»DER SÜNDENFALL BEGANN 1969«
SPIEGEL: Welche ökonomischen und politischen Gründe haben die Bundesregierung bewogen, jetzt ein Konjunkturdämpfungsprogramm zu beschließen, das Sie, Herr Minister, schon vor einem halben Jahr vergebens gefordert haben?
SCHILLER: Wir haben schon im Januar und Februar ähnliche Maßnahmen, wie sie heute ergriffen worden sind, im Kabinett erörtert. Daß es erst jetzt zu den Entscheidungen gekommen ist, liegt an verschiedenen Gründen: Einmal spielt der Umstand eine Rolle, daß dieser Boom, das gesamtwirtschaftliche Ungleichgewicht, länger als erwartet existiert. Und das führt zu einem bestimmten gesellschaftlichen Bewußtsein. Die Menschen verlangen jetzt stärker als im Februar nach einer staatlichen Aktion.
SPIEGEL: Kommt dieses neue gesellschaftliche Bewußtsein für eine wirksame Konjunkturpolitik nicht ein bißchen spät?
SCHILLER: Sicherlich ist der Höhepunkt des Booms überschritten. Aber wir haben immer noch Preissteigerungstendenzen. Der neue Lebenshaltungskosten-Index für Juni liegt wieder um 3,8 Prozent über dem Vorjahresstand. Außerdem hat diese Regierung ja eine ganze Zeit lang mit einer restriktiven Ausgabenpolitik versucht, dämpfend auf die Konjunktur einzuwirken -- zusammen mit der Bundesbank.
SPIEGEL: Gerade die Bundesbank hat Bonns Ausgabendämpfung als unzureichend kritisiert.
SCHILLER: Es hat sich herausgestellt, daß sowohl die Steuerung der Konjunktur über die Ausgaben wie die restriktive Geldpolitik an ihre Grenzen gestoßen sind und daß neue steuerpolitische Maßnahmen hinzutreten müssen. Das bedeutet eine Akzentverlagerung von der Ausgabenpolitik zur Steuerpolitik und möglicherweise die Chance, daß nun in absehbarer Zeit die Geldpolitik gelockert werden kann.
SPIEGEL: Hätte die Regierung das öffentliche Bewußtsein für konjunkturpolitisches Handeln früher geschärft, dann hätten die Kreditverknappung der Bundesbank und die Haushaltseinsparungen zu Lasten innerer Reformen gar nicht bis zu dieser exzessiven Marke ausgedehnt zu werden brauchen.
SCHILLER: Es ist nicht allein das verzögerte öffentliche Bewußtsein.
SPIEGEL: Fehlt es nicht auch am Bewußtsein bei den Parlamentariern und bei Ihren Ministerkollegen?
SCHILLER: Wissen Sie, ich halte nicht viel von der Vergangenheitsbewältigung. Ich glaube, man sollte den Schnee vom letzten Winter auf sich beruhen lassen ...
SPIEGEL: ... vom letzten Frühjahr.
SCHILLER: Na ja, der Februar gehört ja noch zum Winter. Ich habe mir eine alte Analyse vorlegen lassen. Darin steht: »Wenn auf staatlicher Seite nichts geschieht, würde der Eindruck erweckt werden, daß die Bundesbank wie früher das Geschäft der Stabilitätspolitik allein betreiben müsse.« Und es heißt weiter: »Die Konjunktur In der Bundesrepublik Deutschland ist auf dem Wege In einen Boom, wie wir ihn bisher noch nicht erlebt haben.« Oder es heißt: »Grundsätzlich erfordert die ganz klar erkennbare Konjunkturlage In der Bundesrepublik ein hartes Vorgehen.« Raten Sie mal, von wem und von wann das ist.
SPIEGEL: Das ist entweder der Oppositionspolitiker Karl Schiller im Jahre 1965 oder der Wirtschaftsminister Schiller im Frühjahr 1970.
SCHILLER: Nein, das ist Karl Schiller in Bonn am 23. Juni 1969 in einem Exposé an den damaligen Bundeskanzler Kiesinger, ein Exposé, das in der damaligen Regierung nicht zu entsprechendem Handeln führte.
SPIEGEL: Seit dem 21. Oktober 1969 heißt der Bundeskanzler nicht mehr Kurt Georg Kiesinger, sondern Willy Brandt.
SCHILLER: Unter ihm hat die neue Regierung dem einen entscheidenden Votum aus meinem damaligen Exposé Folge geleistet und die Aufwertung vollzogen.
SPIEGEL: Zu binnenwirtschaftlichen Dämpfungsmaßnahmen hat sie nicht den Mut gehabt.
SCHILLER: Unsere Politik war seit Anfang des Jahres darauf gerichtet, nacheinander erst durch restriktive Ausgabenpolitik und dann zusätzlich durch die verschärften Maßnahmen der Bundesbank den Boom zu bändigen.
SPIEGEL: Glauben Sie, daß dieses betuliche Vorgehen ausreichte, die auch von Ihnen erwartete zweite Preiswelle dieses Herbstes zu bändigen?
SCHILLER: Das war nicht betulich. Jede Politik besteht ja darin, daß man einen bestimmten Entscheidungsprozeß durchmachen muß. Es gibt in der demokratischen Verfassung keine Politik der einsamen und sofort exekutierbaren Beschlüsse. Man muß andere Menschen überzeugen, man muß einen langen Marsch durch die Institutionen machen.
SPIEGEL: Aber es gibt frühe, rechtzeitige und späte Entscheidungen. Ist diese Entscheidung angesichts des erwarteten Preisdruckes im Herbst rechtzeitig, oder ist sie zu spät?
SCHILLER: Es gibt immer noch günstigere Zeitpunkte. Aber es ist für eine stabilitätspolitische Anstrengung, wie wir sie jetzt unternehmen, nie zu spät. Wir haben nach wie vor eine reelle Chance, auf die Preisbewegungen möglicherweise noch im letzten Drittel 1970, aber auch und gerade im Jahr 1971 dämpfend einzuwirken.
SPIEGEL: Wann können die Bundesbürger wieder mit einer von Ihnen garantierten relativen Preisstabilität rechnen?
SCHILLER: Eine Stabilitätsgarantie können wir in einer offenen Wirtschaft nicht geben. Dafür sind wir viel zu sehr eingeflochten und eingebettet in das internationale Preisgetriebe. Aber mit diesen Maßnahmen werden wir in absehbarer Zeit in etwas ruhigeres Fahrwasser kommen. Dieses Bündel von Maßnahmen wird auch psycholo-
* Mit Werner Funk (l.) und Erich Böhme.
gisch wirken. Die Bevölkerung sieht, die Regierung tut etwas Sichtbares, begnügt sich nicht mit Appellen, beschwört nicht das und jenes, verkündet nicht Regeln des Wohlverhaltens, sondern handelt.
SPIEGEL: Was heißt absehbare Zeit. und was können Sie dem Verbraucher bieten, wenn Sie schon keine Garantie übernehmen?
SCHILLER: Es ist unser Bestreben, mit diesen Maßnahmen für das Jahr 1971 die Preissteigerungen wieder unter die Drei-Prozent-Grenze zu drücken.
SPIEGEL: Sie haben, als Sie noch nicht Mitglied der Bundesregierung waren, versprochen, eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung sei in der Lage, die Preissteigerungsraten -- seinerzeit waren es vier Prozent -- von Jahr zu Jahr um ein Prozent herunterzudrücken. Sehen Sie ein solches Versprechen heute noch als real an?
SCHILLER: Ich habe damals in den Jahren 1965 und 1966 erklärt, man könne eine bestimmte Preissteigerungsrate nicht schlagartig beseitigen, sondern den Inflationsbazillus nur stufenweise aus der Volkswirtschaft austreiben. In meiner Zelt als Wirtschaftsminister der Großen Koalition sind wir auf Preissteigerungsraten von 1,5 Prozent gekommen.
SPIEGEL: Also war die Große Koalition besser?
SCHILLER: Nein, das war im Jahre 1968. Der Sündenfall begann 1969, als man dem damaligen Wirtschaftsminister die nötigen rechtzeitigen prophylaktischen Maßnahmen verweigerte. Von da ab kamen wir Ins Schleudern.
SPIEGEL: Die von Kiesinger verweigerte Aufwertung ist die Ihnen genehme Vergangenheitsbewältigung.
SCHILLER: Nein. Wir waren 1967 und 1968 vom stabilitätspolitischen Standpunkt aus sehr weit gekommen.
SPIEGEL: Sie sind sicher, daß der Boom nicht früher hätte bekämpft werden können als jetzt?
SCHILLER: Jedes frühere Handeln bietet immer die Chance, daß man mit milderen Mitteln zum besseren Erfolg kommt. Das ist selbstverständlich.
SPIEGEL: Rechnen Sie damit, daß Ihnen wegen der Lohnsteuer-Vorauszahlungen Arbeitnehmer-Wähler und der FDP wegen der Abschreibungserschwerungen Unternehmer-Wähler davonlaufen?
SCHILLER: Tatsächlich liegen diese Vorauszahlungs-Zuschläge zwischen einem und vier Prozent der Bruttoeinkommen, sind also in der Größenordnung so beschaffen, daß man sich nicht verrückt machen lassen sollte. Und die Gewerkschaften können solche Vorauszahlungen viel leichter vertreten als echte Steuererhöhungen, wie sie nach dem Stabilitätsgesetz möglich gewesen wären. Denn das, was wir jetzt mehr einnehmen, wird eines Tages direkt oder indirekt zurückgezahlt.
SPIEGEL: Spätestens am 31. März 1973, wenige Monate vor der Bundestagswahl.
SCHILLER: Der März 1973 ist als Endtermin gewählt worden, damit die Regierung Handlungsfreiheit hat, die Rückzahlung nach konjunkturpolitischen Gründen vorzunehmen.
SPIEGEL: Ihre Hauptkritiker sind die Gewerkschaften, die Ihnen vorwerfen, es sei unangemessen, den Boom durch Abschöpfung von Massenkaufkraft zu bremsen.
SCHILLER: Das ist eine autonome Gruppe, die sich frei und offen in dieser Gesellschaft äußern kann.
SPIEGEL: Erwarten Sie denn, daß diese autonome Gruppe, nachdem Sie ihr höhere Steuerzahlungen aufgebürdet haben, nun auch noch lohnpolitische Zurückhaltung im Herbst zeigen wird?
SCHILLER: Der objektiv gegebene Nachholbedarf auf dem Gebiet der Löhne ist durch überdurchschnittliche Tariflohnsteigerungen inzwischen gedeckt. Ich glaube annehmen zu können, daß die Gewerkschaften selber wissen, daß die Steigerungsraten vom letzten Herbst nicht ständig wiederholt werden können, sondern daß wir in eine Phase der Normalisierung der Tariflohnerhöhung hineinkommen.
SPIEGEL: Die IG Metall fordert wesentlich mehr als zehn Prozent.
SCHILLER: Durch die lange Laufzeit des IG-Metall-Tarifvertrages liegt dort eine besondere Lage vor. Im übrigen aber werden diese wenigen ein, zwei oder drei Prozent mehr Steuern vom Lohn bei den Tarifverhandlungen keine große Rolle spielen.
SPIEGEL: Wenn diese zwei oder drei Prozent eine solche Bagatelle sind, wie können sie dann preispolitisch ziehen?
SCHILLER: Die Steuer-Vorauszahlung bedeutet gesamtwirtschaftlich Immerhin eine Kaufkraftstillegung von 5,2 Milliarden, in elf Monaten. Das ist schon etwas, was sich sehen lassen kann. Und die Aussetzung der degressiven Abschreibung bedeutet einen Aufschub von drei bis vier Milliarden Mark Investitionsgüter-Nachfrage für sechsdreiviertel Monate.
SPIEGEL: Herr Minister, Sie galten bisher als das industriefreundlichste SPD-Kabinettsmitglied, die FDP als Sachwalter der Industrie-Interessen, Glauben Sie, daß die jetzt getroffenen Maßnahmen das Standing der SPD/FDP-Koalition bei der Industrie nicht tangieren?
SCHILLER: Der Bundesverband der Deutschen Industrie ist, wie ich vernommen habe, über die befristete Aussetzung der degressiven Abschreibung bestürzt. Es gibt daneben aber auch andere Äußerungen. Der Deutsche Industrie- und Handelstag hat eine sehr abgewogene, um nicht zu sagen, positive Stellungnahme abgegeben. Dann gibt es noch sehr positive Stellungnahmen von den Sparkassen-Organisationen, vom Bankenverband, vom Raiffeisenverband. Ich bekomme eigentlich In diesen Tagen ein relativ sachliches, gutes Echo aus der Wirtschaft.
SPIEGEL: Fühlen Sie sich von der Koalition Ihrer Gegner, den Gewerkschaften und der Industrie, bedroht?
SCHILLER: Das sind nicht meine Gegner, sondern meine Partner.
SPIEGEL: Ihre Partnerschaft mit Gewerkschaften und Unternehmen in der »Konzertierten Aktion«, Ihrer eigenen Erfindung, hat während der Regierungszeit des SPD/FDP-Kabinetts nicht mehr funktioniert.
SCHILLER: Wir haben zwei Gesprächsrunden gehabt. Die konzertierte Aktion ist keine Veranstaltung zur Seelenmassage ...
SPIEGEL: ... aber zur Vorbereitung von Entscheidungen. Hätte die Regierung sich den Eindruck der monatelangen Entschlußlosigkeit und die Proteste der Sozialpartner nicht ersparen können, wenn sie rechtzeitig im Frühjahr mit den Teilnehmern der konzertierten Aktion geredet hätte?
SCHILLER: Die konzertierte Aktion ist nur effizient, wenn von staatlicher Seite ein politisches Angebot gemacht wird. Das ist erst jetzt gegeben.
SPIEGEL: Eben, wenn Sie dieses Angebot des Staates im Februar auf den Tisch gelegt hätten und eine konzertierte Aktion einberufen hätten, dann wäre die Konjunkturdämpfung schneller, reibungsloser und möglicherweise mit mehr Verständnis der Tarifpartner beschlossen worden.
SCHILLER: Ich glaube, es ist wenig sinnvoll, jetzt Überlegungen anzustellen, was geschehen wäre, wenn das und das eingetreten wäre. Ich glaube, wir sollten uns jetzt um das Heute, das Morgen und das Übermorgen kümmern.
SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.