Titel Der Terror des Patriarchen
Am glücklichsten Tag ihres Lebens lag die kleine Lisa in einer Pappschachtel vor einer Wohnungstür in Amstetten, Niederösterreich. Sie wog gerade mal 5500 Gramm, war 61 Zentimeter groß, und das Einzige, was sonst noch in dieser Schachtel lag, war der Brief. Kein Kuvert, nur ein Brief, keine Absenderadresse, einfach nur die Unterschrift »Elisabeth«, von der verschwundenen Tochter des Hauses. »Liebe Eltern«, schrieb sie mit ihrer feingeschwungenen Frauenhandschrift, »Ich übergebe Euch meine kleine Tochter Lisa, passt mir gut auf die Kleine auf.«
Es war der 19. Mai 1993, und es war deshalb der glücklichste Tag im Leben der kleinen Lisa Fritzl, weil sie an diesem Tag das Licht der Welt erblickte. Knapp neun Monate nach ihrer Geburt.
Das Licht, das sie bei ihrer Geburt erblickt hatte, war dagegen nur das Licht einer Unterwelt gewesen. Das immer gleiche, immer kalte, immer künstliche Licht eines Kellers. Das einzige Licht, das auch ihre Mutter Elisabeth in den Jahren zuvor gesehen hatte, seit ihr eigener Vater sie hier unten eingesperrt hatte. Und das einzige, das Lisas Bruder Michael jemals sehen sollte, weil er wenige Tage nach seiner Geburt dort unten starb.
Knapp neun Monate hatte auch die kleine Lisa in diesem Keller gelebt, der nun weltweit bekannt geworden ist: als Betonhöhle, als Hölle, als Horrorverlies von Amstetten. Als ein klaustrophobischer Raum ohne Sicht nach draußen, ohne Aussicht auf ein Leben außerhalb seiner Wände. Als Tatort eines Verbrechens, das schier unvorstellbar und deshalb völlig unfassbar erscheint, selbst heute noch, in den abgebrühten Zeiten des Internet und seines Zugriffs auf alle Grausamkeiten dieser Welt.
Vielleicht hat man sich schon länger an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Schüler Amok laufen, dass sich Menschen zum Kannibalismus verabreden, dass jede erdenkliche Befriedigung eines monströsen Triebes nicht nur gedacht, sondern irgendwo, irgendwann, von irgendwem auch ausgelebt wird.
Wer aber denkt an so etwas? An eine ständig wachsende Inzest-Familie, die über Jahrzehnte in einem Kerker dahinvegetiert. Unter der Knute eines despotischen Patriarchen. Mitten in einer biederen Kleinstadt. In einem Haus an einer belebten Durchgangsstraße, neben Nachbarn, Mietern, Freunden der Familie, die in der ganzen Zeit weder von diesem Abgrund im Boden noch den Abgründen dieses Mannes etwas ahnen. Dafür gebe es »weltweit keine Referenzfälle«, rekapituliert auch der Innsbrucker Kriminalpsychiater Reinhard Haller, nicht mal den Fall der Natascha Kampusch, die von einem Fremden entführt wurde und acht Jahre unter dem Erdboden verschwand.
24 Jahre lang hat der heute 73-jährige Josef Fritzl seine Tochter Elisabeth, 42, in seinem Keller gefangen gehalten, hat behauptet, sie sei zu einer Sekte davongelaufen, während sie tatsächlich in seinem Bunker festsaß. Oben lebte er mit seiner Frau Rosemarie, mit den Kindern, die er mit ihr hatte, neben Elisabeth noch sechs weitere. Unten vergewaltigte er seine Tochter ihr halbes Leben lang, war ihr Beherrscher, ihr Besitzer, zeugte mit ihr noch einmal sieben Kinder. Und erst als unten der Platz nicht reichte für die Zeugnisse seiner Allmacht, als Kinder krank wurden in seiner Familiengruft, entließ er drei von ihnen nach oben, in sein Haus. In seine andere Familie, in ein scheinbar ganz normales Leben. So wie Lisa, 1993.
Die Tarnung dafür aber musste ihm ausgerechnet seine Tochter Elisabeth liefern: Er zwang sie dazu, die Briefe zu schreiben, die den angeblichen Findelkindern beigelegt wurden, perfekte Täuschungen, die neben dem Wahnsinn der Tat nun auch das kranke Genie des Täters dokumentieren: »Ich hoffe, dass Ihr alle gesund seid«, hieß es da: »Ich werde mich später einmal melden und bitte Euch, nicht nach mir zu forschen, denn mir geht es gut.« Und Josef Fritzl nahm diesen Brief, ging zu den Behörden, um die kleine Lisa zu adoptieren, und damit niemand Verdacht schöpfte, wirklich keinen Hauch eines Verdachts, sagte er dem Beamten an jenem 19. Mai 1993, er habe noch ein paar alte Schulhefte seiner Tochter Elisabeth. Die werde er jetzt einem Grafologen geben, zusammen mit dem Brief, damit sie als Großeltern auch wirklich ganz sicher sein könnten, wen sie da adoptierten.
Es hat natürlich mit der enormen Wucht zu tun, mit der die Tat von Amstetten ins öffentliche Bewusstsein eindringt, dass es jetzt ein Bedürfnis nach Erklärungen gibt, die aus dem Einzelfall ein Phänomen machen sollen. Die Fragen sind ja durchaus berechtigt. Wie es sein kann, dass die Nachbarn und die Mieter des Hauses nie etwas gemerkt haben wollen? Und ob das wohl etwas mit einem Verlust an sozialer Bindung zu tun hat, selbst in der Provinz? Oder ob die österreichischen Behörden versagt haben, weil sie zu gut-, zu leicht-, zu blindgläubig waren, all die Jahre, trotz der Findelkinder, die immer wieder wie vom Himmel vor die Tür des Josef Fritzl herabfielen?
Die Antworten auf all diese Fragen sind Teil einer Erklärung. Sie sind deshalb auch nicht abwegig. Und schon gar nicht sind sie ungehörig, selbst wenn sich Österreichs Kanzler Alfred Gusenbauer am vergangenen Donnerstag über das neuerliche Schandbild seines Landes in den internationalen Medien beklagte und feststellte, dass es »keinen Fall Österreich« gebe.
Trotzdem bleibt diese Tat aber doch nur die Tat eines Einzelnen und mehr noch: eine Einzeltat. Wenn es wirklich eine Frage gibt, die zum Kern des Verbrechens führt, dann die, was diesen Einzelfall mit anderen Einzelfällen verbindet, den Täter Josef Fritzl mit den anderen Tätern. Ob es also etwas gibt in der Psyche dieser Menschen, das erklärt, warum sie abscheulichste Verbrechen mit einer Disziplin, Hingabe, Perfektion begehen, mit der andere höchstens an ihrer Modelleisenbahn schrauben. Treibt irgendetwas außerhalb ihres Willens sie zu dieser Tat, wie viele Neurowissenschaftler glauben? Oder tun sie aus freien Stücken, was andere nicht mal unter Zwang tun könnten? (Siehe Seite 64.)
Geboren wurde Josef Stefan Fritzl, römisch-katholisch, Sohn von Josef und Maria, 1935 in Amstetten, heute 23 000 Einwohner, er ging dort auch zur Schule. Ein Foto zeigt ihn mit seiner Klasse von 1951, der Junge im Trachtenjankerl schaut mit ernstem, schmalem, verschlossenem Gesicht in die Kamera. »Er wuchs ohne Vater auf, seine Mutter hat ihn mit der Faust erzogen und fast jeden Tag grün und blau geschlagen«, berichtet seine Schwägerin Christine R.
Mit 21 heiratete er die Frau, mit der er die nächsten 51 Jahre zusammenleben würde, Rosemarie. Sie war 17, sie hatte nichts gelernt, nur Küchengehilfin, sie hatte nichts außer ihm. Und so hochintelligent, manche sagen später: so genial der Elektrotechniker Josef Fritzl war, so wenig konnte er deshalb diese Frau ernst nehmen. Etwas zu sagen hatte in dieser Ehe nur er. Dass er später ohne sie Urlaub in Thailand machte, im Billig-Sexparadies Pattaya - sie ertrug es. Dass er sie, wie ihre Schwester sich in der Zeitung »Österreich« erinnerte, irgendwann nicht mehr anrührte - sie nahm es hin. Und dass er dann ständig im Keller verschwand und dort nicht gestört werden wollte, weil er angeblich Maschinenpläne zeichnete - wer sonst, wenn nicht sie, hätte sich gefügt?
Wenn Fritzl nach unten ging, durfte ihm »Rosi nicht mal einen Kaffee bringen«, behauptet die Schwägerin, und damit war »die Rosi« die ideale Frau für Josef Fritzl. Die ideale Erstfrau. Eine Frau, gewöhnt daran, nichts zu wissen. Mutter seiner sieben Kinder. Hausfrau, vorübergehend auch Gaststättenbetreiberin. Die Frau für den Teil des Hauses, in den auch andere hineinschauen konnten, ohne Verdacht zu schöpfen, dass es zusätzlich noch dunkle Kammern in diesem Haus gab und in der Seele seines Hausherrn.
So wenig ihm diese Erstfrau gewachsen ist, so wenig konnte sie ihm allerdings auch genügen. Im Herbst 1967, Rosemarie hatte ihm schon vier Kinder geschenkt, soll Fritzl eine Frau in Linz vergewaltigt haben; bei einer anderen hatte er es wohl vorher schon versucht. Anschließend saß er angeblich eineinhalb Jahre im Gefängnis; der mutmaßliche Eintrag im Polizeiregister wurde nach 15 Jahren getilgt.
Danach fiel Fritzl zwar nie wieder auf mit seinen verborgenen Obsessionen, doch nicht etwa, weil er sich im Griff gehabt hätte, wie nun alle dachten. Der Tüftler, Bastler, Techniker Fritzl hatte offenbar nur beschlossen, dass er künftig durchdachter vorgehen würde bei seinem Versuch, sich eine Zweitfrau zu besorgen, eine, die ihm jederzeit zu Willen war, die sich seiner Lust fügte und seinen Launen. Er musste nur besser planen: umsichtiger, präziser, langfristiger, er musste die gesamte Umgebung für sein Verbrechen nur richtig konstruieren, die Fehlerquellen minimieren, den Nachschub sicherstellen - Essen und Trinken, später auch Windeln.
»Das passt zu ihm«, sagt heute zumindest Franz Haider, 58, der 1969 drei Monate Schreibtisch an Schreibtisch mit Josef Fritzl zusammengearbeitet hat, bei der Zehetner Baustoffhandel und Betonwerk GmbH. Nicht dass Haider so ein Verbrechen wie das in Amstetten jemals für möglich gehalten hätte. Aber nun, da es geschehen ist, fällt ihm andererseits auch keiner sonst ein, der von seinem Naturell so prädestiniert dafür gewesen wäre, sich 24 Jahre lang nichts anmerken zu lassen.
Sie entwickelten damals eine Maschine, die Betonrohre gießen sollte, etwa für Abwasserkanäle. Eine große Anlage, sehr kompliziert, fünf Meter hoch, drei breit, drei tief, Fritzl konstruierte daran schon seit Monaten als technischer Leiter herum. Haider kam dazu, als Hilfskraft, und das Einzige, was er von Fritzl erfuhr, außer wie es um die Maschine stand, war, dass sein Chef verheiratet war. Ansonsten: nichts. Kein privates Telefonat, das Fritzl geführt hätte, kein Foto auf dem Schreibtisch. Nicht mal, dass er Kinder hatte, verriet er seinem Mitarbeiter. Ein Geheimnis jahrelang zu verbergen, auch ein monströses Geheimnis - Fritzl hätte es gekonnt, glaubt Haider. Genau deshalb, wie er imstande war, einen solchen Keller zu errichten. »Fritzls Spezialität war die Betontechnologie. Der konnte alles selbst bauen.«
Zunächst aber fand er die Frau, die ihm gehorchen, ihm gefügig sein sollte, und er fand sie dort, wo das Risiko, entdeckt zu werden, für Triebtäter wie ihn am geringsten war - in der eigenen Familie. Seine Wahl fiel auf Elisabeth.
Sie war damals noch ein Mädchen. Er vergewaltigte sie - wie, wo, darüber hat sie auch jetzt nicht sprechen können, nach ihrer Befreiung, bei der Vernehmung am vorvergangenen Wochenende. Nur dass es 1977 passiert sei, vielleicht 1978. Damals war sie gerade mal elf oder zwölf. Sie erzählte keinem davon ein Wort. Sie konnte sich nicht wehren, niemand konnte das, auch nicht ihre älteren Geschwister hatten gegen Fritzl eine Chance.
Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, mussten die Freunde der Kinder sofort nach Hause, und wenn er ein Zimmer betrat, hatten die Kinder den Mund zu halten, und wenn sie nicht parierten, nicht »bitte«, nicht »danke« sagten, dann schlug er sie auch, damit sie wieder spurten. Elisabeth aber musste mehr als spuren. Sie hatte Angst vor den Tagen, in denen er zu ihr kam, an denen er gnadenlos von ihr Besitz nahm, weil sie in seinen Augen nichts war außer sein Fleisch und sein Blut.
1973 hatte Fritzl mit seiner Frau ein Gasthaus am Mondsee in Oberösterreich mit angeschlossenem Campingplatz gekauft. Er hatte auf Tourismus umgesattelt, vielleicht auch auf Versicherungsbetrug - zweimal brannte es dort, ohne dass man ihm etwas nachweisen konnte. Später handelte er mit Immobilien, betrieb einen Unterwäscheversand. Den Bauantrag aber, den er 1978, kurz nach der ersten Vergewaltigung von Elisabeth einreichte, stellte er nicht für das Wirtshaus, sondern für einen »unterkellerten Zubau« auf dem Grundstück in Amstetten - das neue Wohnhaus der Familie Fritzl. Fünf Jahre später meldete er tatsächlich, dass er die Arbeiten abgeschlossen hatte, und die Bauabnahme bestätigte: Fritzl hatte das neue Hinterhaus samt Keller gebaut wie genehmigt.
Die Polizei glaubt heute, dass er die Behörden damals genarrt hat, dass er die Räume für das Verlies gleich mitbaute. Vermutlich hatte er einen viel größeren Keller ausgeschachtet, aber Trennwände eingezogen, zur Tarnung. Außerdem hat er wohl später einen Gang zu einem vergessenen Keller des Vorderhauses gegraben, der sich später leicht durchbrechen ließ, um den Platz zu bekommen, den er für das Verlies in seiner heutigen Größe brauchte.
Eines aber spricht dafür, dass damals mindestens die Idee für seinen Inzest-Bunker schon angelegt war, in seinem Kopf. Denn Fritzl stand unter Zeitdruck; seine Tochter drohte ihm zu entgleiten.
Mit 15 hatte Elisabeth eine Lehre als Kellnerin im Restaurant der Autobahnraststätte »Rosenberger« an der A1 bei Strengberg angefangen. Nach den Jahren des Missbrauchs muss es für sie wie eine Befreiung gewesen sein. Sie schlief, zusammen mit anderen Mädchen, in einer »Lehrlingsstube« unter der Küche; zum ersten Mal war sie vor ihrem Vater, seiner Gier und seiner Geilheit sicher.
Am 28. Januar 1983 brach Elisabeth Fritzl aus, schlug sich mit einer Arbeitskollegin nach Wien durch, lebte dort im 20. Bezirk, versteckte sich.
Nach drei Wochen aber griff die Polizei sie auf, schickte sie zurück zu ihren Eltern, zum Vater. Mit ihrer gescheiterten Flucht hatte Elisabeth ihm nun selbst eine Legende gebaut, für den Tag, an dem er sie in seinem Keller verschwinden lassen würde. Eine Ausreißerin, ein Früchtchen, eine Schwererziehbare - wer würde schon so genau wissen wollen, wo so eine am Ende abgeblieben sein würde?
In den ersten Wochen rührte ihr Vater sie nicht an, dann, so sagt sie heute, ging es wieder los. Sie beschloss auszuhalten, durchzuhalten, nur noch eineinhalb Jahre Lehre, dann wäre sie frei. Im Spätsommer 1984 bekam sie ihren Lehrlingsbrief, sie hatte eine Stelle in Aussicht, in Linz, sie war jetzt ganz kurz davor, endlich ganz weit weg von ihm zu kommen, da bat sie der Vater um einen Gefallen. Nicht einen von der Sorte, um den er nie gebeten hatte. Sie sollte ihm nur helfen, eine ausgehängte Tür in den Keller zu tragen. Es war der 28. August 1984, der letzte Tag, an dem sie den Himmel sah, für 24 Jahre.
Unten überwältigte er Elisabeth, kettete sie angeblich mit Handschellen an einen Pfosten, zwei Tage lang. Später soll er sie angeleint haben, damit sie wenigstens bis zu einem Klo kommen konnte. So soll das die ersten sechs Monate gegangen sein, vielleicht auch neun. Josef Fritzl bestreitet das. So oder so, auf jeden Fall hatte er sie nun ganz für sich allein. Hatte sie für immer. Von diesem Tag an herrschte er hier unten wie ein wahnsinniger Gott. Wie oft er sie vergewaltigte, als sie an seiner Leine lag - Elisabeth Fritzl weiß es nicht mehr.
In der Oberwelt war er dagegen von nun an der unauffällige Herr Fritzl, konstruierte seine Lügen, seine Finten, kalkulierte ihre Wirkung auf Polizei und Jugendämter. Und natürlich konnte er auch rechnen mit einer Umgebung, einem Land, das beharrlich, allen Umbrüchen der Zeit zum Trotz, eine Konsensgesellschaft blieb, die alles zukleisterte, worüber sich streiten ließ.
Unvergessen die Priesterseminaristen in der nahen Landeshauptstadt St. Pölten, die rund 40 000 Pornobilder gesammelt hatten, darunter auch solche mit Kindern, und sich im Übrigen bei Zungenküssen mit dem Subregens unterm Weihnachtsbaum ablichten ließen. Ein Skandal? Nicht für den St. Pöltener Bischof Kurt Krenn, der sich vor seiner vom Papst erzwungenen Abdankung nur zu dem Kommentar veranlasst sah, das sei doch alles nur eine »blöde Geschichte«, die die Bischofskonferenz »einen Dreck« angehe.
Unvergessen eben auch der Fall Natascha Kampusch im Jahr 2006, bei dem auch niemand hingeschaut hatte, niemand etwas gewusst oder auch nur geahnt haben wollte. Und nun passiert so etwas zum zweiten Mal in einem Land von nur 8,3 Millionen Einwohnern.
Und wenn man damals schon nicht hinschauen wollte, wieso dann auf das, was dieser Eigenbrötler von nebenan in Amstetten gerade trieb? Immer wieder, sagt die Nachbarin Gertrud Ramharter, die in der Ybbsstraße gegenüber wohnte, habe sie vom Fritzl-Grundstück Klopf- und Baugeräusche gehört. Sie habe sich gewundert, keine Frage, »Was baut der da? Und so groß?« Oder Alfred Dubanovsky, einer von rund hundert Mietern, die in all den Jahren in Fritzls Haus wohnten und unter Androhung einer fristlosen Kündigung weder den Garten noch den Keller betreten durften. Dubanovsky erinnert sich noch an die Tüten, die Fritzl immer nach unten in den Keller schleppte.
Aber wo Deutsche eher dazu neigen, schnell mal die Polizei zu rufen, gern anonym, bevorzugt vor dem Hintergrund eines mehrjährigen Nachbarschaftsstreits, reimt der Österreicher lieber »Hände falten, Gosch'n halten«. Dass es nach Schätzungen der Wiener Kriminologin Katharina Beclin in Österreich jedes Jahr 25 000 Fälle von sexuellem Missbrauch gibt, aber bei der Polizei nur 500 Anzeigen eingehen, passt dann ins Bild.
Am Tag nach Elisabeths Verschwinden meldete Rosemarie Fritzl ihre Tochter umgehend als »abgängig«; ordnungsgemäß, vorbildlich, amtlich. Kurz danach präsentierte der Vater den Beamten auch noch einen Brief, den ersten, den Elisabeth in ihrer Gefangenschaft schreiben musste, datiert auf den 21. September 1984, abgestempelt im Postamt Braunau am Inn. Sie habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten, sei bei einem Freund, man solle nicht nach ihr suchen, sonst gehe sie ins Ausland.
Es war ein Brief, wie gemacht für eine schnelle Entscheidungsfindung des Behördenapparats. Vielleicht würden sich heute Jugendämter auch in Österreich fragen, aus welchem Grund ein Mädchen, das als angepasst und zurückhaltend gilt, gleich zweimal von zu Hause ausbüxen sollte. Damals aber bediente der Brief passgenau die gängige Vorurteilslage, dass Ausreißerinnen in der Regel nur kleine Rotzlöffel sind, die sich besser mal Gedanken machen sollten, was sie ihren armen Eltern alles antun. Die Behörden leiteten pflichtschuldig die Vermisstenanzeige an das Bundesinnenministerium, die Finanzlandeskasse, alle Landesschulräte weiter, mehr aber auch nicht.
Schließlich hatte Josef Fritzl auch noch mündlich hinzugedichtet, seine Tochter müsse wohl bei einer Sekte gelandet sein - wo sollte man da nun noch suchen? Beim Sektenbeauftragten der Diözese St. Pölten, Manfred Wohlfahrt, hat auf jeden Fall niemand nachgefragt. Nur ein paar Wochen, und die Ermittler hatten Elisabeth Fritzl offenbar aufgegeben.
Unten im Verlies drohte ihr Vater mit dem Gas, das in den Keller strömen werde, wenn sie ihn angreifen, eine Flucht versuchen würde. Jedes Mal wenn er ging, hantierte er am Ausgang an irgendeinem Gegenstand herum, als würde er ein System scharfstellen, vermutete Elisabeth. Vielleicht war es auch nur ein Versuch, sie einzuschüchtern.
Bis 1993 lebte sie in einem einzigen Kellerraum. Fritzl soll etwa jeden dritten Tag gekommen sein, um sie zu versorgen - und zu vergewaltigen. Am Anfang waren sie dabei allein, dann, nach der Geburt ihrer Kinder Kerstin, 1988, Stefan, 1990, und Lisa, 1992, zu fünft. Schließlich baute er einen zweiten Raum aus, und im gleichen Jahr schaffte er unten Platz für noch mehr Kinder: Lisa kam nach oben, das Kind in der Pappschachtel.
Der Brief, der damals in der Schachtel steckte und heute in ihrer Adoptionsakte liegt, ist ein Meisterwerk der Täuschung, das muss man den Behörden in Amstetten immerhin zugutehalten. »Ihr werdet Euch sicher wundern, dass Ihr erst jetzt etwas von mir hört, und noch dazu mit einer lebenden Überraschung«, schrieb Elisabeth mit leichtem Ton dahin - dabei saß sie in ihrem Betonknast, und einer der beiden Empfänger wunderte sich natürlich überhaupt nicht - Josef Fritzl hatte den Brief diktiert. »Ich habe Ihr ca. 6 1/2 Monate die Brust gegeben und jetzt trinkt sie nur noch die Milch aus dem Flascherl, alles andere isst sie schon brav vom Löffel« - auch das so ein Satz im Ton scheinbarer Normalität. Und deshalb klang es ganz selbstverständlich, dass Elisabeth höflich darum bat, sie sollten sie gar nicht erst suchen. Nur so, als wünsche sie sich ein wenig Respekt und Toleranz für ihren alternativen Lebensentwurf.
Wieder waren die Behörden hinreichend beeindruckt, fragten sich nicht, warum Elisabeth das Kind ausgerechnet ihren Eltern anvertrauen sollte, vor denen sie doch selbst weggelaufen war. »Herr und Frau Fritzl haben sich vom anfänglichen Schock erholt«, notierte stattdessen die Jugendwohlfahrt Amstetten fünf Tage nach Lisas Auftauchen, und: »Familie Fritzl kümmert sich sehr liebevoll um Lisa und möchte auch weiterhin für sie sorgen.« Ein Jahr später hatte das Ehepaar Lisa adoptiert.
Doch schon am 16. Dezember 1994, kurz nach Mitternacht, das nächste Kind, Monika, neun Monate. Diesmal lag das neue Baby nicht in einer Schachtel, sondern im Hausflur im Kinderwagen von Lisa. Wenige Minuten später kam ein Anruf, Rosemarie Fritzl nahm ab, glaubte ihre Tochter Elisabeth zu hören: Sie solle sich doch um das Kind kümmern. »Ich hab's euch gerade vor die Tür gelegt.«
Rosemarie Fritzl bekam beinahe einen Nervenzusammenbruch: nicht nur, weil sich ihre Tochter endlich wieder gemeldet zu haben schien. Sie hatten doch gerade erst eine Geheimnummer bekommen - woher kannte Elisabeth die überhaupt? Rosemarie Fritzl gab das sogar bei der Bezirksanwaltschaft Amstetten zu Protokoll; das sei doch »vollkommen unerklärlich«, wunderte sie sich. Die Erklärung: Josef Fritzl. Der kannte nicht nur die Nummer. Offenbar hatte er ein Tonband abgespielt, mit der Stimme von Elisabeth.
Unten im Bunker, hinter einer 300 Kilogramm schweren Metalltür mit Betonfüllung und einer zusätzlichen Stahltür, ging das Leben im immer gleichen Trott weiter. Licht an, Licht aus, Licht an, Licht aus, Licht an, Vergewaltigung, Licht aus. 1996 wurde Alexander geboren, kam nach oben, als Pflegekind, wie Monika. Sein Zwillingsbruder Michael starb kurz nach der Geburt, Elisabeth sagt heute, ihr Vater habe den Leichnam in einem Heizofen verbrannt. Dann, am 16. Dezember 2002, Felix, das letzte Kind. Er musste unten bei der Mutter bleiben, zusammen mit den beiden Ältesten, Kerstin und Stefan; noch ein Kind hätte seine Frau Rosemarie oben nicht verkraftet, begründete das Fritzl nun in seinem Verhör.
Die vier, die in dieser ganzen Zeit im Keller leben mussten, vegetierten dort wie die einzigen Überlebenden eines Atomschlags: Das Gedankenspiel aus den Zeiten des Kalten Kriegs, was für ein Leben das eigentlich wäre nach der Bombe, wenn man nicht mehr hinausgehen dürfte, nie mehr zurück an die Erdoberfläche käme, für sie war das Realität.
Immerhin, sie hatten eine Ahnung von der Welt da draußen. Ein alter Fernseher zeigt sie ihnen; es ist die Wirklichkeit, aber für die Kinder im Keller bleibt es immer nur ein Spielfilm. Eine Wiese, eine Mücke, eine Sonne - für sie könnte das genauso gut ein phantastisches Nimmerland sein, denn wie sollen sie wissen, wie Wiesen duften, Mückenstiche jucken, die Sonne bräunt? Und all die Autos, Raumschiffe, Handys und Laserschwerter im Fernsehen - könnte das nicht alles nur Science-Fiction sein?
Sie wissen, dass es Regen gibt, dass es ein Meer gibt, aber sie wissen es, ohne zu verstehen, sie leben, ohne zu erleben. Und wenn Josef Fritzl sie auch nicht umbringt, so bringt er sie doch ums Leben.
Einen hohen Grad an Narzissmus bescheinigt der Kriminalpsychiater Haller dem Täter, einen Narzissmus, der aus seiner Allmacht erwächst. Aber es gibt noch eine andere Form der Selbstverliebtheit, die genauso gut eine Rolle spielen kann. Mit dem Narzissmus des Sammlers, der Bilder stehlen lässt, um sie für sich allein zu haben, behält Fritzl seine Kinder in seinem Tresorraum. Und jedes Mal, wenn er zu ihnen geht, um sich eine Stunde oder zwei mit ihnen zu befassen, um ihnen nachts das Nötigste zu bringen, die Lebensmittel, die Medikamente, versichert er sich seiner Einzigartigkeit durch das Einzigartige seines Besitzes.
Es gehört deshalb zu den Unbegreiflichkeiten dieses Falls, dass die Kinder aus der oberen Hälfte seines Doppellebens weitgehend normal groß wurden. Das Ehepaar Fritzl sorge sich darum, »die Kinder gut und vielseitig zu fördern«, bestätigte die Sozialbehörde in ihren regelmäßigen Berichten. Vom »Kinderturnen« ist die Rede und von den »Büchern und Kassetten aus der Stadtbücherei«. Kurz: Die beiden »gehen sehr liebevoll mit den Kindern um«.
Sicher war Josef Fritzl auch zu ihnen streng, aber er machte sie nicht kaputt, vielleicht auch deshalb, weil es vor allem seine Frau Rosemarie war, die sich um sie kümmerte. Fast jeden Tag fuhr sie ihre Enkel zu den Probestunden des Musikvereins Amstetten, ließ Lisa auf der Querflöte unterrichten, Monika und Alexander auf der Trompete.
»Alle fanden es bewundernswert, wie stark sie ist«, erinnert sich ein Musiklehrer der Kinder. Nur einmal, da sprach sie mit ihm, und dann brach ihr die Stimme weg, und die Tränen standen in ihren Augen. Sie hatte von Elisabeth erzählt. Dass sie bei einer Sekte sei und dass sie ihre Tochter so sehr vermisse. Ihre Mutter, sagte Elisabeth nun in ihrer Vernehmung, habe von der Gefangenschaft nichts gewusst und habe damit nichts zu tun gehabt. Nur der Vater habe sie mit Essen und Kleidung versorgt, der Vater ganz allein.
Die Woche, in der Rosemarie Fritzl ihre Tochter wiederbekam und ihren Mann verlor, begann in der Unterwelt mit einem Schock. Der Gesundheitszustand von Kerstin, 19, der ältesten Tochter, hatte sich in der Nacht vom 18. auf den 19. April rapide verschlechtert. Sie hatte immer schon gekränkelt, nun bekam sie Krämpfe, biss sich die Lippen blutig. Eine Infektion, keine Erbkrankheit, aber es ging auf Leben und Tod. Elisabeth, die Mutter, flehte Josef Fritzl an: Bring das Kind hier raus.
Fritzl gab nach. Aus Mitleid, nach all den gnadenlosen Jahren? In Panik, dass er sonst die Leiche von Kerstin verschwinden lassen müsste, einer erwachsenen Frau? Warum auch immer. Doch allein konnte er sie nicht tragen, Elisabeth musste mit anpacken. So kam es, dass eine Frau in den Morgenstunden des 19. April mit 42 Jahren zum ersten Mal wieder an die Oberwelt gelangte - nach einem halben Leben.
Sie hatte ein paar Augenblicke, dann musste sie wieder zurück in ihr Verlies, für die letzte Woche ihrer Gefangenschaft. Josef Fritzl rief den Notarzt. Er musste sich eine neue Lügengeschichte ausdenken, doch sie würde ihm nicht mehr helfen. Die Ober- und die Unterwelt hatten begonnen sich aufeinander zu zu bewegen, eins zu werden, und sosehr Fritzl sich auch dagegen stemmte, er konnte es nicht mehr verhindern.
Noch am selben Morgen, um 10.37 Uhr, ging bei der Polizei ein Anruf des Landesklinikums Mostviertel-Amstetten ein, der die Einlieferung einer mysteriösen »weiblichen Person« meldete. Lebensbedrohlicher Zustand, Patientin nicht ansprechbar: Die Symptome wiesen auf schwerste Vernachlässigung hin. Die Begleitperson: ein Josef Fritzl, Ybbsstraße 40.
Fritzl musste den Beamten eine Erklärung liefern. Er erzählte von plötzlichen Geräuschen im Treppenhaus, von einer jungen Frau unten im Erdgeschoss, die völlig apathisch an der Wand gelehnt habe. Sie habe einen Zettel dabeigehabt, von Elisabeth: Das hier sei ihre Tochter Kerstin, sie brauche dringend medizinische Hilfe.
Die Ärzte waren sich nicht sicher, was Kerstin hatte, vielleicht Epilepsie, vielleicht etwas anderes. Wenn sie es schnell herausfinden wollten, brauchten sie mehr Informationen - von der Mutter.
Bei der Polizei begannen umfangreiche Ermittlungen: Die offiziell »vermisste« Elisabeth Fritzl wurde erneut zur Aufenthaltsfahndung ausgeschrieben. Josef Fritzl wiederholte seine alte Sekten-Geschichte, und dann präsentierte er seinen ewigen Trumpf; einen »neuen« Brief der angeblich verschollenen Tochter. Mit Datum vom Januar 2008 schrieb sie, dass ihr Sohn Felix im September sehr krank gewesen sei. Er habe epileptische Anfälle gehabt, Lähmungserscheinungen, sich jedoch wieder erholt. Auch Kerstin, hieß es weiter, habe Probleme gehabt: Kreislaufbeschwerden, Herzstechen. Bald aber würden Elisabeth, Stefan und Felix nach Hause kommen. Vielleicht könne man schon mit Lisa und Kerstin gemeinsam Geburtstag feiern.
Noch einmal, zum letzten Mal, klappte das Ablenkungsmanöver, zumindest verschaffte es Fritzl noch etwas Zeit: Der Brief war in der Ortschaft Kematen an der Krems abgestempelt, rund 70 Kilometer von Amstetten entfernt. Und so konzentrierten sich die Ermittler jetzt auf den falschen Ort: Natürlich konnte sich keiner der befragten Ärzte in der Umgebung von Kematen an eine Kerstin erinnern. Die Beamten wurden langsam stutzig: Gab es diese mysteriöse Sekte überhaupt?
Am Montagmorgen, dem 21. April, klingelte bei Manfred Wohlfahrt, dem Sektenbeauftragten der Diözese St. Pölten, das Telefon. Der Mann, den 24 Jahre keiner gefragt hatte, sollte sofort zur Polizeiinspektion Amstetten kommen. Die Beamten legten dem Theologen den letzten Brief von Elisabeth vor, dazu noch den Zettel, den Kerstin bei sich hatte. Ließen sich irgendwelche Rückschlüsse auf den Aufenthaltsort der Autorin ziehen? Wiesen Diktion und Wortwahl auf eine Sekte hin?
Wohlfahrt studierte die blauen Schönschrift-Buchstaben, die sich für ihn zu »eigenartig glatten, konstruierten und wenig authentischen« Sätzen zusammenfügten. »Wie diktiert«, sagte Wohlfahrt, erschienen ihm die Schreiben - wo war da ein Bezug zu einer Sekte? Wohlfahrt fand nichts; eine Einschätzung, die für Elisabeth Fritzl 24 Jahre zu spät kam.
Für Josef Fritzl wurde es jetzt aber immer enger: Das österreichische Fernsehen berichtete über den Fall. Zuvor war immer noch vom »verzweifelten Vater« die Rede, doch unten in ihrem Kerker sah auch Elisabeth die Sendung. Sie hörte, dass die Ärzte Kerstins Mutter finden mussten, weil das Leben ihres Kindes davon abhänge. Am Samstag, dem 26. April, sah Josef Fritzl dann nur noch eine Möglichkeit, beides zu retten: Kerstin und seine Tarnung. Er ließ seine verlorene Tochter wieder auftauchen, nunmehr endgültig. Als seine Frau Rosemarie und die anderen Kinder kurz aus dem Haus waren, holte er Elisabeth, Stefan und den kleinen Felix aus dem Verlies.
Noch weiß die Polizei nicht genau, was in den folgenden Stunden im Haus geschah. Gab es neue Absprachen, was Elisabeth sagen, wie sie die vergangenen 24 Jahre erklären sollte?
Sicher ist, dass die Polizei in den Abendstunden einen Anruf bekam; verdächtige Personen hätten die kranke Kerstin besucht. Ermittler jagten zur Klinik, noch rechtzeitig, um Josef Fritzl und Elisabeth zu finden. Mit beiden fuhren sie zur Polizeiinspektion, begannen mit getrennten Befragungen. Erst als sie Elisabeth zugesichert hatten, dass sie ihren Vater nie mehr wiedersehen müsse und man auf ihre Kinder und ihre Mutter aufpassen werde, fing sie an zu reden.
Wie im Zeitraffer erzählte sich Elisabeth binnen zwei Stunden durch 24 Jahre Gefangenschaft - als die Beamten um 0.15 Uhr das Vernehmungsprotokoll schlossen, mit drei knappen DIN-A4-Seiten, wussten sie: Dies würde der Fall ihres Lebens sein.
Wie er für Josef Fritzl ausgehen wird, lässt sich erahnen, auch wenn sein Anwalt Rudolf Mayer hofft, das Land werde ihn schon bald als Menschen sehen, nicht mehr ausschließlich als Monster. Allerdings überprüft die Polizei auch noch eine mögliche Verbindung zu einer Mädchenleiche, die 1986 am Mondsee in der Nähe von Fritzls Gaststätte gefunden wurde.
Wie es aber für Elisabeth Fritzl und ihre Schattenkinder weitergehen wird, kann jetzt noch niemand sagen. Chefinspektor Leopold Etz hat die konzertierte Aktion organisiert, in der Stefan und Felix aus dem Haus an der Ybbsstraße abgeholt wurden, um sie in die Landesklinik zu fahren. Sie sprachen kaum, erzählt er, nur einmal habe der kleine Felix gesagt, wie schön das sei. Was? Alles.
Und Elisabeth Fritzl, die Tausende Mal vergewaltigt worden sein muss, die am längsten von allen ausgehalten hat? Für die Lebenslängliche von Amstetten waren es am Ende 8516 Tage, die mit keinem Morgengrauen begannen, mit keiner Abenddämmerung endeten, immer nur mit dem An- und Ausschalten des Lichts. Tage, an denen das Heute wie das Morgen, das Morgen wie das Gestern war und das Vergehen der Zeit nur an der Vergänglichkeit des Lebens erkennbar wurde: Ihre Kinder wurden älter, ihre eigenen Haare grauer, bis sie ganz weiß waren, am Tag ihrer Befreiung.
Dass sie in diesen 8516 Tagen unendlicher Qual nicht wahnsinnig wurde, ist ein Wunder. »Ich habe selten so eine starke Frau gesehen. Ich traue ihr übermenschliche Kräfte zu«, sagte der Leiter der Intensivmedizin im Landesklinikum Amstetten, Albert Reiter, vergangene Woche der »Bild«-Zeitung.
In der Psychologie kennt man das Phänomen der »Unzerbrechlichen«, Menschen, denen Unvorstellbares passiert und die wie durch ein Wunder unverwundet erscheinen. Die nicht kaputtgehen unter posttraumatischen Belastungsstörungen, die den Horror von sich abspalten können, als hätten sie nur von außen zugeschaut, als er ihnen widerfuhr.
Vielleicht ist die gerettete Tochter Elisabeth nun auch stark genug, ihre Familie zu retten. Zusammenzuführen, was ihr Vater in zwei Welten aufgeteilt hatte, und sogar mit dem Verdacht fertig zu werden, dass Rosemarie, die Mutter, oder sonst noch jemand aus der Familie doch etwas gewusst haben könnte. Wer, wenn nicht Elisabeth, könnte diesen Abgrund überwinden?
Die erste Begegnung der Familie ohne Josef Fritzl in der Amstetter Nervenklinik sei überraschend heiter verlaufen, heißt es. Ein Anfang. Einer von vielen, die es nach so langer Zeit geben muss.
JÜRGEN DAHLKAMP, MARION KRASKE,
JULIANE VON MITTELSTAEDT, SVEN RÖBEL, MATHIEU VON ROHR