessel, Tisch, Beleuchtung, Geruch, das einfallende Licht, meine Gefühle, vom Zustand meiner Leibeshöhle bis zu meinen Assoziationen. Dann bin ich wieder eingerückt und am 12. Juli 1916 gefangengenommen worden, nach einem sehr blutigen Gefecht.
»Als ich durch das Sperrfeuer der Artillerie hindurch war und durch die russische Stellung, die das präzise Schießen der österreichischen Artillerie zu einem Trümmerhaufen gemacht hatte, da habe ich klar und deutlich gedacht, daß es in der Gefangenschaft für einen Offizier ja einen Tisch, einen Sessel und ein Zimmer wohl geben wird, damals waren ja noch andere Zeiten. Es hat das auch wirklich alles gegeben, dazu Ruhe und ritterliche und höfliche Behandlung von den Russen.
»Kaum hatte ich also den Sessel und den Tisch, da saß ich auch schon daran und schrieb, viele Erzählungen, zahlreiche Studien nach der Natur, Innenaufnahmen, Außenaufnahmen, vier Jahre lang, durch die ganze Zeit der Kriegsgefangenschaft. Alles Fertige warf ich weg, im klaren Bewußtsein, daß bei meiner Jugend und meiner extremen Situation - ein österreichischer Leutnant in Gefangenschaft in Ostasien - unmöglich eine gültige Prosa entstehen könne.«
In der russischen Gefangenschaft, im Lager Krasnojarsk, kam dem Leutnant Doderer ein Roman »Die tanzende Törin« in die Hände, der von einem Wiener Maler und Schriftsteller namens Albert Konrad Kiehtreiber verfaßt worden war - Kiehtreiber publizierte seine Bücher schon damals unter dem Pseudonym Albert Paris Gütersloh. Diesem Gütersloh alias Kiehtreiber widmete Doderer - nachdem er einen ersten Gedichtband und eine Erzählung veröffentlicht hatte einen Essay über den »Fall Gütersloh«. Doderer bezeichnet den Gütersloh - in den »Dämonen« tritt er unter dem Namen Kyrill Scolander* auf heute noch als seinen Lehrer.
Dazu Gütersloh: »Das ist nur bedingt wahr. Eines haben wir gemeinsam: daß für uns nicht der Inhalt, sondern die Form das Wesentliche ist, die Sprache ... Wir ersinnen nicht - wie die anderen - zuerst einen Inhalt und bekleiden das dann mit Kleidern 'von der Stange'. Für uns ist ein Werk kein Inhalt, das mit der Sprache wie mit Briefmarken beklebt ist.«
Nach vier Jahren Kriegsgefangenschaft in Sibirien kam Doderer nach Wien zurück und studierte dort Geschichte: Er promovierte 1925 mit einer Dissertation über spätmittelalterliche Quellenkunde. Sein Lehrer war der prominente österreichische Historiker Oswald Redlich. Wie dieser hielt auch Doderer den Blick auf die Blüte des mittelalterlichen deutschen Reiches gerichtet, aber er träumte wohl auch von einer Wiedergeburt dieses Reiches. So kam es - wie es Doderers heutige Verlegerin in Österreich, Ilse Luckmann, formuliert -, daß er das »Dritte Reich Adolf Hitlers mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verwechselte": Doderer wurde Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen, Arbeiterpartei (NSDAP). Es war eine Verwechslung: Da viele wichtige Figuren in den Romanen, an denen Doderer arbeitete, Juden waren - sie schneiden zumeist sehr viel besser ab als die anderen -, sah sich der Schriftsteller bald zu einiger Vorsicht gezwungen. 1939 trat der ehemals protestantische Doderer der römisch-katholischen Kirche bei.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, den Doderer als Hauptmann der Großdeutschen Luftwaffe durchlebte, bekam der Schriftsteller zunächst Entnazifizierungsschwierigkeiten, ebenso wie sein Münchener Verlag C. H. Beck, der seine Produktion aber bald in dem neu begründeten Biederstein Verlag fortführen konnte. Durch die Grenzsperre waren dem Autor alle Verbindungen zu seinem Verlag genommen. Doderer schloß daher zunächst mit der Wiener Verlegerin Ilse Luckmann einen Vertrag über die »Strudlhofstiege« ab, doch arrangierten sich, nach Überwindung der politischen Schwierigkeiten, die beiden Verlage: Die Verlegerin Luckmann behielt die Rechte für Österreich, Beck-Biederstein übernahm das World-Copyright.
Neben seiner Arbeit als Romancier - Doderer: »Der Schriftsteller balanciert auf einem schmalen Grat zwischen Journalismus und Fachwissenschaft« - betrieb Doderer seine Arbeit als Historiker weiter: 1950 erwarb er - durch eine Arbeit über »Die Abtwahlformel in den Herrscherurkunden bis zum 10. Jahrhundert«, die etwa einer Habilitationsschrift an deutschen Universitäten zu vergleichen wäre - die Mitgliedschaft beim »Institut für österreichische Geschichtsforschung«, einer exklusiven Historiker-Gesellschaft von Weltruf.
Doderers Freundschaft mit Kiehtreiber -Gütersloh überdauerte bislang alle Fährnisse: Nach dem Krieg bewohnten die Freunde für eine Zeitlang gemeinsam eine Atelierwohnung in Wien, von der aus sie mit einem Feldstecher jene systematischen Studien in beleuchteten Fenstern der Umgebung betrieben, die Doderer dem von ihm erdichteten Amtsrat Zihal zugeschrieben hat.
1930 hatte Doderer die Tochter eines jüdischen Zahnarztes, Gusti Hasterlik, geheiratet. Die Ehe ging schon 1932 auseinander und wurde später geschieden. Vor einigen Jahren heiratete Doderer zum zweiten Mal: die damalige Leiterin eines Konfektionsgeschäftes in Landshut, Eva Maria Thoma, entfernt verwandt mit dem bayrischen Dichter Ludwig Thoma. Doderer wohnt heute zuweilen bei seiner Frau im bayrischen Landshut, zuweilen in seiner kleinen Wiener Zweizimmerwohnung.
Obwohl Doderer von den traditionellen Berufen seiner Familie - Militär und Architektur - nicht unbeeinflußt ist, empfindet er sich in seiner Familie als »Atavismus. Schon äußerlich. Ich sehe ganz anders aus«.
An einer kleinen Marmorbüste des Knaben Heimito - sie stammt von einem italienischen Bildhauer, der auch den Kaiser Franz Joseph porträtiert hat - demonstriert Doderer seinen Besuchern zuweilen einen entfernt mongolischen Einschlag, einen depressiven Zug: das Erbe Lenaus, die Schwermut, »die ich fürchte«.
Um diesen Hang zur Depression niederzuhalten, hat Doderer seine Arbeit und seinen Alltag strengen Regeln unterworfen. Doderers Leben ist beherrscht vom Willen zur Form. Das beginnt beim Morgenturnen und der Vorliebe für den exklusiven Sport des Bogenschießens.
»Man geht diesem Sport allein nach, und er ist keine Frage der Kraft, sondern der Ökonomie, des Zusammenspielens der Kräfte«, begründet Doderer seine Vorliebe. »Wenn man genau so steht, wie es Homer im Gesang der Ilias beschreibt..., dann hält man sich richtig ...«
»Er lebt so«, witzelte der Wiener Kritiker Hans Weigel in seinem Aufsatz zu Doderers sechzigstem Geburtstag im vergangenen September, »wie es selbst Spartanern nur in ihren Sternstunden gelang: eine Kreuzung zwischen der Askese des Mönchs und dem Fleiß der Biene. Er steht nicht früh auf, sondern noch früher, er schreibt, und wenn er genug geschrieben hat, dann schreibt er weiter.«
Der passionierte Lateiner Doderer - er spricht fließend Latein, dichtet auch zuweilen lateinische Verse - lebt nach der Devise »nulla dies sine linea« - kein Tag ohne Ordnung. »Wo keine Form ist, ist das Nichts«, postuliert er und beginnt bereits in der Badewanne, das Notizbuch über Wasser haltend, mit Stilübungen, die später weggeworfen werden. Seine Tagebücher machen ein Vielfaches der von ihm veröffentlichten Texte aus. Die Briefe, die Doderer schreibt, ähneln mittelalterlichen Urkunden: Sie beginnen mit einem roten Initial und enden mit dem ebenfalls in roter Tinte geschriebenen Datum; der Inhalt ist in grüner Tinte gehalten.
Doderers Bewunderung für die Antike geht recht weit. So verachtet er die gegenwärtige Herrenmode, deren Vorschriften er dessenungeachtet mit aristokratischer Akkuratesse strikte befolgt. Er findet, daß die Männer im modernen Anzug »weder Arme noch Beine« haben: »Verglichen mit der Tunika haben wir heute eine unmögliche Tracht.«
Auch den Schriftsteller mißt der Bogenschütze Doderer am heidnisch-römischen Vorbild (Gütersloh: »Unser Doderer ist net zum Dertaufen. Er bleibt Heide."). »Der Schriftsteller«, doziert Heimito von Doderer, »ist nach meiner Meinung jemand, der jederzeit seine Meinung öffentlich in gesetzter Rede vorbringen kann. Er muß reden können, wie er schreibt.« Und indem er sich plötzlich gleichsam mit der Antike identifiziert, fährt Doderer fort: »Wir im Altertum kennen keine Leser mit den Augen. Wir hören unsere Stimme, wir müssen eine schallende Stimme haben, die über die Agora* klingt, starke Beine, um lange stehen zu können, einen anschaulichen, kräftigen Körper, um nicht lächerlich zu wirken.« Gemessen an solcherart antikischem Ideal scheint dem Schriftsteller Doderer ein Mann, der sogenannte Zeitromane schreibt, als Verfasser »einer Zeitung zwischen Buchdeckeln«.
Solche »Zeitungen zwischen Buchdeckeln« schreibt Doderer nun allerdings auch niemals. Bevor er einen Roman beginnt, entwirft er ausgedehnte Planskizzen, auf denen die Stationen der Handlung und die Beziehungen der handelnden Personen zueinander, ja zuweilen sogar bereits die Seitenzahlen der Kapitel genau vorausbestimmt sind. Solche Pläne sind mit Linien, Pfeilen, Kreuzen und Bemerkungen versehen, die mit Tinte unterschiedlicher Farbe eingetragen werden.
Ein Augenzeuge, der Essayist von Winter, hat diesen Auftakt beschrieben: »Ein umfangreiches Reißbrett wird zur Hand genommen, darauf ein Zeichenblatt befestigt und nun der gesamte Aufbau des geplanten Romans in ein Koordinatensystem gebracht ...
»Erst wenn diese Vorarbeit geleistet ist, geht es ans Schreiben, was an einem kleinen Tisch in nach links schiefer Haltung besorgt wird . . . Zur Linken sind die graphischen Entwürfe aufgebaut, werden immer wieder zu Rate gezogen. Dann wird im Schreiben gebremst, beschleunigt, zurückgegriffen, dem Gedächtnis des Lesers nachgeholfen, kurz alles dergestalt ineinander gewoben, daß nirgends ein ,Loch' entstehen kann.« Der Doderer - Bewunderer erläutert: »Sartre widerfährt es mit dem Sohn des rotspanischen Malers in (dem Roman) ,Chemins de la Liberté' -, eine Randfigur im Verlaufe der Begebenheiten umzutaufen. Bei anderen ist dieselbe Person bald blond, bald tizianrot. Solches Malheur kann Doderer nie passieren.«
Freund Gütersloh beschreibt die Anlage solcher Kompositions-Skizzen kürzer: »Es sieht«, sagt Gütersloh, »wie eine Architekturzeichnung aus. Dann ist für ihn (Doderer) die wichtige Arbeit bezüglich des Stoffes erledigt, und er kann sich ganz der Sprache hingeben.«
Das tut Doderer nun allerdings keinesfalls. Bei aller Formulierlust und beträchtlicher Formulierkunst verwendet Doderer viel Zeit auf eine äußerste Genauigkeit
des Details. »Er unterhielt und unterhält«, berichtet Weigel durchaus wahrheitsgemäß, »zu solchem Behuf unter anderem enge Beziehungen zur Wiener Zentralanstalt für Meteorologie, denn er muß wissen, ob und wie es an dem betreffenden Tag in den zwanziger Jahren zu einer bestimmten Stunde geregnet hat oder nicht, ehe er ihn beschreibt.«
Doderer ist in der Tat nach London gefahren, um die Richtigkeit eines Kapitels, das in dem Stadtviertel Chelsea spielt, an Ort und Stelle zu überprüfen. Doderer wanderte durch die Wiener Kanalisation - deren Gewirr in einigen Absätzen des Romans »Die Dämonen« beschrieben ist -, er fuhr wegen eines Kapitels über eine Untergrundbahn nach Berlin und ist dort, laut Gütersloh, »sogar mit Erlaubnis der Direktion durch einen Tunnel geschloffen«.
Die Straßenbahn zum Beispiel, die der schönen Frau Mary K. am 21. September 1925 das rechte Bein abfuhr, verkehrte damals tatsächlich - wie bei Doderer angegeben - auf der linken, und nicht wie heute auf der rechten Seite.
Weigel: »Wenn einer seiner Helden eine alte Inschrift auffindet, lernt Heimito von Doderer mittelhochdeutsch, wenn er eine Vase geschenkt bekommt, erlernt er das Töpferhandwerk. Alles stimmt bei ihm so ungeheuer verläßlich, sofern es sich um Fakten, selbst solche des äußersten Randes handelt.« Somit befindet sich Doderer in Einklang mit einer Forderung, die der spanische Philosoph Ortega y Gasset in einer Schrift »Gedanken über den Roman« im Jahre 1925 formulierte:. »Die Qualität des Details entscheidet über den Rang des Buches.« Kritiker Weigel scherzte: »Glücklicherweise wird in seinen (Doderers) Erzählungen auch gegessen und getrunken.«
Vor allem wird bei Doderer viel gerochen. Bereits auf den architektonischen Skizzen für die »Dämonen« hat Doderer für das vorletzte Kapitel »Das Feuer« eine »Geruchssymphonie« festgelegt:
»Das Finale der 'Dämonen' habe ich auf Gerüchen aufgebaut, nämlich auf dem Brandgeruch des Feuers und auf dem kühlen, konservierenden Kampfergeruch in den Wohnungen.« Der Rhythmus, in dem die beiden kontrastierenden Gerüche abwechselnd im Romankapitel vorkommen, entspricht genau dem vorher gezeichneten Plan.
Der Geruch ist, laut Doderer, »der am meisten metaphysische Sinn des Menschen«. Im Roman »Das Geheimnis des Reiches"* wird am Anfang ein von Doderer im ersten Weltkrieg bestandener Nahkampf beschrieben, und Doderer sagt, die dort geschilderten Gerüche seien ihm noch heute, vierzig Jahre später, gegenwärtig: »Der Geruch des österreichischen Kommißkaffees und der österreichischen Zigaretten hat mit dem Geruch der Russen nach Leder und Tee fast sichtbar gerungen, auf Tod und Leben. Heute ist für mich jeder Charakter, jeder Gesichtsausdruck ein Geruch. Ich will darüber noch einmal eine Arbeit machen, über den Zusammenhang von Geruch und Gedächtnisfunktionen.«
Wiener Hausmeister
Der überentwickelte Geruchssinn erklärt wohl auch, warum Doderer bei aller Autoren-Toleranz gegenüber jeglicher Spezies Mensch offenbar eine Berufskaste abgründig und unversöhnlich haßt: die Wiener Portiersleute. Es ist die einzige Schicht, die der Aristokrat generell verdammt - ein Schicksal, das sonst weder die Prostituierten und die Gauner, geschweige etwa die Arbeiter ereilt.
Der Mief aber, der dem geruchsempfindlichen Doderer aus Wiener Portierslogen entgegenschlägt, provoziert seine Polemik zu äußerster Schärfe. In den »Dämonen« schreibt Doderer zum Beispiel von den »Wiener Hausmeister-Wohnungen, aus welchen die bösartige und fast dämonischobstinate Ausdünstung der hier hausenden Menschenrasse - soweit da von einer solchen noch gesprochen werden darf - nie mehr vertrieben werden könnte, nicht mit Desinfektionen und Kalk und nicht mit Strömen heißer Seifenlauge: der Geruch einer geradezu furchtbaren Lebensgesinnung verharrt, sei's in den Wänden, sei's in der Luft, sei's meinetwegen jenseits alles Physikalischen überhaupt - als ein zum immer wieder umgehenden Gespenst entarteter Genius loci.
»Deshalb bleiben derartige Höhlen auch stets ihrem ursprünglichen Zweck erhalten, und es würde in Wien jedermann mit Grauen sich weigern, in eine Hausmeister-Wohnung zu ziehen, es sei denn, er gehöre dieser Rasse selbst an oder stamme etwa von ihr ab.«
Freilich ist es nicht nur Doderers Geruchsempfindlichkeit, die in dem Roman »Die Dämonen« wieder auftaucht. Im selben Roman entwickelt zum Beispiel der Schriftsteller Kajetan von Schlaggenberg eine sogenannte »Dicke-Damen«-Theorie wie eine Weltanschauung: Er verachtet das modische Ideal des schlanken, hochgewachsenen Mädchens und verspricht sich eine Besserung der Weltumstände, wenn sich das Idealbild der Männer in die Richtung auf dicke Damen verschieben würde.
So hat sich auch Doderer eine Zeitlang durch Zeitungsinserate und auf andere Weise die oft intime Bekanntschaft mit ungewöhnlich dicken Frauen zu verschaffen gewußt. Es bleibt eine Frage der Auslegung, ob Doderer hier Detailstudien betrieb, um die Marotte des Kajetan von Schlaggenberg genau beschreiben zu können, oder ob dem Kajetan hier nur ein Kapitel aus Doderers Biographie auferlegt worden ist. Sicherheitshalber fordert aber Doderer im Gespräch: »Verwechseln Sie doch nicht die Ansichten meiner Romanfiguren mit den meinen.«
Die österreichische Literatur-Zeitschrift »Wort in der Zeit« interpretiert allerdings dieses Dicke-Damen-Intermezzo als eine »schonungslose Parodie aller Weltanschauungen«, und als eine solche Parodie auf Ideologien jeglicher Art möchte Heimito von Doderer in der Tat diese Absätze verstanden wissen.
Schlaggenbergs »Dicke-Damen-Theorie« figuriert nämlich in den »Dämonen« ausdrücklich als Beispiel für das, was Doderer die »zweite Wirklichkeit« nennt. Unter der »zweiten Wirklichkeit« versteht Doderer alle Systeme, Ideologien oder Weltanschauungen, die den Anspruch erheben, für alle Menschen - oder mindestens eine Gruppe von Menschen - verbindlich zu sein. Darunter fallen sowohl die idealistischen - also etwa das von dem griechischen Philosophen Platon entworfene Idealbild eines Staates -, wie die sozialistischen Ideologien, also etwa der Marxismus.
Solche »zweiten Wirklichkeiten« aber, meint der enragierte Individualist Doderer, verstellen dem Menschen den Blick auf die nur für ihn geltende - und für jeden Menschen anders geartete - persönliche Lebensordnung.
Jene »zweiten Wirklichkeiten« müssen platzen »wie Wursthäute«, wenn ein Mensch, wenn eine Romanfigur vor Doderer bestehen soll. Die »zweite Wirklichkeit« ist die Landschaft, in der die »Dämonen« hausen. Die Überwindung solcher »zweiten Wirklichkeiten« ist das zentrale Problem in Doderers Hauptwerk »Die Dämonen«, sie ist der kategorische Imperativ, ist das Credo des Schriftstellers Heimito von Doderer.
Jeglicher Versuch, Probleme im Kollektiv zu lösen, wird, laut Doderer, mit dem Verlust der Fähigkeit bezahlt, »den eigentlichen gordischen Knoten der Zeit in der eigenen Brust zu lösen, was an keinem anderen Orte und auch nie im Vereine mit anderen geschehen kann«.
Aus schmerzlicher eigener Erfahrung weiß Doderer nämlich: »Die stauende Wirkung derartiger gesammelter Aufschübe erzeugt dann die sogenannte Wucht der geschichtlichen Tatsachen, und was man vorher nicht im Kopfe haben wollte, kriegt man hinternach als eine Tracht Wissen auf den Hintern, der aber kein fruchtbares Feld für solchen Anbau sein kann, sondern nur dumm weh tut.«
Für das Unternehmen, sich gegen jede lockende Kollektiv-Lösung einen Weg zur eigenen Lebensordnung zu bahnen, hat Doderer in den »Dämonen« einen Idealfall konstruiert: Es ist der Fall des Arbeiters Leonhard Kakabsa. Der Arbeiter Kakabsa - wegen seines empfindlichen Geruchssinnes wechselt er von der Donau-Dampfschiffahrt in die hygienisch sauber riechenden Fabrikhallen einer Gurtweberei über - gewinnt derartig die Hochachtung seines Autors, daß sich der Chronist Doderer alias Geyrenhoff sogar »als Ehrenbezeigung vor seiner Figur für einen Augenblick vom Schreibtisch erhebt«. Die Ursache für solcherlei Salut: Kakabsa lernt Latein.
Kakabsa gibt ein Beispiel, indem er auch als Arbeiter - also eingewebt in alle etwa gewerkschaftlichen oder sozialistischen Kollektivträume - seine nur ihm eigene Freiheit, die nur für ihn geltende Ordnung herausfindet. Der Lohn bleibt nicht aus: Kakabsa gewinnt die Liebe der reichen Frau Mary K. und erhält obendrein eine angenehme Lebensstellung als Verwalter einer prinzlichen Bibliothek. Auch Doderer wird nicht das Gefühl haben, an diesem Beispiel die sogenannte »soziale Frage« gelöst zu haben. Er beabsichtigte auch durchaus das Gegenteil: Er behauptet - Revolutionen sind ihm immer ein Zeichen für »unscharfes Sehen« der Realität -, daß jeder Mensch nur zu seiner eigenen Ordnung finden kann, indem er die (erste) Wirklichkeit akzeptiert. »Ablehnen kann niemand die Charge, die ihm das Leben verleiht, sei es die eines Leutnants oder einer Braut, eines Brotherren oder eines Dieners oder gar eines Ehemannes.« Doderer findet: »Der Sozialismus hält bereits beim l'art pour l'art.«
Daß Heimito von Doderer die Weltanschauungen, die »zweite Wirklichkeit«, die er zu bekämpfen wünscht, im Bilde geschlechtlicher Abartigkeiten zeichnet - außer der Schlaggenbergschen Vorliebe für dicke Frauen gibt es in den »Dämonen« einen Kaufmann mit einer sonderbaren Affektation für Hexenprozesse -, ist keine nur poetische Transposition und, laut »Wort in der Zeit«, nicht nur ein »Autorenscherz«. Doderer sieht zwischen Erotik und Politik echte Verbindungen. Er arbeitet gegenwärtig an einer Studie über »Sexualität und totaler Staat«.
* Heimito von Doderer: »Die Dämonen«; Biederstein Verlag, München; 1348 Seiten; 38 Mark.
* Walter Muschg: »Die Zerstörung der deutschen Literatur«; Francke Verlag, Bern; 197 Selten; 11,80 Mark.
* Weitere Übereinstimmungen ergeben sich aus dem Text, zum Beispiel bei der Schilderung des Brandes Dostojewski: »Aus dem großen Saal des Herrenhauses von Skworeschniki . . konnte man das Feuer wie auf einer Handfläche sehen.« Doderer: »Von der Terrasse der Meierei beim Schlosse Cobenzl konnte man das Feuer in der Stadt wie auf einer flachen Hand sehen.«
* Im autobiographischen Nachwort zu seiner Erzählung »Das letzte Abenteuer«; Reclam-Verlag, Stuttgart; 128 Seiten; 1,20 Mark.
** Heimito von Doderer: »Ein Umweg«; Biederstein Verlag, München; 280 Seiten; 7,50 Mark.
*** Heimito von Doderer: »Die Strudlhofstiege«; Biederstein Verlag, München; 912 Seiten; 22,50 Mark.
* Der Name ist eine Anspielung auf einen unveröffentlichten Roman »Lenz Scolander« von Albert Paris Gütersloh. Gütersloh revanchierte sich, Indem er seinen Freund Doderer in einem Buch als Ariovist von Wissensdom auftreten läßt.
* »Agora« (Betonung auf der letzten Silbe): In der Antike bei den Griechen der Marktplatz, auf, dem die Volksversammlungen abgehalten wurden.
* Heimito von Doderer »Das Geheimnis des Reiches«; Saturn Verlag Wien.
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