JUDENVERNICHTUNG Der Stellvertreter
Sie waren Lieferanten der Hölle: In
knapp acht Wochen verfrachteten sie 437 402 Juden in Viehwaggons und dirigierten die Züge aus Ungarn in die Gaskammern von Auschwitz. Das war 1944.
Seit Montag dieser Woche sitzen zwei der Experten der Anklagebank des Schwurgerichts Frankfurt: der ehemalige SS-Obersturmbannführer und Stellvertreter Eichmanns in Budapest Hermann Krumey und der ehemalige Regierungsrat im Reichssicherheitshauptamt Otto Hunsche. Die Anklage wirft ihnen räuberische Erpressung und Mord vor.
Die »Endlösung der Judenfrage« in Ungarn war für Adolf Eichmann, den Leiter des Sondereinsatzkommandos, und seine Mitarbeiter eine Aktion jahrelangen Wartens und schließlich ein Wettlauf mit der Zeit gewesen.
Nach der Vernichtungsliste, die der SS-Statistiker Dr. Korherr im März 1943 anhand von Eichmann-Angaben zusammenstellte, waren von den rund zehn Millionen Juden im deutschen Machtbereich bereits vier Millionen liquidiert. Die ungarischen Juden indes hatten in den Ausrottungsplan nicht einbezogen werden können: Die traditionell antisemitischen Ungarn waren zwar willens, die Juden wirtschaftlich zu schikanieren, aber für radikalere Lösungen nicht zu gewinnen.
Als Hitler den ungarischen Reichsverweser Horthy am 17. April 1943 auf Schloß Klessheim Vorwürfe wegen lascher Judenpolitik machte, verwahrte sich Horthy: »Ich kann sie (die Juden) doch nicht einfach erschlagen.«
Den Ausweg für Eichmann, der einfach erschlagen wollte, wies schließlich der Gesandte Dr. Edmund Veesenmayer. Im April und Dezember 1943 unternahm er zwei amtliche Erkundungsreisen nach Ungarn und stellte in seinen Berichten fest, daß
- die Kriegsmüdigkeit der Ungarn auf den jüdischen Einfluß zurückzufüh- ren sei,
- das Großdeutsche Reich bei diesem -
Bündnispartner deshalb gewaltsam intervenieren müsse.
In der Nacht zum 19. März 1944 marschierten Wehrmacht und SS in Ungarn ein. Später wurde Horthy durch einen Kommandotrupp des Mussolini-Befreiers Skorzeny überrumpelt und gefügig gemacht. Adolf Eichmann schlug mit seinem Stellvertreter Hermann Krumey und weiteren 14 SD-Führern sein Hauptquartier im ehemaligen Stundenhotel Majestic in Budapest auf. Zuerst galt es, den rechtlichen Rahmen für die Massendeportationen abzustecken und die Gesetzgebung des ungarischen Staats den NS-Paragraphen anzugleichen: Arbeit für Regierungsrat Otto Hunsche, der als einziger Jurist im Stabe Eichmanns der Budapester Regierung beratend zur Hand gehen konnte.
Eichmanns Plan war, die rund 800 000 ungarischen Juden zunächst in Sammellagern und Gettos zusammenzuziehen - Ungarn war zu diesem Zweck in fünf Zonen eingeteilt worden - und dann zonenweise zu deportieren. Den Abschluß sollte die Hauptstadt Budapest bilden, in der allein 350 000 Juden lebten.
Hitler selbst steuerte zu diesem Plan noch die Anregung bei, man solle bei den Maßnahmen gegen die Juden nicht auf die aktuelle Mitarbeit der ungarischen Ortseinwohner verzichten. Man könne »vielleicht aus jüdischem Kapital diesen Einwohnern Dotationen geben«. Bei der Großaktion in Budapest war sogar daran gedacht, neben der Gendarmerie und dem Polizeinachwuchs auch sämtliche Briefträger - und Schornsteinfeger der Hauptstadt »als Lotsen« einzusetzen.
Die Verhandlungen mit den jüdischen Gemeindevorsitzenden und andere Kontakte zur Öffentlichkeit überließ der menschenscheue Eichmann keinen Stellvertreter. Hermann Krumey war nach der Anklage auch verantwortlich für die ersten Judenverhaftungen, die vor der eigentlichen Aktion angeordnet worden waren und deren Opfer die Gefängnisse von Budapest sowie das von Eichmann eingerichtete Internierungslager Kistarcsa füllten.
Gleichermaßen war Krumey laut Anklageschrift mit der Erpressung von Geld und Sachwerten beschäftigt. Am 21. März forderten Hunsche und der
SS-Hauptsturmführer Novak, indem sie
sich auf Krumeys Befehl beriefen unter Drohungen vom jüdischen Zentralrat in Budapest die sofortige kostenlose Lieferung, von 300 Matratzen, 600 Decken, 100 Daunendecken, 30 Schreibmaschinen und einem Klavier.
Eine andere Forderung mußte der
jüdische Zentralrat binnen 24 Stunden
erfüllen: je eine komplette Einrichtung
für einen Luxus-Herren- und -Damen-Frisiersalon. Für sich selbst erwarb
Krumey diesem Weg in Watteau -Gemälde, seine Sekretärin Eva Ferchow begnügte sich mit Wäsche, Parfüm, einem Champagner-Service und einer Toilettengarnitur.
Die Begehrlichkeit der SS-Führer nach Geld und anderen Werten nutzte die jüdische Prominenz zu dem verzweifelten Versuch, wenigstens einige Angehörige ihres Volkes von der drohenden Deportation freizukaufen. Eichmann, der auf alle Fälle einen zweiten Getto-Aufstand nach Warschauer Vorbild vermeiden wollte, sah in diesen Verhandlungen einen nicht zu unterschätzenden Beruhigungsfaktor und ließ
deshalb Krumey zusammen mit Hunsche um Menschenleben feilschen.
Millionenwerte an ausländischem Geld, Gold und Schmuck wechselten den Besitzer. Aber nur 1709 ungarische Juden, für die pro Kopf 1000 Dollar bezahlt wurden, entgingen Auschwitz und kamen statt dessen in das KZ Bergen-Belsen, wo Krumey sie später noch einmal durchmusterte und in zwei Transporten über die Schweizer Grenze abschieben ließ.
Der Versuch des Zionistenführers Joel Brand, 1 000 000 Seelen von Eichmann für die Lieferung von 10 000 Lastkraftwagen einzuhandeln, schlug dagegen fehl (SPIEGEL 25/1960). Daneben verschmähte Eichmanns Kommando jedoch nicht kleinere Summen, die sich in Einzelfällen für Gefälligkeiten erpressen ließen.
Gleichzeitig gingen die Organisationsarbeiten des Sonderkommandos zur Massendeportation weiter. Der 16. April 1944 war der Stichtag für die Einrichtung der Gettos. Zu Zehntausenden wurden die Juden in alten Ziegeleien, Fabriken oder auf freiem Feld zusammengetrieben. Vom 15. Mai 1944 ab rollten die Eisenbahnzüge in Richtung Auschwitz: täglich vier Züge mit je 3000 Personen.
Um das Ziel der Transportzüge zu,
verschleiern, ließ Krumey unter den ersten Deportierten: 30 000 Postkarten verteilen, auf denen »Waldsee« als Absendeort angegeben werden mußte. Die mit 30 Wörtern deutschen Textes beschriebenen Karten, auf denen von glücklicher Ankunft, die Rede war, kamen mit Kurier nach Budapest und wurden an die noch Zurückgebliebenen verteilt.
Die Besorgnis des Zentralrates, ob
diese Transporte nicht doch nach Auschwitz gingen, konnte Krume mit diesen Karten anfangs noch zerstreuen: »Nein, das kommt nicht in Frage, diese Leute kommen nach Mitteldeutschland zur Arbeit. Waldsee, so malte Krumey in schönen Farben, sei ein Kurort in Thüringen.
Erst als einer der Zentralräte, von
Freudiger, auf einigen Waldsee-Postkarten unauffällige hebräische Zeichen entdeckte, die das Wahre Transportziel die Gaskammern von Auschwitz
nannten, gab Krumey die Verschleierung auf und drohte: »Freudiger, ich kenne Sie als gescheiten Menschen. Sie müssen nicht alles bemerken.«
Mit der gleichen Nonchalance behandelte auch Wunsche die Beschwerde Dr. Kastners, des Präsidenten des jüdischen Rettungskomitees in Budapest, daß auf den Transporten bereits viele Menschen umkämen. Hunsche damals: »Hören Sie endlich mit Ihren Greuelmärchen auf. Es sind höchstens 50 bis 60 Personen, die pro Transport unterwegs sterben.«
Bis zum 9. Juli 1944 hatte Eichmanns Kommando 437 402 Juden aus ganz Ungarn auf die Rampe von Auschwitz geschickt, von denen 300 000 sofort vergast wurden. Nun sollte die Aktion mit Budapest abgeschlossen werden.
Aber Eichmanns Mission blieb unvollendet: Reichsverweser Horthy ordnete - offensichtlich unter dem Eindruck des sowjetischen Vormarsches und in der Befürchtung, die Alliierten könnten nun auch Budapest bombardieren - einen sofortigen Deportationsstopp an. Den Grund nannte Hitlers Gesandter Dr. Veesenmayer in einem Geheimtelegramm an Außenminister Ribbentrop: Der Reichsverweser und die ungarische Regierung stünden derzeit unter einem Trommelfeuer von Telegrammen, Appellen und Drohungen wegen der Judenfrage. So habe der König von Schweden wiederholt telegraphiert, desgleichen der Papst (der päpstliche Nuntius sei täglich mehrmals beim Reichsverweser), ferner die türkische Regierung, die Schweizer Regierung, maßgebliche Männer aus Spanien, nicht zuletzt zahlreiche Persönlichkeiten im eigenen Lande selbst.
Auch die deutsche Drohung, zwei weitere Panzerdivisionen in das Land zu verlegen, brachte Horthy nicht vom Stoppbefehl ab. Vielmehr diskutierte sein Kabinett die Hilfsangebote der Schweiz, Schwedens und der USA. Diese Staaten boten Lebensmittelsendungen und ihre Unterstützung bei der Auswanderung der Juden an. Ribbentrop, von den Ungarn um Zustimmung gebeten, stellte jedoch Bedingungen: Horthy solle erst den Deportationsstopp aufheben, damit der Abtransport - »nunmehr sofort und schnellstens zu Ende.« geführt werden könne.
Horthy aber gab nicht nach. Und fürderhin konnte die Eichmann-Gruppe nur noch geheim und in eigener Regie kleinere Transporte nach Auschwitz dirigieren, zum Beispiel die Insassen des Internierungslagers Kistarcsa, deren Deportation der Regierungsrat Otto Hunsche auf eigene Verantwortung organisierte.
Das Kriegsende überstanden Eichmanns Stellvertreter Krumey wie auch Hunsche ohne große Unbill: Hunsche, beim dritten Anlauf von der Spruchkaminer als Mitläufer eingestuft, ließ sich als Rechtsanwalt im westfälischen Datteln nieder. Der Drogist Hermann Krumey brachte es im hessischen Korbach ebenfalls zum entnazifizierten Mitläufer, einem Flüchtlingskredit über 12 000 Mark zum Aufbau einer Existenz und einem Mandat als BHE-Abgeordneter im Kreistag.
Ebenso wie Hunsche will Krumey heute nichts von der wahren Bedeutung der »Endlösung« gewußt haben. Staatsanwalt Dr. Steinbacher will das Gegenteil beweisen. Er stützt sich auf die Vernehmungsprotokolle eines Zeugen, der als sachkundig gelten muß: auf die Aussagen des gehenkten Adolf Eichmann.
Angeklagter Krumey
Für die Henker...
Angeklagter Hunsche
... einen Frisiersalon
Ungarns Reichsverweser Horthy (1940): Statt in einen Kurort...
... ins KZ geschickt: »Waldsee«-Postkarte aus Auschwitz