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SPIEGEL Gespräch »Der Spitzensteuersatz ist nicht tabu«

Finanzminister Gerhard Stoltenberg über seine politischen Ziele und seine Karriere
aus DER SPIEGEL 9/1985

SPIEGEL: Herr Minister, nach Umfragen in der Bevölkerung sind Sie weit populärer als Ihre Kabinettskollegen, den Bundeskanzler eingeschlossen. Ihr Ansehen in der Partei dagegen sinkt. Können Sie sich diesen Widerspruch erklären?

STOLTENBERG: Maßstab für die Einschätzung durch die Partei sind nicht Umfragen, sondern die Wahlen bei Parteitagen. Ich bin in meinem Landesverband mit über 97 Prozent als Landesvorsitzender wiedergewählt worden. Ich glaube aber auch, daß die Haushalts- und Finanzpolitik der letzten zwei Jahre trotz mancher Härten von der großen Mehrzahl der Bürger verstanden wird. Sie hat zu dem drastischen Rückgang der Inflationsrate und zu der Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beigetragen.

SPIEGEL: Offenkundig honorieren die Bürger Ihre Auftritte als gestrenger Sparkommissar. Ihre Ministerkollegen aber haben das Sparen offenbar satt.

STOLTENBERG: Wir haben im Bundeshaushalt schon seit gut einem Jahr keine neuen gesetzlichen Eingriffe mehr beschlossen. Die Zeit der Kürzung von Leistungsgesetzen ist vorbei.

SPIEGEL: Die früheren Einschnitte tun den Arbeitslosen, den Behinderten, den Rentnern und anderen Gruppen erst jetzt richtig weh. Ihnen schadet das offenbar nicht. Aber andere, beispielsweise der Arbeitsminister Norbert Blüm, sind in der Wählergunst gesunken.

STOLTENBERG: Der Ertrag unserer Politik, also die Zustimmung der Bevölkerung oder ihre Kritik, trifft uns alle gemeinsam. Wir können ja nicht eine erfolgreiche Politik verwirklichen, wenn populäre Entscheidungen dem einen zugeordnet werden und unpopuläre dem anderen. Das würde nicht dem Selbstverständnis dieser Bundesregierung entsprechen.

SPIEGEL: Die Etiketten, die Ihnen angeheftet werden, lauten einerseits: solide, standhaft, beharrlich. Andererseits heißt es immer häufiger, der Finanzminister sei stur, ausschließlich auf sein Sparziel fixiert, ihm fehle der Wille, wie Franz Josef Strauß in Kreuth gesagt hat, politisch zu gestalten.

STOLTENBERG: Jeder Finanzminister steht im Widerstreit der Wünsche und Forderungen. Das ist eine Eigenart des Amtes, nicht so sehr der Person. Ich muß darauf achten, daß die zwischen CDU/CSU und FDP vor und nach der Bundestagswahl festgelegten vorrangigen finanzpolitischen Ziele auch über vier Jahre durchgehalten werden. Aber wir haben gleichzeitig wichtige gestaltende Entscheidungen getroffen.

Es gibt jetzt erfreulicherweise Einvernehmen über das Gesetz zur Senkung der Einkommen- und Lohnsteuer. Wir setzen auch neue Schwerpunkte. Das familienpolitische Programm der Koalition führt zu einer erheblichen materiellen und ideellen Stärkung der Eltern mit Kindern, der Familien. Das ist gestaltende Politik.

SPIEGEL: Finanzminister sind ja immer bedeutende Menschen in Bonn. Der Finanzminister Stoltenberg aber hat eine besonders starke Position, weil die CDU/CSU/FDP-Koalition den Abbau der Staatsschulden zu ihrer Hauptaufgabe gemacht hat. Sie können durch Ihr Nein alles verhindern, was Geld kostet, und bestimmen damit praktisch die Richtlinien der Politik. Fällt Ihnen deshalb nicht auch die Verpflichtung zu, selber Akzente zu setzen?

STOLTENBERG: Die Richtlinien der Politik bestimmt der Bundeskanzler, nicht nur nach der Verfassung, sondern auch in der Alltagsarbeit dieser Regierung. Aber der Bundeskanzler läßt, was wohltuend ist, seinen Kabinettskollegen einen bestimmten Freiraum für eigene Vorschläge. Jeder Kenner hier in Bonn weiß, daß in den ersten eineinhalb Jahren dieser Koalition eine ganze Reihe von Kabinettsvorlagen zwischen den Kollegen Norbert Blüm, Graf Lambsdorff und mir vorbereitet wurden.

SPIEGEL: Der Kollege Blüm weiß ein Lied davon zu singen. Nach welchen Grundsätzen gewähren Sie denn Spielraum oder blocken Aktivitäten ab?

STOLTENBERG: Für mich ist eine sehr zurückhaltende Ausgabenpolitik nicht nur ein fiskalisches Ziel. Sparen hat nicht nur den Sinn, die Neuverschuldung zu vermindern. Ich bin davon überzeugt, daß wir zu einer Rückführung des Staatsanteils am Bruttosozialprodukt kommen müssen. Wir haben heute drei Länder, die eine wesentlich bessere Beschäftigungssituation haben als die Bundesrepublik Deutschland. Das sind die USA, Japan und die Schweiz. Die haben einen Staatsanteil von etwa 35 Prozent. Bei uns ist der in der sogenannten sozialliberalen Ära von 39 auf 50 Prozent gestiegen. Jetzt liegen wir bei etwas über 48 Prozent. Meine ordnungspolitische Vorstellung ist, daß wir den Staatsanteil bis Ende der 80er Jahre auf 45 Prozent zurückführen müssen.

SPIEGEL: Uns scheint die direkte Verknüpfung von geringem Staatsanteil _(Mit Redakteuren Heiko Martens und ) _(Winfried Didzoleit. )

und hoher Beschäftigung nicht zwingend. Seit Sie Finanzminister sind, ist der Staatsanteil schon um mehr als ein Prozent zurückgegangen, die Unternehmereinkommen steigen seit einigen Jahren überproportional. Trotzdem sind 1984 die Investitionen in der Bundesrepublik entgegen Ihren Erwartungen kaum gestiegen, die Zahl der Beschäftigten ist weiter gesunken.

STOLTENBERG: Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit sind zwar prozentual beachtlich gestiegen, aber von einem Tiefpunkt aus. Parallel dazu werden wir 1985 nach den Vorhersagen der Sachverständigen erstmals seit 1979 auch wieder einen gewissen Realanstieg der Arbeitnehmereinkommen haben. Das ist die Folge des scharfen Rückgangs der Inflationsrate.

Ich erwarte eine starke Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen in diesem Jahr, möglicherweise, wie der Sachverständigenrat schätzt, bis zu zehn Prozent real. Die Erwartungen auf ein anhaltendes Wachstum und auf eine gewisse Entlastung auf dem Arbeitsmarkt gründen vor allem auf dieser erheblichen Zunahme der privaten Ausrüstungsinvestitionen und auf einer weiter günstigen Exportentwicklung.

SPIEGEL: Schön, wenn es so kommt. Bleibt aber immer noch die Frage, in welchem Umfang ein solcher, im Vorjahr ausgebliebener Investitionsschub Arbeitsplätze schafft.

STOLTENBERG: Ein großer Anteil besteht zweifellos aus Rationalisierungs- und Modernisierungsinvestitionen. Aber Modernisierungsinvestitionen und teilweise auch Rationalisierungsinvestitionen dienen der Sicherung von Arbeitsplätzen. Erfreulicherweise steigt jetzt der Anteil der Erweiterungsinvestitionen.

SPIEGEL: Rationalisierungsinvestitionen sichern vielleicht alte Arbeitsplätze, schaffen aber keine neuen. Im vergangenen Jahr hatte die Bundesrepublik ein Wachstum von 2,6 Prozent und einen Rückgang der Beschäftigten um 85 000. In diesem Jahr erwarten Sie ein Wachstum von rund 2,5 Prozent und prognostizieren im Jahreswirtschaftsbericht einen Anstieg der Beschäftigten um 100 000 bis 150 000. Woher nehmen Sie eigentlich die Zuversicht?

STOLTENBERG: Der Jahreswirtschaftsbericht sagt 2,5 Prozent Wachstum und mehr. Die Erwartungen richten sich eher auf eine Größenordnung um die drei Prozent. Wenn wir einmal von dem starken, saisonal bedingten Einbruch im Januar und teilweise auch im Februar absehen, gibt es deutliche Zeichen, daß in wichtigen Wirtschaftsbereichen zusätzliche Arbeitnehmer eingestellt werden.

SPIEGEL: Es gibt auch Branchen, da werden Kündigungen diktiert.

STOLTENBERG: Wir haben ein ernstes Problem mit der Gegenbewegung in der Bauwirtschaft. Ich vermute aber, daß wir dennoch im Jahresverlauf zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit kommen werden. Das heißt: Ende des Jahres 1985 erwarte ich niedrigere Arbeitslosenzahlen als am Jahresende 1984.

SPIEGEL: Die chemische Industrie meldete für 1984 stolz ein Wachstum von elf Prozent, die Zahl der Beschäftigten stieg dabei nur um knapp 10 000, also um etwa zwei Prozent. Dieser magere Stellenzuwachs wurde erzielt bei einer normalen Auslastung der Betriebe von etwa 85 Prozent. Ähnlich sind die Verhältnisse in anderen Wachstumsbranchen, etwa der Elektroindustrie. Wo soll der Abbau der Arbeitslosigkeit eigentlich stattfinden?

STOLTENBERG: Die vorhandene Neigung zu Einstellungen müssen wir unterstützen. Wir wollen in den nächsten Wochen das Beschäftigungsförderungsgesetz verabschieden. Wir brauchen bessere Bedingungen für Zeitverträge und Teilzeitarbeit. Mir sagen viele, vor allem mittlere Unternehmen, die das Beschäftigungsthema sehr ernst nehmen, daß sie in dem Moment mehr einstellen werden, wenn die Möglichkeit zu Zeitverträgen besteht.

SPIEGEL: Welche Auswirkungen hat dann Ihre Haushaltsführung auf die Arbeitslosigkeit? Die Regierung appelliert an die Gemeinden, endlich zu investieren und zu bauen. Der investive Anteil am Bundeshaushalt aber ist keineswegs gestiegen. Kommen gar keine Anstöße von Ihnen?

STOLTENBERG: Die Investitionsanteile in den Haushalten sind von Anfang 1970 bis Anfang der 80er Jahre erheblich abgesunken. Es gibt seit 1983 eine geringfügige Verbesserung. Wir haben die von meinen Vorgängern in der Zeit der Rezession und Finanzkrise vorgenommenen drastischen Kürzungen bei den großen Gemeinschaftsfinanzierungen rückgängig gemacht. Ich stelle nur leider fest, daß manche Mittel nicht abfließen.

SPIEGEL: Wie kommt das?

STOLTENBERG: Das liegt daran, daß unter dem Vorzeichen des Umweltschutzes ein Großteil der öffentlichen Investitionen vor Ort jahrelang in Frage gestellt werden. Einsprüche, Gerichtsverfahren, die sich vier, fünf Jahre hinziehen, führen zu einem erheblichen Investitionsstau. Das ist nicht nur ein Problem bei Kohle- und Kernkraftwerken, wo es Schlagzeilen macht.

SPIEGEL: In welcher Größenordnung liegt das?

STOLTENBERG: Ich bin sicher, daß dies einen sehr hohen Milliardenbetrag ausmacht in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden. Für den Bund allein waren es 1984 fast 1,7 Milliarden Mark.

SPIEGEL: Ihr Wachstumsziel, an dem alles hängt, ist schon gefährdet, wenn der Export einbricht oder wenn die Zinsen steigen. Das erste ist zu befürchten, wenn der Dollarkurs sackt, das zweite, wenn er weiter steigt.

STOLTENBERG: Im Moment macht mir natürlich Sorge, daß durch den Höhenflug des Dollars, der schon fast irrational ist, wir wieder leicht ansteigende Zinsen haben. Aber die liegen auch jetzt noch deutlich unter dem Zinsstand von Ende 1983.

SPIEGEL: Wenn eine Währung so hoch gehandelt wird wie der Dollar, kann sie rasch und tief fallen - mit Auswirkungen auf die Exporte der deutschen Unternehmen.

STOLTENBERG: Ich gebe keine Prognose. Wir müssen zugeben, daß sich eigentlich alle, die dazu mit fachlicher Autorität in den letzten 18 Monaten sprachen, geirrt haben.

SPIEGEL: Herr Stoltenberg, in Bonn sind Sie auch angetreten mit dem Ziel, Finanzhilfen, Subventionen und Steuervergünstigungen rigoros zusammenzustreichen. Leicht war - in der Opposition - das Märchen erzählt, doch schwerer scheinen nun - in der Regierung - die Taten.

STOLTENBERG: Auf diesem Feld tun wir uns tatsächlich schwer. Im Haushalt 1983 haben wir über 500 Millionen Finanzhilfen gestrichen. Einige Subventionen werden zurückgeführt oder laufen aus. Andere sind, wie die Bundesmittel zur Umstrukturierung der Stahlmittel, befristet. Sie werden Ende 1985 auslaufen, und dabei bleibt es.

SPIEGEL: Das ist nicht viel. In der Opposition haben Sie gefordert, jede einzelne Subvention um fünf oder zehn Prozent zu beschneiden. Verstaubt der Plan in den Akten?

STOLTENBERG: Zu den Subventionen gehören auch Sozialleistungen. Wohngeld ist zum Beispiel eine Subvention. Wir haben uns gerade entschlossen, nach fünf Jahren das Wohngeld spürbar anzuheben. Dafür gibt''s gute Gründe. Wir wollen aber bei der Vorbereitung des Etats 1986 bei den Subventionen an die gewerbliche Wirtschaft noch einmal eine sehr kritische Sonde anlegen. Ich bin allerdings nach einigen Erfahrungen skeptisch, ob wir mit einer linearen prozentualen Kürzung der Subventionen durchkommen.

SPIEGEL: Es würde ja auch schon helfen, wenn keine neuen hinzukämen. Da waren Sie aber höchstpersönlich tätig und haben den Bauern - gar nicht knauserig - 20 Milliarden spendiert.

STOLTENBERG: Das berechnen Sie nun auf einen Zeitraum von sieben Jahren. Diese von manchen kritisierte Entscheidung war eine unabweisbare Konsequenz aus den extrem harten Eingriffen, die Anfang letzten Jahres durch die EG erfolgt sind.

SPIEGEL: Ihre Kritiker - auch in der Regierung - sind ja nicht empört darüber, daß Sie den Bauern helfen, sondern wie Sie ihnen helfen. Sie schütten Ihr Füllhorn auch über jene aus, die kaum Nachteile verkraften mußten. Außerdem ist der Ausgleich an den Umsatz gebunden. Ergebnis: Großbetriebe profitieren mehr als kleine und mittlere Familienbetriebe.

STOLTENBERG: Der Weg, den wir gewählt haben, lag deshalb nahe, weil der drastische Abbau des Grenzausgleichs ebenfalls eine mengenbezogene Wirkung hatte. Diese Maßnahmen sind aber flankiert durch eine spürbare Erhöhung der Bundesmittel für die Agrarsozialpolitik. Insgesamt werden also auch die besonderen sozialen Probleme der kleinen Betriebe einbezogen.

SPIEGEL: Wirtschaftswissenschaftliche Institute haben die Verteilungswirkung Ihres Steuernachlasses für Landwirte untersucht und sind dabei zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen: Große Schweinemastbetriebe in Niedersachsen etwa, die kaum vom Grenzausgleich betroffen sind, profitieren erheblich. Die kleinen Milchbauern aber, denen es wirklich dreckig geht, bekommen kaum etwas von dem Segen ab.

STOLTENBERG: Diese Einschätzung wird vom sachverständigen Landwirtschaftsministerium in Frage gestellt.

SPIEGEL: Das Deprimierende bei vielen Milliardensubventionen ist der Eindruck, der Finanzminister versuche ein Faß ohne Boden zu füllen. Zum Beispiel überweist der Staat alljährlich Hunderte Millionen an Arbed Saarstahl, ohne daß abzusehen wäre, wann das Unternehmen je von seiner Kostgängerrolle wegkommt.

STOLTENBERG: Die staatlichen Entscheidungen im Hinblick auf Arbed, die 1975 begannen, kann man rückblickend sehr kritisch kommentieren. Wir haben Anfang letzten Jahres erklärt, daß wir keine weiteren direkten Zuschüsse für Arbed geben.

SPIEGEL: Wollen Sie Arbed pleite gehen lassen?

STOLTENBERG: Wir sind bereit, wenn das Unternehmen gemeinsam mit den Banken und anderen ein neues Sanierungskonzept vorlegt, über einen Forderungsverzicht zu reden.

SPIEGEL: Eines Ihrer Sparopfer ist die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit. Im Januar gab es mehr Arbeitslose als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Gleichzeitig aber haben Sie in der Arbeitslosenversicherung Milliarden übrig, um der Rentenversicherung zu helfen. Ist das nicht absurd - eine hohe Arbeitslosenzahl und gleichzeitig Überschüsse bei der Bundesanstalt für Arbeit?

STOLTENBERG: Unter dem Eindruck der dramatisch ansteigenden Arbeitslosigkeit hat die neue Bundesregierung im Winter 1982 und 1983 ihre Finanzplanung für die kommenden Jahre auf die Annahme einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von fast 2,5 Millionen Menschen aufgebaut. Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit ist mit etwa 2,25 Millionen immer noch erschreckend hoch, aber diese vorsichtige, vorsorgliche Planung hat der Bundesanstalt etwas mehr Reserven gegeben, als man annehmen konnte.

SPIEGEL: Das ist es doch nicht allein. Die Zahl der Dauerarbeitslosen, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld nach einem Jahr erloschen ist, wächst; die Anspruchsvoraussetzungen für den Zugang zum Arbeitslosengeld sind erschwert worden; es gibt gewisse Einsparungen bei den Leistungen, es gibt strengere Zugangsbestimmungen bei der Umschulung ...

STOLTENBERG: ... es gibt auch eine erhebliche Steigerung der Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Es gibt die Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung für ältere Arbeitslose ...

SPIEGEL: Die Tatsache bleibt, Nürnberg macht Überschüsse. Wäre es nicht plausibel, diese Überschüsse zu verwenden,

um den Lebensstandard der Arbeitslosen zu verbessern oder die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen noch weiter aufzustocken? Statt dessen stopfen Sie damit das Rentenloch.

STOLTENBERG: Auch das ist Arbeitsmarktpolitik. Die Koalition hat folgende Rentenentscheidung getroffen: eine einmalige Zahlung aus dem Bundeshaushalt bis zu 1,5 Milliarden und eine befristete Beitragserhöhung in der Rentenversicherung von 0,5 Prozent. Eine solche Belastung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist arbeitsmarktpolitisch nicht unbedenklich. Deshalb wurden 60 Prozent dieses Betrages durch eine Umschichtung von der Arbeitslosenversicherung zur Rentenversicherung erwirtschaftet.

SPIEGEL: Ach so, das war also kein finanzieller Verschiebebahnhof, sondern eine arbeitsmarktpflegende Maßnahme?

STOLTENBERG: Man kann, wie es auch Vertreter des DGB tun, mit guten Gründen sagen: Erhöht die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit für direkte Arbeitsmarktpolitik, für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, für Berufsbildung. Wenn aber die Folge eine stärkere Beitragserhöhung für die Arbeitnehmer und die Unternehmen ist, muß man befürchten, daß der Arbeitsmarkt negativ beeinflußt wird.

SPIEGEL: Die Beiträge in der Rentenversicherung werden in den nächsten Jahren ohnehin rapide wachsen, weil die Zahl der Rentner im Verhältnis zur Zahl der aktiven Arbeitnehmer steigt. Ist angesichts dieser Entwicklung nicht die Überlegung vernünftig, die Kosten der Renten von den Löhnen abzukoppeln, eine Art Maschinensteuer als zusätzliches Finanzierungsmittel einzuführen?

STOLTENBERG: Die umfassende, weit ins nächste Jahrhundert reichende eigentliche Rentenreform ist Aufgabe der kommenden Wahlperiode. Einiges spricht dafür, wegen des drastischen Rückgangs der Zahl der Berufsanfänger in den 90er Jahren Anreize zu schaffen, die Altersgrenze freiwillig hinauszuschieben.

SPIEGEL: Das ist nur ein kleines Regulativ, das rettet die Rentenversicherung nicht.

STOLTENBERG: Man wird auch untersuchen müssen, ob wir auf die Dauer ein System vertreten können, in dem man, wie manche Beamte, bereits mit 50 Jahren in Pension gehen kann.

SPIEGEL: Selbst wenn Sie es schaffen, bei den Beamtenpensionen zu sparen und dieses Geld in die Sozialversicherung zu stecken, werden sich die gegenwärtigen Beiträge kaum halten lassen.

STOLTENBERG: Man muß über die vertretbaren Grenzen des Anstiegs reden. Die Beiträge dürfen auf keinen Fall unbegrenzt steigen.

SPIEGEL: Wäre es in dieser Situation denn kein Ausweg, die hochproduktiven, aber wenig lohnintensiven Branchen stärker als gegenwärtig zur Finanzierung des sozialen Systems heranzuziehen?

STOLTENBERG: Ich habe bisher mehr Argumente gegen die Maschinensteuer gehört als dafür. Aber ich habe dieses Thema noch nicht in allen Konsequenzen selbst durchdacht.

SPIEGEL: Sie sind offen?

STOLTENBERG: Ja, mit einiger Skepsis, offen für Argumente.

SPIEGEL: Nicht nur bei der Reform des Rentensystems richten Ihre Parteifreunde den Blick schon in die nächste Legislaturperiode. Noch ist der erste Schritt Ihrer beschlossenen Steuerreform nicht getan - der zweite ist ohnehin erst für 1988 geplant -, da spekulieren die Liberalen, aber auch Ihre beiden Parlamentarischen Staatssekretäre bereits über neue Pläne: der Spitzensteuersatz von jetzt 56 Prozent soll auf 35 Prozent gesenkt werden. Finanzieren wollen die Steuerrevolutionäre diese Wohltat für Wohlhabende durch das Streichen von Steuervergünstigungen. Sind das Windeier?

STOLTENBERG: Wir halten es für notwendig, planerisch für die kommende Wahlperiode einen Steuertarif vorzubereiten, der zu einem linear progressiven Verlauf führt oder ihm sehr nahekommt. Bei jeder Einkommenssteigerung durch Tarifverträge, durch beruflichen Aufstieg oder durch Mehrleistung werden den meisten Bürgern heute 40, 50 und 60 Prozent des Zusatzverdienstes weggenommen. Das ist ein höchst bedenklicher Vorgang.

SPIEGEL: Was ist mit dem Spitzensteuersatz?

STOLTENBERG: Für mich ist der Spitzensteuersatz nicht tabu. Es gibt gute Argumente dafür, ihn auf etwa 50 Prozent abzusenken. Aber 35 Prozent ist kein realistischer Vorschlag. Man kann heute noch nicht sagen, ob wir in vorausschaubarer Zeit den Spielraum haben, die Absenkung auf 49 oder 50 Prozent vorzunehmen. Wir müssen eine neue Eröffnungsbilanz machen zum Zeitpunkt der Bundestagswahl. Aber wichtiger ist für mich der durchgehende Tarif.

SPIEGEL: Sie haben den Ruf, ein besonders vorsichtiger Haushälter zu sein. Doch in diesem Jahr haben Sie sich auf ein seltsames Spiel eingelassen: Der Finanzminister kalkuliert seine Steuereinnahmen mit anderen Zahlen als der Arbeitsminister seine Beitragseinnahmen im Sozialbereich.

STOLTENBERG: Wir haben eine Feinabstimmung vorgenommen, wie es jedes Jahr als Voraussetzung für die Steuerschätzung geschieht. Wir werden bei der Steuerschätzung im März nicht mit 2,5 Prozent, sondern mit 2,7 Prozent Wachstum rechnen. Wir kalkulieren die durchschnittliche Preissteigerungsrate für die Jahre 1985 bis 1988 nicht mit zwei Prozent, sondern mit 2,3 Prozent. Wenn wir dieses Ziel erreichen, dann können wir alle 1988 sehr froh sein. Aber das ist keine Schönfärberei, sondern eine vertretbare Korrektur.

SPIEGEL: Die Differenzen zwischen Ihnen und Blüm liegen bei der Schätzung des zu erwartenden Einkommensanstiegs.

STOLTENBERG: Beim Einkommenszuwachs von 3,5 Prozent ist in der Tat der oberste denkbare Wert gewählt worden. Es kann sein, daß wir nach den Tarifvereinbarungen, insbesondere bei Metall als Folge der 38,5-Stunden-Woche und in anderen Bereichen, darunterbleiben. Deswegen habe ich ausdrücklich zugestimmt, daß Norbert Blüm in der Rentenversicherung eine Alternativrechnung macht mit einem Einkommenszuwachs von nur drei Prozent.

SPIEGEL: Der Konsolidierungsbedarf bei der Rentenversicherung stützt sich aber doch auf eine niedrigere Entgeltannahme. Ihre Steuerrechnungen dagegen beruhen auf einem höheren Wert.

STOLTENBERG: Ich habe jetzt zwei Jahre von einigen Politikern, auch in der Koalition, gelegentlich den Vorwurf gehört, der Finanzminister rechne sich immer arm. Jetzt wollen Sie mir vorrechnen, ich rechne mich reich. Ich habe weder das eine noch das andere vor.

SPIEGEL: Nur eine Entwicklung wird eintreten.

STOLTENBERG: Ich halte die Grundannahmen für die Steuereinschätzung für behutsam, für realistisch und sage ausdrücklich, in dieser Entgeltsentwicklung gibt es einen Unsicherheitsfaktor. Aber wir können ja auch drei Prozent Wachstum statt 2,7 erreichen. Das ist sehr gut möglich, und dann wäre das mögliche Manko bei den Löhnen wieder eingefangen.

SPIEGEL: Sie sind jetzt zwei Jahre Finanzminister, haben einiges durchlebt, erlitten ...

STOLTENBERG: ... mehr erlebt als durchlitten.

SPIEGEL: Nach diesen Erfahrungen: Haben Sie eigentlich mit Ihrem jetzigen Amt Ihr Lebensziel erreicht?

STOLTENBERG: Ich habe als Politiker nie eine sogenannte Karriereplanung gemacht. Ich bin mit allen Aufgaben, die ich seit Mitte der 60er Jahre hatte, sehr zufrieden gewesen, ich bin es jetzt auch.

SPIEGEL: Gefällt es Ihnen, daß Sie von Freund und Feind als natürlicher Nachfolger von Helmut Kohl gesehen werden für den Fall, daß der Kanzler aus irgendeinem Grunde ausfallen würde?

STOLTENBERG: Es ist in einer Demokratie wohl unvermeidbar, daß Journalisten und vielleicht auch manche Politiker ...

SPIEGEL: ... viele Politiker ...

STOLTENBERG: ... solche Spekulationen anstellen. Ich halte nicht viel davon, weil die Grundlage einer erfolgreichen Arbeit für mich auch das sehr vertrauensvolle und gute Verhältnis ist, das mich mit dem Bundeskanzler verbindet. Dieses gute Verhältnis soll auch weiterhin Bestand haben. Wenn ich auch nur gedanklich mich an solchen Spekulationen beteilige, dann wäre das nicht sehr sinnvoll und gut.

SPIEGEL: Sind Sie sich Ihrer Gedanken so sicher? Manchmal schießt einem ja was in den Kopf.

STOLTENBERG: Ich bin in der Tat ein auf konkrete, jetzt gestellte Aufgaben hin orientierter Politiker. Von Spekulationen halte ich wenig.

SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

[Grafiktext]

ABBAU Die wichtigsten Sparmaßnahmen der Regierung Kohl im Bereich der Sozialen Sicherung Schwerbehinderte Einschränkungen der unentgeltlichen Beförderung und Kfz-Steuerbegünstigung Krankheit Erhöhung der Rezeptgebühr, Selbstbeteiligung an Kosten für Krankenhausaufenthalt und Kuren Renten Einschränkungen bei der Zuerkennung von Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente Sozialhilfe Stärkere Einbeziehung von Verwandten in die Unterhaltspflicht Arbeitslosengeld Kürzung bei Arbeitslosen nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung Sozialabgaben Einbeziehung von Kranken-, Verletzten- und Übergangsgeld in die Beitragspflicht Bafög Einschränkung der Schülerförderung, Umstellung der Studentenförderung auf Darlehen Renten Herabsetzung der Witwen- und Witwerabfindung bei Wiederheirat von fünf auf zwei Jahre Arbeitslosengeld Bei Arbeitslosen ohne Kinder Senkung von 68% auf 63% des früheren Nettoentgelts Sozialabgaben Stärkere Einbeziehung von Sonderzahlungen (z. B. Weihnachts- und Urlaubsgeld) in die Beitragspflicht Rentner Einführung eines Krankenversicherungsbeitrages Arbeitslosenversicherung Anhebung des Beitragssatzes Arbeitslosenhilfe Bei Arbeitslosen ohne Kinder Senkung von 58% auf 56% des früheren Nettoentgelts Landwirte Kürzung des Bundeszuschusses zur landwirtschaftlichen Altershilfe Kindergeld Einkommensabhängige Reduzierung Mutterschaffsurlaubsgeld Kürzung der Dauer von vier auf drei Monate, des Tagesgeldes von 25 auf 20 Mark; (vom 1. Jan. 1986 an Umwandlung in Erziehungsgeld für alle Mütter) Wohngeld Einschränkungen UNTER DRUCK Veränderung des Bruttoinlandsprodukts und der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer, Index 1979 = 100 Bruttoinlandsprodukt (je Erwerbstätigen, real) beschäftigte Arbeitnehmer Arbeitslosenquote

[GrafiktextEnde]

Mit Redakteuren Heiko Martens und Winfried Didzoleit.

H. Martens, W. Didzoleit
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