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Artikel 43 / 76

DER STAATSCHEF SAH DIE TODESLISTE

Freimütig veröffentlicht die tschechoslowakische Presse Berichte über das Vorgehen von Polizei, Gerichten, Staatssicherheitsorganen und Spitzelorganisationen in der stalinistischen Zeit. Der SPIEGEL gibt Auszüge aus diesen Zeitungsartikeln wieder. Augenzeugen beschreiben die Verfolgung unschuldiger Bürger in einem kommunistischen Staat, dessen Terror -- wie die offene Kritik beweist -- in der Tschechoslowakei der Vergangenheit angehört.
aus DER SPIEGEL 16/1968

»Literárni listy« vom 28. März 1968 Der Schriftsteller Filip Jánsky schildert ein Treffen ehemaliger Armeeangehöriger im März dieses Jahres, das im Großen Saal des Slawischen Hauses in Prag stattfand.

Es wirkte schon peinlich, als sich -- nach einer Aufforderung über die Lautsprecher -- einige hundert Gestalten erhoben, die in den fünfziger und sechziger Jahren dem »Strafvollzug« ausgesetzt waren.

Noch peinlicher wurde es, als eine ehemalige Stenotypistin aus der sogenannten 5. Abteilung der Armee über die Methoden bei den Verhören aussagte.

Geradezu schockierend aber war es, Auge in Auge mit den Menschen zu sprechen, die sechs, acht, zwölf, ja sogar 16 Jahre lang gesessen hatten.

Aufgrund ihrer Aussagen gelange ich zu dem begründeten Verdacht, daß bei uns in den fünfziger Jahren Brutalitäten begangen worden sind:

Menschen wurden wie Rindvieh, mit einem Sack über dem Kopf, zu »Verhören« geschleift, mit Ketten an Händen und Füßen gefesselt, mit Glühbirnen geblendet, mit Peitschen bis zur Ohnmacht geprügelt. Einigen riß man die Zähne heraus, verbrannte ihnen mit glühenden Eisenstangen die Haut. Häftlingen gab man gesalzene Fische zu essen, sperrte sie in einen überheizten Raum -- und verweigerte ihnen Wasser.

Menschen wurden tagelang bis zum Hals in eine mit Fäkalien und Harn gefüllte Badewanne getaucht. Sie wurden mit elektrischem Strom geschockt, einigen wurden sogar die Hoden zerquetscht; das nannte man in jenen Fachkreisen »Kälberblöken« oder auch »Tomatenmark«.

Ich habe die menschlichen Wracks jener Fremdenlegionäre gesehen, die im Legionärs-Zuchthaus von Colombêche überlebten. Ich selbst bin von der Gestapo verhört worden und sah das Vernichtungslager Birkenau. Deshalb bin ich absolut dagegen, daß man die Taten verschweigt, die ich oben aufzählte.

Ich habe auch den Verdacht, daß in den fünfziger Jahren bei uns Justizmorde begangen wurden. Denn manche, die später hingerichtet wurden, sind zu ihren Geständnissen gezwungen oder dressiert worden, nach der Methode: Sprichst du -- bekommst du zu fressen, sprichst du nicht -- bekommst du Prügel.

Für den öffentlichen Auftritt vor Gericht wurden sie gedopt: mit einer gefährlichen Droge aus Tollkraut, scopolamin chloralosa. Das verwandelte sie für mehrere Stunden in folgsame Kretins, die jede Beschuldigung zugaben und sogar um höhere als die geforderten Strafen -- selbst den Tod -- baten.

Schließlich argwöhne ich, daß in den fünfziger Jahren und später 60 000 tschechische Spitzel der Gestapo, deren Namen sich in dem berüchtigten Archiv von Stechovice befinden, von oben gedeckt worden sind.

Falls meine Vorwürfe nicht widerlegt werden -- wer gibt mir dann die Garantie, daß sich so etwas bei uns nicht wiederholen wird? Ich möchte nicht dereinst im Zuchthaus von Ruzyne oder im Kounic-Studentenheim* enden.

Ich möchte nicht aus dem Fenster springen**, im Ausland oder in der Donau verschwinden***. Ich möchte nicht im Stromovka-Park gehenkt oder zu Hause gasvergiftet aufgefunden werden****. Ich möchte nicht am Infarkt sterben*****.

Ich möchte nicht sterben -- jetzt erst recht nicht -, denn diese Tage sind für mich wahre Festtage. Ich möchte noch ein paar Jahre leben und

* Gefängnis und Hinrichtungsplatz der Gestapo in Brünn.

** Anspielung auf den rätselhaften Tod des Außenministers Jan Masaryk am 10. März 1948 (SPIEGEL 15/1965).

*** Anspielung auf ungeklärte Todesfälle tschechischer Emigranten in München.

wie Hilda Synková, Kulturreferentin des Prager Regionssekretariats der KP, mit deren angeblichem Selbstmord 1947 der parteiinterne Machtkampf noch vor dem Prager Februarputsch von 1948 begann; leitender Sekretär dieser Parteiabteilung war damals Antonin Novotny.

**** Anspielung auf die angebliche Todesursache des Präsidenten Gottwald 1953.

schreiben, und zwar in meiner Muttersprache.

*

»Svobodné slovo« vom 10. März 1968 Zdenek Roh lena, Major, wurde am 10. Januar 1949 verhaftet und als Freund des Oberstleutnant Skokan zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Skokan -- der Spionage angeklagt -- erhielt die Todesstrafe. Rohlena berichtet:

Warum ich das Protokoll unterschrieben habe? Die Untersuchungsorgane haben mich einfach dazu gezwungen. Sie haben mich nie schlafen lassen, 14 Tage oder drei Wochen lang -- ich weiß nicht mehr.

Die erste Nacht durfte ich nicht einmal sitzen, ich mußte immer herumlaufen, unter einer starken Glühbirne.

Mein erster Untersuchungsbeamter gestand mir schon nach ein paar Tagen, er werde meinen Fall einem Kollegen zuschieben, denn er habe einfach nicht die Nerven dafür. Der Schlimmste war der Hauptuntersuchungsbeamte Bohata: Der drohte mir mit der Liquidierung meiner ganzen Familie.

Sie legten mich in schwere, eiserne Ketten und fesselten meine Hände an die Füße -- so jagten sie mich mit Knüppeln in der Zelle herum, vom Abend bis zum Mittag des nächsten Tages, ohne Pause. Als ich mich dennoch weigerte, ein Geständnis zu unterschreiben, sagte Bohata, er werde mir noch zeigen, »was für eine Sau« er sein könne.

Mein Verteidiger Dr. Slajs riet mir: Um Gottes willen mitmachen, sonst brummt man Ihnen noch mehr auf. Richter Stella, damals Oberst, wurde nach dem Prozeß gegen die sogenannte Skokan-Gruppe zum General befördert. Heute ist er zwar kein Militärrichter mehr, aber er sitzt ganz ruhig im Prager Stadtgericht. Der Staatsanwalt Filipovic, damals Oberstleutnant, ist jetzt Ankläger in Brünn.

Und bitte, vergessen Sie nicht den Stabshauptmann Karafiát. Noch an meinem Ankunftstag (im Gefängnis Troppau) kam er zu mir in die Zelle und sagte, uns gehe es zu gut. Er wolle uns schon zeigen, was ein Gefängnis ist. Ich mußte den ganzen Tag über das Klosettbecken schrubben, und Karafiát paßte auf. Dann verteilte er Strafpunkte; das hieß: halbe Rationen ...

Ärzte, die mit uns inhaftiert waren, rechneten aus, daß wir pro Tag 600 Kalorien erhielten, dafür aber in schwerer 16-Stunden-Arbeit 8000 Kalorien und mehr verbrauchten. In dreieinhalb Monaten verlor ich 40 Kilo Gewicht.

Bekleidung? Im Winter Lumpen aus Baumwolle. Schuhe? Ich habe Größe 44. Der Aufsichtsbeamte verpaßte mir einen Schuh Größe 46 und einen Größe 42. Socken? Gab es nicht!

Ein halbes Jahr durfte ich mich überhaupt nicht waschen. Ich hatte einen Panzer aus Schmutz am Leib. Nach einem halben Jahr schickten sie uns in den Duschraum, aber sie ließen so heißes Wasser laufen, daß wir uns nicht waschen konnten.

Aufgrund mehrerer Wiederaufnahmeverfahren nach dem Tode Stalins wurde Rohlena 1954 aus der Haft entlassen, jedoch erst 1965 vom Höheren Militärgericht in Pribram freigesprochen, »da nicht nachgewiesen werden konnte, daß die Tat, deretwegen er verfolgt wurde, geschehen war« (Urteil vom 27. Oktober 1965). Gleichzeitig verlieh ihm der Präsident der Republik die Erinnerungsmedaille zum 20. Jahrestag der Befreiung der Tschechoslowakei und ernannte ihn zum Oberstleutnant der Reserve.

Ich kehrte heim und begann ein neues Leben. Ich war buchstäblich ein Krüppel, unfähig. etwas zu verdienen. Ich bekam 190 Kronen Sozialrente und wohnte mit meinen drei Söhnen bei meiner alten Mutter in einem 14 Quadratmeter großen Raum.

Meine Jungs machen mir Freude. Der älteste wird bald sein Studium an der Hochschule beenden, er ist ein vorzüglicher Mathematiker. Aber es

* Ehemaliges Gestapo-Gefängnis

war schwierig, seine Zulassung zum Studium durchzusetzen.

Damals hatte mir der Direktor der Oberschule gesagt: »Herr Rohlena, wir sind schon weiter gekommen, als Sie denken. Wir werfen Ihnen die Vergangenheit nicht mehr vor, ja, wir behaupten sogar, daß Ihnen unrecht geschehen ist -- und eben deshalb empfehlen wir Ihren Sohn nicht zum Studium.« Denn, so erläuterte er, mein Sohn sei verbittert darüber, wie man mit seinem Vater umgesprungen sei. Und verbitterte junge Leute könne er nicht empfehlen. Die gehörten nicht auf eine Hochschule.

Am 12. März 1968 kam Major Karel Karafiát in die Redaktion der »Svobodné slovo« und behauptete -- so die Zeitung am 14. März -, »daß er sich nie auf die in der Reportage geschilderte Weise verhalten habe ... Sein ganzes Benehmen weckte in uns einen unangenehmen Eindruck und deshalb wandten wir uns an andere ehemalige Häftlinge von Leopoldov (Troppau). Sie alle bestätigten Rohlenas Angaben in vollem Umfang«. Fünf Tage später schrieb »Svobodné slovo":

Der Zeitung »Stráz lidu« vom 12. März 1968 entnehmen wir, daß auf der Kreiskonferenz der Kommunistischen Partei in Olmütz Dr. Josef Filipovic zum Mitglied der Kontroll- und Revisionskommission des Kreisausschusses der KP gewählt worden ist. Es ist derselbe Dr. J. Filipovic, der in der Reportage über Z. Rohlena als der Staatsanwalt im Prozeß gegen die sogenannte Skokan-Gruppe benannt wurde. Er wurde am selben Tag gewählt, als diese Reportage erschien.

*

»Student« vom 20. März 1968

Interview der Zeitschrift* mit Heda Kováloyvá-Margoliová, der Witwe des am 3. Dezember 1952 hingerichteten Dr. Rudolf Margolius. Der Vize-Außenhandelsminister Margolius zählte zu den elf Angeklagten des berüchtigten Slánsky-Prozesses. Der gleichfalls hingerichtete Slánsky war Generalsekretär der Kommunistischen Partei.

FRAU MARGOLIOVA: Wenn ich daran denke, wie wir in den Jahren 1945 bis 1948 aussahen -- selbstlose Menschen, die nichts anderes wollten als das Wohl dieses Staates -, dann frage ich mich, wie es möglich war, daß aus denselben Menschen drei Jahre später diese armen Teufel wurden, die erschraken, wenn die Türglocke läutete.

STUDENT: Wußten die Leute, die jene Prozesse inszenierten, daß sie etwas Schlechtes taten, oder glaubten sie, richtig zu handeln?

FRAU MARGOLIOVA: Leute, die in so hohen Positionen saßen, müßten einfach soviel Übersicht und soviel gesunden Verstand gehabt haben, um zu wissen, daß sie etwas Schlechtes taten. Als mein Mann das Abkommen mit England geschlossen hatte, das dann Hauptpunkt der Anklage gegen ihn wurde, umarmte ihn der (Parteivorsitzende und Staatschef) Genosse Gottwald und dankte für die ausgezeichnete Leistung. Und dann sollte das alles plötzlich Sabotage und Spionage gewesen sein.

STUDENT: Zurück zu diesem Gottwald. Ist etwas an dem Gerücht, daß er von der Liste der elf (Angeklagten des Slánsky-Prozesses) drei Namen wieder gestrichen hat?

FRAU MARGOLIOVA: Na ja, ich habe auch so etwas gehört. Meinen Mann muß er wohl durchgestrichen haben, das kann ich fast hundertprozentig behaupten ...

STUDENT: ... und wie konnte es dann passieren, daß er anschließend doch ...

FRAU MARGOLIOVA: Na ja, wahrscheinlich konnte damals nicht einmal Gottwald allein entscheiden.

STUDENT: Es gab also jemanden mit noch mehr Macht?

FRAU MARGOLIOVA: Offenbar ja. STUDENT: Und wie ging das damals eigentlich vor sich -- da ist also jemand Stellvertreter des Ministers, und eines Tages wird er einfach verhaftet? Gab es nicht vorher wenigstens einige Anzeichen?

FRAU MARGOLIOVA: Da war nur jene entsetzliche Atmosphäre. Verschiedene Leute wurden verhaftet, zum Beispiel Goldstücker**, von dem wir alle wußten, daß er ein grundehrlicher Mensch war und nichts Böses tun konnte.

Alle sagten, das werde sich schon aufklären, das sei alles nur eine Frage von ein paar Tagen oder Wochen, dann müsse er entlassen werden. Immer sagten wir uns, wir können der Partei vertrauen ... vielleicht hat ihn jemand angeschwärzt.

Als sie meinen Mann verhafteten, rechnete ich jeden Tag mit seiner Rückkehr. Wenn Ich den Lift hörte, lauerte ich darauf, ob er in unserer Etage anhielt und mein Mann herauskäme.

Mein Mann wurde am 12. Januar nachts um eins verhaftet. Ich hatte ihn noch um zehn Uhr angerufen und gefragt, ob er nicht schon nach Hause kommen könne, er saß Immer bis in die Nacht in seinem Büro.

Um eins läuteten fünf Männer an der Tür. Sie sagten mir, daß mein Mann verhaftet sei, und wollten unsere Wohnung durchsuchen. Sie fanden nichts, außer etwa jenem Notizheft, in dem ich das Gewicht meines Kindes fortlaufend aufgezeichnet hatte. Sie hielten das für ein höchst konspiratives Dokument, wegen der Zahlen.

STUDENT: Wie haben sich Ihre Nachbarn, Ihre Bekannten verhalten?

FRAU MARGOLIOVA: Das war vielleicht das Schmerzlichste. Plötzlich meldeten sich lauter Reaktionäre, Sie verstehen, all diese Spießbürger und Hausbesitzer zählten mich nun zu ihresgleichen. Die Genossen aber, mit denen man in den Versammlungen gesessen und gearbeitet hatte und die man für seine Nächsten hielt, die wandten sich ab.

Ich war Bildredakteurin im Parteiverlag »Rovnost«. Vierzehn Tage nach

* Herausgegeben vorn Studentenrat des ZK des CSSR-Jugendverbandes.

** Universitätsprofessor und Kafka-Spezialist, 54, heute Vorsitzender des Tschechoslowakischen Schriftsteller-Verbandes (SPIEGEL 12/1968).

der Verhaftung meines Mannes wurde mir gekündigt. Ich wurde Locherin an der Hollerithmaschine in einer Versicherungsanstalt. --

Der Prozeß wurde vom Rundfunk übertragen. Frau Margoliová, die damals im Krankenhaus lag, hörte Ihn am Lautsprecher mit.

Als ich die Stimme meines Mannes hörte, wußte ich sofort, daß es schlimm um ihn stand. Ich konnte seine Stimme gar nicht erkennen, er sprach so gepreßt, so fremd, so gezwungen. Ich wußte, daß er nicht die Wahrheit sprach. Ich merkte sofort, daß er seine Worte auswendig gelernt hatte.

Am 3. Dezember holten mich zwei Sicherheitsbeamte ab. Zum letzten Male sprach ich mit meinem Mann. Es war entsetzlich. Ich möchte nur soviel sagen, daß wir durch. ein dichtes Doppelnetz weit voneinander getrennt waren, wir konnten uns nicht einmal richtig sehen. Wir durften uns nicht die Hände drücken, und auch die letzten Bilder unseres Kindes durfte ich ihm nicht zeigen.

Ich bekam nicht einmal eine Sterbeurkunde. Ein ganzes Jahr hindurch verlangte ich vergebens nach diesem Dokument, und auch das war grausam. Denn so konnte ich mir einreden, daß er noch. lebe.

Ich dachte mir, vielleicht war alles nur Theater, vielleicht war es für irgendwelche politischen Zwecke nötig, vielleicht hatte man die Menschen gar nicht hingerichtet, vielleicht waren sie nur irgendwo interniert. Warum stellte man sonst keine Todesurkunde aus?

Im Jahre 1963 wurde mir mitgeteilt, daß mein Mann rehabilitiert worden sei ... Am 12. April 1963 wurde ich zum Zentralkomitee bestellt, irgendein Genosse Jerman**, einer vom Apparat, sprach mit mir. Ich verlangte vor allem eine öffentliche Bekanntgabe der Rehabilitierung in der Presse. Das, so sagte man mir, sei unmöglich. Ich erinnerte an mein Kind, das nicht weiterhin als Sohn eines Verbrechers gelten sollte. Der verantwortliche Funktionär winkte ab: Keine Angst, Genossin, das spricht sich schon herum ...

Ich fragte, warum sich damals der Außenhandelsminister Gregor nicht vor seinen Stellvertreter gestellt hatte. Ohne dessen Genehmigung und Unterschrift konnte mein Mann doch nichts unternehmen. Man antwortete mir: Na, wissen Sie, der hat doch auch Angst gehabt ... *

»Reportér« vom 27. März 1968 Interview mit Dr. Josef Urválek, Staatsanwalt im Slánsky-Prozeß:

REPORTER: Sie waren der Hauptankläger in dem Prozeß gegen das sogenannte Verschwörerzentrum?

DR. URVALEK: Ich fühlte mich in keiner Weise schuldig ... Ich war ja nur ein Kreisstaatsanwalt. Anfang der fünfziger Jahre wurde ich in aller Eile nach Prag gerufen und beauftragt, diesen Prozeß zu führen. Das wurde ohne mich vereinbart.

REPORTER: Und Sie haben zugestimmt.

DR. URVALEK: Allerdings. Ich war ja überzeugt, daß es eine richtige und anständige Sache sei. --

REPORTER: Glaubten Sie wirklich, daß dieser Prozeß getreu dem Buchstaben des Gesetzes vor sich gehe?

DR. URVALEK: Natürlich. Schließlich stand es mir nicht zu, etwas zu beurteilen, alles war schon im voraus vereinbart, so daß ich keine Zweifel zu haben brauchte. Man sagte mir, daß die Ermittlungen von den besten Funktionären der Sicherheitsorgane durchgeführt worden seien. Ich kannte die Angeklagten nicht persönlich, ich sah sie zum erstenmal bei der Gerichtsverhandlung

Die Angeklagten beschuldigten sich außerdem noch gegenseitig und bestätigten, daß die Geständnisse, die sie abgelegt hatten, rechtswirksam seien. Ich hatte keine Ahnung davon, daß sich in unserem Sicherheitsdienst eine ganze Bande befand, die dazu bestimmt war, die Parteikader zu liquidieren.

REPORTER: Haben Sie auch heute noch das Gefühl, daß Sie sich persönlich nichts zuschulden kommen ließen?

DR. URVALEK: Im Prozeß paßte alles lückenlos zusammen. Mir schien, daß das so sein mußte. Von den Verurteilten hat ja auch niemand Berufung eingelegt ...

REPORTER: War Ihnen niemals bange, hatten Sie nie Gewissensbisse?

DR. URVALEK: Was erwarten Sie denn, um Gottes willen, das ich jetzt machen soll? Glauben Sie, daß ich mir das Leben nehmen soll? Nein, ich kann und werde nicht vom Aussichtsturm auf dem Petrinhügel hinunterspringen. Wenn ich das täte, würde ich ja die

* Mit Sowjetfunktionär Malenkow und dem Prager Staatschef Gottwald (1949).

** Leitungs-Funktionär der Zentralen Kontroll- und Revisionskommission der KP. Am 23. März 1968 trat er zurück.

*** Einberufen von dem damaligen Innenminister Strougal für seine Dienstaktivisten. Strougal wurde letzte Woche Vizepremier.

ganze Schuld auf -mich nehmen. Aber ich fühle sie nicht -- die Schuld hat jemand anders.

REPORTER: Niemand will Sie hetzen und in den Tod treiben. Wir sind aber eher der Ansicht, daß Sie nicht mehr in der Justiz arbeiten sollten. Wir wollten wissen, ob auch Sie darüber nachdenken?

DR. URVALEK: Seien Sie mir nicht böse, aber ich muß jetzt gehen, ich habe eine Mitgliederversammlung und will unbedingt dabeisein.

*

»Vecerni Praha« vom 15. März 1968 interview mit dem Chef des Gesundheitsdienstes in der Wirtschaftsverwaltung des Innenministeriums, Oberst Dr. Frantisek Proksan, der sein Amt 1961 antrat.

DR. PROKSAN: In der Gefängnisanstalt Pankrác waren auch schwangere Frauen inhaftiert, dort wurden Kinder geboren, die dann weiter im Gefängnis blieben, obwohl sie sich nichts hatten zuschulden kommen lassen. Deswegen wollte ich zuerst dafür sorgen, daß Entbindungen nicht in Haftanstalten stattfinden und schwangere Frauen nicht in Gefängnisse kommen dürfen. Seither kommen Geburten in Haftanstalten nicht mehr vor ...

VECERNI PRAHA: Es gibt viele Gerüchte darüber, Genosse Doktor, daß Häftlinge während der Verhöre oder überhaupt während der Untersuchungshaft gestorben sind. Wie benahmen sich die Ärzte in solchen Fällen?

DR. PROKSAN: Ich muß wiederholen, daß ich zu jener Zeit auf diesem Gebiet noch nicht arbeitete und nur von den Informationen ausgehen kann, die uns in einer Versammlung*** mitgeteilt wurden. Danach soll es vorgekommen sein, daß die Diagnose in der Todesurkunde manchmal nicht der wahren Todesursache entsprach ...

VECERNI PRAHA: Ein Arzt, der derart gefälschte Todesurkunden unterschrieb, verletzte ja den für einen Arzt heiligsten Eid, den er geschworen hat, als er das Doktor-Diplom erhielt.

DR. PROKSAN: Man kann das so ausdrücken.

*

»Literdrni listy« vom 21. März 1968 Seit Jahren versuchten die Studenten, am 1. Mai für eigene Losungen zu demonstrieren. Bei einer solchen spontanen Kundgebung am 1. Mal 1966 riefen sie im Sprechchor: »Prager Bürger, keine Angst, es gibt da noch Studenten«, »Wir wollen Freiheit, wir walten Demokratie« und (als Anspielung auf die hin gerichteten Kommunisten) »Ein guter Kommunist -- ein toter Kommunist«. Eine Teilnehmerin an dem Protestmarsch berichtete:

Jemand sagte zu mir: »Paß auf, es folgen dir Spitzel!« Ich bekam Angst, in etwas hineingeraten zu sein, und überredete darum ein paar Teilnehmer, mit mir wegzugehen.

In einer Seitengasse liefen drei Menschen in Zivil hinter uns her, zwei Männer und eine Frau. Der eine erreichte mich, drehte mir die Arme um und stieß mich gegen die Hausmauer. Sie wollten die Ausweise von uns. Ich war überrascht, da die beiden anderen die ganze Zeit lang mit uns im Demonstrationszug gegangen waren.

Dann entließen sie uns, ich ging mit einem Kommilitonen zur Straßenbahnhaltestelle. Er fuhr weg, und mich verfrachtete man gleich darauf grob in einen Bereitschaftswagen, der eben vorbeifuhr. Jemand am Bürgersteig hatte die Hand gehoben und gerufen: »Das ist sie!«

Ich wurde in die Konvicka-Gasse gefahren und dort in einen großen Versammlungssaal geführt, wo schon eine Menge Menschen wartete. Niemand durfte sprechen ...

Dann hat man jeden von uns eingetragen. Ein Verhör begann. Es dauerte bis vier Uhr. Man nahm mir meine Tasche ab und brachte mich in eine Zelle im Kellergeschoß, in der schon fünf Mädchen untergebracht waren.

Den ganzen Tag habe ich weder geschlafen noch gegessen. Um halb acht abends führte man mich ab zu einem weiteren Verhör. Der Untersuchungsführer schrie mich an, war gemein und drohte, daß mich das teuer zu stehen kommen werde; man werde mich einsperren. Nach zehn Uhr abends kehrte ich heulend in meine Zelle zurück.

Am anderen Tag passierte nichts, erst am übernächsten Tag gab es wieder ein Verhör von halb elf bis zwei Uhr nachmittags. Dieser Untersuchungsbeamte war anständig, er wollte nur, daß ich eingestehe, wir hätten geschrien: Ein guter Kommunist -- ein toter Kommunist. Ich hatte aber nicht gehört, daß jemand so etwas schrie.

Genau nach einer Woche sagte man mir, daß mich draußen mein Anwalt erwarte und ich entlassen werden solle. Aber auf dem Hof warteten Wachleute mit einem Hund und Häftlingen, die schon Fesseln an den Händen hatten. Wir wurden weggefahren.

Erst später erfuhr ich, daß ich in Ruzyne* war. Dort mußte ich mich splitternackt ausziehen, die Aufsichtsbeamtin führte mich in den Duschraum und durchsuchte mich, ob ich nicht Läuse und Filzläuse hätte. Ich bekam eine lange Herrenunterhose, einen braunen Trainingsanzug, Socken und Pantoffeln. An der Jacke war ein Schild: Besserungs- und Erziehungsanstalt des Innenministeriums.

Man führte mich zu einer Zelle im dritten Stock, wo mich die künftige Gefährtin mit den Worten empfing: »Grüß Gott, du Hure!« Sie war eine junge Prostituierte, die dort wegen Herumtreiberei saß.

Sie ließ sofort das Wasser im Klosett laufen und rief irgendwohin nach

* Haftanstalt des Staatssicherheitsdienstes.

unten: »Jungs, ich hab da ein neues Häschen.« Jemand antwortete durchs Loch: »Hoi sie uns ans Telephon!«

Ich war nicht imstande, etwas zu sagen. Ich heulte nur immer wieder. Sie sagte: »Du gewöhnst dich schon ein, ich bin schon zwei Monate hier.« Nach einer Woche begann die Verhandlung ... Anschließend brachte man mich wieder zu der Prostituierten.

Nach der zweiten Verhandlung wurde die Verhaftete in ein »Besserungslager« bei Pardubice transportiert.

Baracken für je zehn Menschen, Kleider abgeben, ärztliche Untersuchung und ziemlich widerliche Arbeit -- Korallen auffädeln. Um die Baracken herum Stacheldraht, eine Niemands-Zone und dann wieder eine Mauer mit Stacheldraht. Es war furchtbar. Im Lager waren Diebinnen, Prostituierte, Betrügerinnen und auch Mörderinnen

Vor allem die. alten Weiber mochten uns nicht leiden. Außerdem waren wir nicht bereit, uns verschiedene »Liebesspiele« gefallen zu lassen, die dort getrieben wurden. Wir zitterten nur davor, daß man uns zur Strafe in die Isolations-Zelle brächte: Ein Mädchen kam von dort zerkratzt, mit Bißwunden und seelisch völlig vernichtet in ihre Zelle zurück.

Das Schlimmste waren die Appelle auf dem Hof, morgens und abends. Im Winter war das stundenlange Warten fast unerträglich. Einmal ließ man uns im Schnee mit Halbschuhen fast drei Stunden lang stehen: Man suchte eine Gefangene, die sich im Waschraum hatte aufhängen wollen.

Ein Funktionär des Tschechoslowakischen Jugendverbandes CSM gab folgende Erklärung ab:

In den sechziger Jahren haben wir in der Zentrale des CSM die Anweisung bekommen, Einheiten der PS! VB (freiwillige Helfer der Öffentlichen Sicherheit) aufzustellen. Diese Einheiten sollten vor allem solche jungen Leute beobachten, die schon im Gefängnis gesessen hatten oder deren Bewährungszeit noch lief.

Mit der Zeit wuchs der Aufgabenbereich dieser Einheiten. Sie mußten auch die Tätigkeit bestimmter »gesellschaftlicher Gruppen« in der Jugend überwachen -- die sogenannten Rezessisten, Absenteure, Fluktuanten*.

So entfernten sich die Mitglieder der PS/VB immer häufiger vom Tätigkeitsbereich des Tschechoslowakischen Jugendverbandes, begleiteten Polizisten bei ihren nächtlichen Streifen durch Gaststätten und Parkanlagen -- und wurden Immer mehr zu Sicherheitsorganen.

Im Juni 1966 wurde unsere Einheit der PS/VB aus der Zuständigkeit des Tschechoslowakischen Jugendverbandes herausgenommen und dem Amt für Öffentliche Sicherheit angegliedert; einige Mitglieder des CSM wur-

* Halbstarke, Arbeitsscheue, häufig Ihre Arbeitsstelle wechselnde Jugendliche.

** Ausgangsort der Studentenumzüge mit einem Denkmal des tschechischen Dichters Hyneh Mácha, gestorben 1836.

den sogar unmittelbare Angestellte des Staatssicherheitsdienstes.

Am 1. Mai jenes Jahres hatte ich Dienst im Sekretariat des CSM, genau wie andere Funktionäre ... Wir haben über Telephon eine Durchsage bekommen, daß wir auf den Laurenzenberg** gehen sollten. Dort mischten wir uns unter die Demonstranten und sollten den Jugendlichen zureden, keine Dummheiten mehr zu machen.

So nahmen wir an dem ganzen Protestmarsch teil. Nach dem Ende der Aktion versammelten wir uns in der Bartolomejská-Gasse bei der Sicherheits-Abteilung. Dort wurden wir aufgefordert auszusagen, was wir gesehen und gehört hatten.

Wenn wir uns an etwas nicht erinnern konnten, sagte man uns: »Das hättet ihr doch sehen oder hören müssen.« Man nahm dann alles zu Protokoll, später war ich bei einer Gegenüberstellung, und anschließend bekam ich eine Ladung als Zeuge zur Gerichtsverhandlung.

Nein, Prämien haben wir keine bekommen. Die Einheit der PS/VB empfing schon früher von dem Zentralkomitee des CSM ein Diplom für musterhafte Arbeit.

*

»Literdrni listy« vom 28. März 1968 Aus einem Gespräch des »Schriftstellers Ludvik Vaculik mit Oberstleutnant Dr. Jaroslav Kubik, Vizechef der Untersuchungsverwaltung der Staatssicherheit:

AVCULIK: Manchmal sagt man, jeder fünfte Tscheche oder jeder zehnte Tscheche sei ein Spitzel. Sie könnten darüber mehr wissen. Wie ist es nach Ihrer Meinung, jeder wievielte ist es?

KUBIK: Na, Sie haben aber einen Humor, und da haben Sie meinem Gedächtnis so einen anekdotischen Spruch entlockt: Es ist ohne Zweifel, daß jedermann in der Republik ein Spitzel war, ist oder sein wird.

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