Der Terror der Intimität
Sie sagte nicht: »Halt''s Maul, du Schwuchtel, von der Beziehung zwischen Männern und Frauen verstehst du nichts!« Sie sagte nicht: »Seien Sie ruhig, ich rede ja auch nicht über Ihren Freund!« Sie sagte nicht: »Bitte, Herr Kollege, von Frauen haben Sie ja nun wirklich keine Ahnung!«
Statt dessen sprach die Bundestagsabgeordnete Ingrid Matthäus-Maier von »Herrn Wissmann, der ja ein ausgewiesener Spezialist für das partnerschaftliche Zusammenleben von Mann und Frau ist!« So hört es sich an, wenn ein Politiker im Deutschen Bundestag geoutet wird. Wissmann hatte in der Debatte über die Regierungserklärung zu fragen gewagt, wer denn nun die rot-grüne Wirtschaftspolitik bestimme, der Kanzler, der Kanzleramtsminister, der Wirtschaftsminister, der Finanzminister oder dessen Ehefrau.
Die SPD-Abgeordnete Matthäus-Maier hatte zunächst mit Zwischenrufen ("Macho, Macho!") auf die Bemerkung Wissmanns reagiert und dann, am nächsten Tag, wohlüberlegt die Sexkeule geschwungen. Mit dem Outing des CDU-Abgeordneten wolle sie erreichen, daß »die Debatte«
* In dem Film »Die Sünderin«, in dem Film »Der letzte Tango«.
über Lafontaines Ehefrau »ein Ende« habe. »Die Zeiten, in denen Ehepartner von führenden Politikern Denk- und Diskussionsverbot hatten«, formulierte Matthäus-Maier im Stile einer Regierungserklärung, »sind endgültig vorbei.«
Die Zeiten, in denen führende Politiker sich nicht öffentlich über die Intimsphäre anderer deutscher Politiker äußern, sind auch vorbei. Zwar war das Hohe Haus nie die ehrenwerte Tabuzone, zu der es von der Bonner Politklasse gern verklärt wurde; zwar mußten sich gerade Frauen wie Matthäus-Maier von Zwischenrufern schon mal fragen lassen, ob sie überhaupt einen BH bräuchten, aber das wohlkalkulierte Entblößen eines Abgeordneten während einer Bundestagsdebatte ist ein Tabubruch.
Nicht genug: Auch andere Politiker müßten damit rechnen, daß ihre »persönlichen Neigungen« öffentlich gemacht würden, drohte Matthäus-Maier am Tag nach der Debatte in der »Welt«, wenn diese Kollegen sich ebenfalls »gehässig« äußern sollten. Und das klang schon schwer nach moralischer Aufrüstung, nach den Drohgebärden einer Moralinstanz, die mal eben das Waffenarsenal aufblitzen läßt - selbstverständlich nur zur Abschreckung.
Die »Welt« war die einzige überregionale Tageszeitung, die das Outing des CDU-Abgeordneten öffentlich machte, und die »Woche« war das einzige Wochenblatt, das sich pflichtgemäß über die »Welt« empörte. Es war wieder einmal die Komödie zu besichtigen, die immer abläuft, wenn die Intimsphäre eines Politikers zur öffentlichen Bühne wird.
Es gibt die Bösen, die sich über den »Tabubruch« erregen und ihn dabei in allen Einzelheiten auskosten, wie in diesem Fall die »Welt«, die alles zusammentrug, was den Geouteten schwul erscheinen läßt: von der »erstklassigen Kleidung« über nächtliche Besuche in »Berliner Jazzkneipen« und die verdächtige Nähe zu Staatssekretären bis zum Kosenamen »Diva vom Zuckerberg«.
Wie immer gibt es in diesem Skandalspiel die Guten, die sich darüber empören, daß sich die Bösen heuchlerisch über den Tabubruch empören, ihn in Wahrheit aber ermöglichen; und natürlich können die Guten dies nur belegen, indem sie noch mal alle Einzelheiten aufzählen, voller Abscheu selbstverständlich.
Und dann gibt es in diesem Schauspiel die superguten Superschlauen, die den Guten nachweisen, daß sie nicht besser sind als die Bösen, und dieser Nachweis gelingt natürlich nur - in allen Einzelheiten. Über solchen Artikeln steht dann: »Die Leichtigkeit des Seins« oder »Die Unfähigkeit zu schweigen« oder »Der Terror der Intimität«.
Jeder Sex-Skandal läuft nach diesem Drehbuch ab, egal, ob ein angeblich schwuler deutscher Verteidigungsminister einen angeblich schwulen Bundeswehrgeneral rauswirft, ob ein deutscher Innenminister seinen Referenten nachstellt, ob ein deutscher Bürgermeister in aller Öffentlichkeit fremdgeht oder ob ein amerikanischer Präsident im Oval Office die Hosen herunterläßt.
Sex ist keine Privatsache, Sex ist von öffentlichem Interesse. Sex ist Glück, Sex ist Macht, Sex ist Geld, und da man von allem nicht genug haben kann, will (fast) jeder (fast) alles über Sex wissen. Wie geht Faustficken, was kann man tun gegen Impotenz, warum vergewaltigen Männer kleine Mädchen, wie kriegt man multiple Orgasmen, was sagt ein englischer Prinz beim Telefonsex, wie oft sollte man seine Hoden abtasten lassen, wird man von Viagra süchtig, leben wir in den Zeiten neuer Prüderie, oder sauen wir uns zu Tode - alles viel aufregender und einträglicher als die Klimakatastrophe, die Gesundheitsreform oder die Schrecken der Globalisierung.
Darum unterscheiden sich Medien letztendlich nur dadurch, unter welchem Vorwand, in welcher Abstraktheit und in welcher Menge sie über Sex berichten: Das Befreiende am größten Sex-Skandal dieses Jahrhunderts war die Lust, mit der sich selbst die stockseriösen Blätter und die hochpädagogischen Fernsehkanäle dieser Welt auf das Geschlechtsteil des amerikanischen Präsidenten stürzten.
Bis dahin durften die politischen Korrespondenten und Leitartikler die Intimsphäre eines amtierenden US-Präsidenten allenfalls betreten, um über Prostataoperationen zu berichten. Auch für deutsche Journalisten, die immer etwas darauf hielten, über das Privatleben eines Politikers nur dann zu berichten, wenn »das Amt Schaden zu nehmen« drohte, bot »Slick Willie« viele Gründe zum genüßlichen Tabubruch.
Clinton ist der Prototyp des Politikers, der sich selbst entprivatisiert und die Politik privatisiert. Wer mit seinem Seelenleben, mit seiner Familie, mit Hund und Katze Politik macht; wer mit Frauen ins Bett steigt, die sich hinterher in Männermagazinen ausziehen; wer der erstbesten Praktikantin vorschwärmt, er habe Hunderte von Affären gehabt, der muß sich nicht wundern, wenn der »New Yorker« über den Knick in seinem Penis schreibt, die »Frankfurter Allgemeine« über sein Bettgeflüster und die »Süddeutsche Zeitung« über die Konsistenz seines Spermas informiert.
Mit Clinton, mit Blair, mit Schröder hat ein neuer Politikertyp die Macht ergriffen, der Lust an der Macht mit Lust am Leben und Lust am Rampenlicht verbindet; ihre konservativen Gegner halten Typen wie sie für moralisch ungeeignet, ein Land zu regieren.
Darum inszenierten die Republikaner vor den Kongreßwahlen diese monatelange Oralsex-Inquisition; darum muß sich Blair von der englischen Massenpresse fragen lassen, ob eine schwule Ministergang das Land beherrsche; darum wurde Schröder im Wahlkampf als »charakterlos« angegriffen und in internen Papieren beschuldigt, seine Weibergeschichten nun im Schutz des Bundeskanzleramtes vorantreiben zu wollen.
Die Urangst der Konservativen vor der Verkommenheit der Linken, Liberalen, Sozialdemokraten oder wie immer sie sich nennen, hat durch die Recherchen des Sonderermittlers Kenneth Starr eine nie mehr zu erschütternde Bestätigung erfahren: Diese Leute haben keine Manieren, sie haben keine Moral, und wenn man sie an die Macht und an die Zigarren läßt, entweihen sie das Amt, das Regierungsgebäude und die Zigarren.
Die Besessenheit der konservativen Moralapostel sei nicht nur politisches Kalkül, meint der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum, sie versuchten vielmehr »private Moral zur öffentlichen Angelegenheit zu erklären und gewisse christliche Normen als verbindliche nationale Werte zu etablieren«. Diese Politisierung des Privaten, geboren aus der Erkenntnis, daß die Politik der Parteien zu ähnlich geworden ist, um noch Wähler gewinnen zu können, verletzt ein urkonservatives Tabu: die Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit.
Ironischerweise sind es konservative Moralisten, die konsequent vollenden, was linke Sex-Revolutionäre vor drei Jahrzehnten begonnen haben: die Vergesellschaftung des Orgasmus. Alles Private sei politisch, hatten Hippies, Freudianer, Anarchisten und alle möglichen anderen Freiheitsliebenden in den Sechzigern gefordert; sinnfällig im Spruch des Berliner Kommunarden Dieter Kunzelmann verewigt, ihn interessiere nicht der Vietnamkrieg, sondern sein Orgasmusproblem. 32 Jahre später interessiert sich die halbe Menschheit weniger für den Krieg gegen den Irak als für die Orgasmen des amerikanischen Präsidenten - wer hat hier gesiegt? Besiegt werden sollte eigentlich die sexuelle Verklemmung, der Bettdeckenmief von tausend Jahren. In den Fünfzigern war Sex in der Bundesrepublik eine am besten in deutschen Schlafzimmern ausschließlich zwischen Eheleuten tolerierte Betätigung, die nun mal nötig war, um das deutsche Volk nicht aussterben zu lassen. Weil die Prostituierten-Darstellerin Hildegard Knef in dem Kinofilm »Die Sünderin« drei Sekunden lang nackt zu sehen war, warnten Politiker vor der moralischen Zerstörung und forderten, »das gesunde Ehrbarkeitsgefühl unseres Volkes wiederherzustellen« - der Film wurde 1951 in einigen Städten verboten.
Die sexuellen Befreier der sechziger Jahre sahen in der Unterdrückung des Trieblebens den Grund für Aggressionen, für Vergewaltigung, für Faschismus, für Krieg. Freie Sexualität zwischen den Menschen befreie die Gesellschaft von ihren Grundübeln, verkündeten die Wortführer der Woodstock-Generation und sangen in Hunderten Songs vom Sex. Vor allem aber trieben es die Leute so wild, daß Wortführer wie der Rocksänger Frank Zappa 1969 staunten: »Diese Groupies blasen, ohne sich was dabei zu denken, wo es auch sei: hinter der Bühne, in der Garderobe, draußen auf der Straße, wo auch immer und zu jeder Zeit.« Nun blasen die Groupies schon im Weißen Haus, aber Kriege gibt es immer noch.
Noch wichtiger als das Kopulieren war der Clinton-Blair-Schröder-Generation seinerzeit das »Ficken«, »Bumsen«, »Vögeln«, »Bürsten«, also das Reden übers Kopulieren. Alles »öffentlich« zu machen gehörte zum Aufstand gegen das verdruckste, verklemmte Spießertum wie die Pille und der Joint - wer alles weiß über die Sexualität, der kann besser lieben, wer besser liebt, hat mehr Lust, wer mehr Lust hat, ist freier, wer freier ist, befreit die Gesellschaft.
Der Glaube an die unbeschränkt gute Kraft der entfesselten Libido war damals so ungetrübt wie seinerzeit der Glaube an die friedliche Nutzung der Atomenergie. Je schriller das Protestgeheul der Eltern, Lehrer und Medien, desto freier, geiler und versauter wurden die Schülerzeitungen, Studentenmagazine und Illustrierten. Am Ende dieser Entwicklung stehe eine »Zeit, die vom Sex besessen« sei, wurde gewarnt. »Der westliche Industriemensch scheint die Rückkehr in einen Zustand zu erstreben, den die Bewohner von Tahiti nie verlassen haben«, schrieb 1966 der SPIEGEL und sah eine »Sexplosion«, die »im Begriff ist, dieses Land in ein einziges Freudenhaus zu verwandeln«.
Das Land wurde kein Freudenhaus, das Land wurde eine Spannerrepublik: Oswalt Kolles Aufklärungsserie, Beate Uhses Pornoshops und die Bahnhofskinos zeigten den Deutschen, wie es gehen könnte im Bett. Die Videotheken und schließlich die kommerziellen Fernsehkanäle lieferten immer neues Anschauungsmaterial in die Schlafzimmer. Sex bringt Quote, und darum machte das Privatfernsehen das Private öffentlich: Sado-Masochisten, Transvestiten, Lederfetischisten, Sodomisten, Onanisten bekamen Sendezeit und Öffentlichkeit, die Lobbyisten der sexuellen Subkulturen drängten aus den Szeneclubs ins Scheinwerferlicht.
Auch der Kampf der Geschlechter sexualisierte die Gesellschaft über die Medien: Wer gegen Pornografie, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, sexuellen Kindesmißbrauch oder für Abtreibung und Gleichberechtigung mobilisiert, muß über Angst-, Ekel- und Schamgefühle reden, muß Intimes zur Schau stellen. Wer sich als Frau von Männern sexuell unterdrückt fühlt, muß über den G-Punkt reden und über klitorale Orgasmen.
Wer seine Rechte als Homosexueller durchsetzen will, muß in Fernsehserien, Talkshows und Illustriertenreportagen zeigen, wie er lebt und wie er liebt. Wer sich zu Frauen und Männern gleichermaßen hingezogen fühlt, erklärt Bisexualität zur einzig ehrlichen Lebensweise und stürzt Millionen Deutsche in die Depression.
Man kann sich durch diesen endlosen Seelenstriptease belästigt fühlen. Man kann, wie der Bremer Völkerkundler Hans Peter Duerr, konstatieren: »Es hat sicher noch keine Gemeinschaft gegeben, in der die Tendenz zur Veröffentlichung von Privatem und Intimem so stark war wie in der heutigen.« Oder man kann, wie der Modedesigner Wolfgang Joop, diesen grenzenlosen Exhibitionismus als Beitrag zur Wahrheitsfindung begrüßen.
Die Spirale der Sexualisierung, einmal in Gang gesetzt, dreht sich scheinbar wie von selbst. Keine Moralappelle können sie stoppen, auch nicht von Roman Herzog, Helmut Schmidt oder Gräfin Dönhoff, und schon gar nicht die Klage, die nachfolgende Generation würde durch zuviel Sex versaut. Jede nachfolgende Generation bastelt sich ihre Moral selber und übernimmt von ihren Vorfahren, was ihr brauchbar erscheint (siehe Seite 118).
Die Angst früherer Generationen, unzüchtig und pervers zu sein, ist geschrumpft; die Angst, verklemmt zu sein, ist gewachsen. Die Sexualisierung der Öffentlichkeit erzeugt einen gesellschaftlichen Zwang zur Toleranz, der manchen überfordert und als Terror der Intimität erlebt wird. Schamgrenzen sind keine Staatsgrenzen, sie können nicht per öffentlicher Meinung und Volksabstimmung definiert werden; und wenn eine Gemeinde darüber abstimmen muß, ob sie von einem transsexuellen Bürgermeister verwaltet werden möchte, muß man es akzeptieren, wenn sie lieber einen Mann oder eine Frau hätte.
Was Moral und was Unmoral ist, bestimmt nicht der Papst, nicht die bayerische Landesregierung, nicht der Presserat. Und seit über das Internet die jeweils neuesten Kreationen der Sexualobsessionen in die Schlafzimmer strömen, haben auch »die Medien« nicht mehr die Macht über die Öffentlichkeit, die sie in Wahrheit nie hatten.
Ohne die Gerüchte, die ein skrupelloser, aber gut informierter amerikanischer Klatschreporter aus Washington per Internet um die Welt jagte, hätte Clintons Affäre mit Monica Lewinsky höchstwahrscheinlich nie die Weltpresse und damit die Öffentlichkeit beschäftigt. Die Chefredaktion von »Newsweek« hatte die wenig glaubwürdigen Beschuldigungen auf Eis gelegt, als »die Beweise« von der Internet-Klatschbase zum Weltskandal gemacht wurden. Das Fatale: Weil die »Newsweek«-Chefredakteure nun nicht als saubere Helden, sondern als ängstliche Deppen dastehen, ist durch die Clinton-Affäre die Schamschwelle in den Chefredaktionen dieser Welt vermutlich dramatisch abgesackt.
Medien sollen das öffentliche Leben transparent machen und nicht das private Leben öffentlich. Doch durch die Aussicht auf Auflage, Quote und Gewinn wird die Spirale der Sexualisierung in Bewegung gehalten, und sie wird die Intimsphäre vergesellschaften, solange sich das verkauft: Ein Radiosender in Sydney erzielt gerade Rekordquoten damit, junge Leute, die sich nicht kennen und bis zur Hochzeit nie gesehen haben, zu verheiraten und in die Flitterwochen zu begleiten.
In Gang gesetzt wurde die Spirale der öffentlichen Intimität durch Lust und Neugier: Die Jugend der Sechziger wollte Aufklärung und Spaß. Deshalb wird nur Unlust und Desinteresse diese Spirale stoppen können. Wenn, wie geschehen, die englischen Zeitungsleser kein Problem damit haben, von »einer schwulen Bande« regiert zu werden, zwingen sie Boulevardblätter zu dem Schwur, zukünftig auf das Outen von homosexuellen Politikern zu verzichten.
Und wenn, wie geschehen, die amerikanischen Wähler den Republikanern ihre Moralinszenierungen nicht mehr abkaufen und abschalten, ist Clinton plötzlich nur noch ein untreuer Ehemann, der mit seiner Frau ein Problem hat. Fröhliche Weihnachten!
* In dem Film »Die Sünderin«, in dem Film »Der letzte Tango«.