ILLER-KATASTROPHE Der Tod von Kempten
Der Stabsoberjäger Julitz, diensttuender Zugführer in der 2. Kompanie des Luftlande - Jäger - Bataillons 19* zu Kempten im Allgäu, befahl seinen 28 Rekruten: »Fertigmachen!« Die Zigarettenpause am Ufer der Iller war zu Ende. Julitz baute sich vor den Jägern auf: »So, jetzt gehen wir noch durch die Iller: Im Ernstfall müssen wir das ja auch tun. Los, alle mir nach!« Sekunden später verloren die Soldaten des Stabsoberjägers Julitz in der reißenden Iller - Strömung den Halt. Fünfzehn ertranken.
Der Oberste Befehlshaber der westdeutschen Bundeswehr, Kriegsoberleutnant und Bundesverteidigungsminister Dr. h. c. Franz-Josef Strauß, wünscht diese schaurige Katastrophe mit der leeren Floskel zu erklären: »Fünfzehn junge wehrpflichtige Soldaten haben . . . durch Verquickung besonders tragischer Umstände den Tod gefunden.«
Daß der Minister den strukturellen Schaden in der Armee erkannt und als »tragischen Umstand« auch die Tatsache empfunden hat, daß Wehrpflicht-Rekruten in unfertige Rahmen-Verbände hineingezwungen wurden, ist so gut wie ausgeschlossen. Straußens Versuch, die wesentlichen Ursachen des Unglücks von vornherein aus der Diskussion über die Schuld am Tod der fünfzehn Rekruten auszuklammern, wurde ihm freilich durch Kommentare der Zeitungen und Radiosender nicht eben erschwert. Die Kommentatoren versuchten, den Soldatentod in Friedenszeiten als ein zwar bedauerliches, im Grunde aber unvermeidbares Berufsrisiko zu deuten.
Der renommierte Militärexperte der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, Major im Generalstab außer Dienst Adelbert Weinstein, schrieb in seinem Blatt: »Soldatsein ist immer mit Gefahren verbunden, ob im Frieden oder im Krieg. Man wird Unfälle bei der Bundeswehr, wie in jedem Betrieb, durch Sorgfalt auf ein Mindestmaß beschränken können. Vermeiden lassen sie sich nie.«
In Wahrheit jedoch Ist der absurde Tod der fünfzehn Jäger ohne Beispiel in der deutschen Heeresgeschichte. Ihrem prätentiösen Anspruch, etwas ganz Neues bieten zu wollen, was in Deutschland auf militärischem Gebiet kein Vorbild hat, Ist die Bundeswehr - ungewollt - an der Iller im Allgäu auf eine makaber dilettantische Weise gerecht geworden. Die Unglücksfälle dagegen, die In der Armee des Kaisers, der Reichswehr Seeckts und der Wehrmacht Hitlers in Friedenszeiten passierten, konnten tatsächlich durch »Verquickung tragischer Umstände« erklärt werden.
Am 31. März 1925 mußte Straußens Weimarer Amtsvorgänger, Reichswehrminister Dr. Otto Geßler, dem Deutschen Reichstag mitteilen, daß mehr als 70 (es waren 80) junge Soldaten in den Fluten der Weser den Tod gefunden hatten.
Die 6. Infanterie - Division der Reichswehr hatte an der Weser »Flußübergang« geübt. Da der Versailler Friedensvertrag der Reichswehr den Besitz schweren Brückengeräts verbot, baute das Pionierbataillon 6 aus vier Pontons eine »Gierfähre«, eine Fähre, die an einem schräg über den Fluß gespannten Seil durch die Strömung von einem zum anderen Ufer gedrückt wird. Die Fähre trug 175 Soldaten. Die Weser hatte eine Stromgeschwindigkeit von 1,50 Metern in der Sekunde (die Iller bei Kempten war am Unglückstag um 50 Zentimeter schneller).
Viermal schon hatte die Weser-Fähre am 31. März 1925 Soldaten über den Fluß gesetzt. Bei der fünften Fahrt passierte das Unglück. 160 Rekruten des Ausbildungsbataillons Detmold, feldmarschmäßig mit Stahlhelm, Gewehr und Tornister ausgerüstet, waren an Bord verteilt. Der Zuruf eines Pioniers an den Kommandanten der Fähre: »Herr Oberleutnant, wir bekommen Wasser ins Boot«, versetzte die unerfahrenen Infanterie-Rekruten in Panik. Die Warnung der Pioniere, nach »Ober- und Unterstrom« zu treten, wurde von ihnen nicht verstanden.
Sie drängten sich auf einer Seite der Fähre zusammen und drückten dadurch zwei Pontons, in die ursprünglich nur einige Wellenköpfe hineingeschlagen waren, nun wirklich ganz unter Wasser, worauf sich die Fährenplattform schräg wie eine Rutschbahn stellte. Rund 100 Rekruten glitten mit Stahlhelm, Gewehr und Tornister ins Wasser.
Der Kommandant der Fähre befahl, die beiden noch intakten Pontons vom Treidelseil zu lösen. Sie trieben stromabwärts, auf ihnen 60 verängstigte Rekruten. Ein Pionierleutnant auf der Fähre befahl: »Stahlhelme, Tornister und Gewehre sofort ins Wasser werfen.« Die Rekruten gehorchten nicht. Heereseigene Ausrüstungsstücke wegzuwerfen, erschien ihnen selbst in dieser Situation als unfaßlicher Befehl mit unausdenklichen Folgen. Als sich ein Rettungsponton dem dahintreibenden Fährenrest näherte, hörten sie auf kein Kommando mehr. Sie stürzten sich dem Boot entgegen und brachten dadurch die Fähre endgültig zum Kentern.
Der Präsident des Preußischen Staatsrats, Oberbürgermeister Dr. Konrad Adenauer aus Köln, beteuerte: »Den ertrunkenen Soldaten wird ein ehrendes Andenken bewahrt bleiben.«
Drei Tage nach dem Unglück, als in Detmold das amtliche Totengedenken gehalten wurde - das Musikkorps blies den Choral: »Was Gott tut, das ist wohlgetan« -, waren von den 80 Ertrunkenen erst 25 geborgen.
Aber es war klar: Die 80 Soldaten waren bei einer militärisch sinnvollen, nach exakten Vorschriften gesicherten Übung zu Tode gekommen, ohne daß Irgend jemand schuldhaft gehandelt hatte.
Der Tod der 80 war der Anlaß dafür, daß fortan beim »Flußübergang« - laut neuer Dienstvorschrift - das Gewehr In der rechten, der Stahlhelm in der linken Hand getragen wurde. Die obersten beiden Knöpfe des Waffenrocks mußten geöffnet sein, Tornister durften nicht mitgeführt werden.
Auch der Kommandant des Reichsmarine-Segelschulschiffs »Niobe«, das am 26. Juli 1932 vor der Insel Fehmarn in einer Sturmbö kenterte und 69 Seeoffiziere und Seekadetten mit in die Tiefe nahm, wurde von jeder Schuld freigesprochen. Die Beweisaufnahme hatte zu dem eindeutigen Ergebnis geführt: »Höhere Gewalt« - »Wetterbeobachtung, Sturmsicherung und Segelführung waren korrekt.«
Was sich dagegen am Montag letzter Woche in der Iller bei Kempten abspielte, läßt sich weder mit einem Übungszweck noch mit höherer Gewalt erklären. Der »Flußübergang« - die schwierigste Angriffsform - und ähnlich das »Durchschreiten von Furten« sind der Schlußpunkt am Ende der Verbandsausbildung. Derart riskante Verbandsübungen, die nur fertig ausgebildeten Soldaten zugemutet werden, müssen überdies im Rahmen genau festgelegter Sicherheitsvorschriften ablaufen.
Auch die Bundeswehr hat bereits für Manöver, wie sie der Stabsoberjäger Julitz in der Iller exerzierte, eine einschlägige Vorschrift: »Richtlinien für den Behelfswegebau - Vorläufige Arbeitsgrundlagen für die Pionierausbildung aller Truppen« (siehe Kasten). Der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Röttiger, genehmigte diese Vorschrift am 6. November 1956 mit seiner Unterschrift; im Januar 1957 quittierte das Luftlande-Jäger-Bataillon 19, zu dem Stabsoberjäger Julitz gehört, den Empfang von elf Exemplaren dieser Vorschrift.
Daß die Offiziere und Unteroffiziere des Kemptener Bataillons kaum Zeit fanden die Vorschrift gründlich zu studieren, ist jedem verständlich, der die Fülle der Aufgaben zu übersehen vermag, vor der das Ausbildungspersonal, das selbst kaum richtig ausgebildet ist, steht.
Das »Durchschreiten von Furten« als Verbandsübung steht ohnehin nicht auf dem Ausbildungsprogramm für Rekruten im zweiten Dienstmonat. Für sie kommt es zunächst ausschließlich darauf an, zu lernen, wie sich der einzelne Soldat gefechtsmäßig Im Gelände bewegt. Auf dem Dienstplan der Kompanie, die am Montag letzter Woche fünfzehn Rekruten verlor, stand denn auch kein Wort vom Durchqueren der Iller. Er sah vielmehr so aus:
5.30: Wecken - Oberjäger vom Dienst
6.30: Antreten, Befehlsempfang - Hauptfeldwebel
7.0 bis 12.00 Gefechtsausbildung - Kompaniechef
1. Verhalten des Schützen als Feldposten, Beobachten und Melden.
2. Schanzen, Tarnen und Täuschen.
3. Das Verhalten des Schützen im Spähtrupp
14 Uhr bis 14.50: Unterricht MG 19 - Zugführer
15 Uhr bis 15.50: Wachexerzieren - Zugführer
16 Uhr bis 16.45: Waffenreinigen - Gruppenführer
Nach diesem Dienstplan rückte die Kompanie frühmorgens um sieben aus der Kemptener Prinz - Franz - Kaserne ins Übungsgelände, die Riederau an der Iller, eine freie Wald- und Feldflur, die zur-Gemeinde Sankt Lorenz gehört.
Militärischem Brauch, der sich in Generationen als äußerst zweckmäßig erwiesen hat, hätte es entsprochen, wenn der Kompanie für ihre Gefechtsausbildung ein bundeswehr-eigener Exerzierplatz zur Verfügung gestanden hätte. Indes, in Kempten gibt es zwar ein Luftlande-Jäger-Bataillon, und in diesem Verband sollen wehrpflichtige Rekruten zu Soldaten gemacht werden, aber einen Standortübungsplatz, auf dem diese Rekrutenausbildung sachgemäß und mit gebotener Sicherheit bewerkstelligt werden könnte, gibt es nicht.
Es fehlt freilich nicht nur an geeignetem Übungsgelände, sondern auch - weit schlimmer noch - an geeignetem Ausbildungspersonal. Laut Stärkenachweis des bundesdeutschen Heeres sollen in jeder Kompanie mindestens drei Offiziere Dienst tun, der Kompaniechef und zwei Zugführer. Nur jeweils ein Zug der Kompanie, die normalerweise drei, im Einzelfall vier Züge hat, darf von einem Oberfeldwebel geführt werden. Dreißig Prozent all dieser Offizierstellen des Heeres sind aber noch heute provisorisch mit Unteroffizieren besetzt.
Der Vize-Inspekteur des Heeres,Brigadegeneral von der Groeben, bedauert: »Junge Offiziere sind Mangelware. Der Nachwuchs von den Kriegsschulen (gemeint sind die Heeres-Offizier-Schulen) kommt nur zögernd.« Erst im März des nächsten Jahres, so hat Brigadegeneral von der Groeben ausgerechnet, werden die Offizier-Lücken wenigstens teilweise gestopft werden können.
Dennoch hat sich der Verteidigungsminister nicht entschließen können, Wehrpflichtige erst zu einem Zeitpunkt zu holen, zu dem er halbwegs genug Offiziere beisammen hat, um die Wehrpflichtigen überhaupt schulgerecht ausbilden und die Ausbildung beaufsichtigen zu können.
So ist es denn im ganzen westdeutschen Heer heutzutage durchaus nicht ungewöhnlich, daß ein Bataillon wie das unglückliche Kemptener Luftlande-Jäger-Bataillon 19 fast für jede Kompanie nur einen einzigen Offizier, nämlich den Kompanie-Chef, zur Verfügung hat. Die 2. Luftlande-Jäger-Kompanie in Kempten litt noch an dem Tage, an dem das Unglück geschah, unter diesem Mangel Ihrem Chef, dem Oberleutnant Sommer, stand kein Kompanie - Offizier zur Seite.
Alfred Sommer - Jahrgang 1921, Soldat seit 1940, bei Kriegsende Fallschirmjäger-Leutnant und nach dem Kriege Beamter des Paßkontrolldienstes, seit Juli 1956 bei der Bundeswehr - war mit dem Kraft wagen ins Übungsgelände gefahren, um, wie es sein eigener Dienstplan vorschrieb, die Gefechtsausbildung der Rekruten zu leiten. Aber schon nach zwei Stunden zog es ihn an seinen Schreibtisch in die Kompanie - Unterkunft zurück. Grund: »Dringende innerdienstliche Aufgaben« - ein Argument, das schon zu Reichswehr- und Wehrmacht - Zeiten den Kompanie - Chefs dazu diente, die eintönige Gefechtsausbildung der Einzelschützen dem Unteroffizier-Korps zu überlassen. Aus dieser Praxis, der mangelhaften Dienstaufsicht im Gelände als Dauererscheinung, entstand der schlechte Korporals-Reim: »Die Sonne scheint, der Chef erscheint.«
Nun gibt es allerdings zwei gewichtige Unterschiede zwischen den Kompanie-Chefs alter Art und dem Oberleutnant Sommer in Kempten. Sommer kann mit Fug und Recht für sich geltend machen, daß er, der einzige Offizier der Kompanie, ein überlasteter Mann Ist. Der laut Dienstplan vorgesehene. Nachmittagsdienst der Kompanie am Unglückstage hätte ihn zwar nicht mehr beansprucht, Sommer hätte in den Nachmittagsstunden für schriftliche Arbeiten Zeit gehabt. Aber seine. Vor-, gesetzten bescheinigen ihm heute, daß auf seinem Schreibtisch Stapel Papiers lagen, die bis zum Mittag aufgearbeitet sein mußten. Dieser immense Papierkrieg wird damit erklärt, daß die Truppe noch in der Aufstellung begriffen ist.
Die Kompanie - Chefs alter Zeiten hatten zwar weniger triftige Gründe als Oberleutnant Sommer, den Gefechtsdienst der Rekruten zu schwänzen, sie brauchten aber auch weniger Sorgen zu haben, daß in ihrer Abwesenheit irgend etwas schiefging. Die Unteroffiziere, die damals organisch in den Kommißbetrieb hineinwuchsen und ausgepichte Techniker waren, verstanden von der Rekruten-Ausbildung ohnehin mehr als ihre Chefs und die Rekruten-Offiziere. Oberleutnant Sommer jedoch hätte berücksichtigen müssen, daß seine Unteroffiziere, die Zug- und Gruppenführer, eigentlich selbst noch für diese Stellungen gründlich ausgebildet werden müßten.
Zu Reichswehr-Zeiten durchlief der Unteroffizier-Aspirant in fünf bis sechs Dienstjahren etliche Ausbildungs- und Hilfsausbilder-Stationen, bis er nach einem letzten intensiven Unterführer-Schliff zum Korporal avancierte. Hatte er die Unteroffizier-Tressen drei oder vier Jahre lang zu dienstlichem Nutz und Frommen getragen und war eine Planstelle frei, so rückte er zum Feldwebel auf. Nicht wenige Zwölfender schlossen ihre Dienstzeit aber auch als Stabsgefreite ab.
Das Resultat dieser peniblen Ausbildungs- und Beförderungsregeln war ein Musterhandwerker, der zwar hin und wieder - wenn die Offiziere zu jung oder zu bequem waren, ihn unter Aufsicht zu halten - überflüssige Schleifermethoden wählte, der aber in aller Regel sein Metier schlafwandlerisch sicher beherrschte.
Zu kindlichen Exzessen von der Art des Iller-Skandals neigten diese Zwölfender schon deshalb nicht, weil ihr oberstes Ziel, der Zivilversorgungsschein und später der Ruhegehaltsanspruch, bereits durch geringfügige Abweichungen von der Dienstvorschrift gefährdet worden wäre.
Der schnelle Ausbau der Reichswehr zur Wehrmacht wäre ohne jenen routinierten Ausbilderstamm undenkbar gewesen.
Heute dagegen, in der Bundeswehr, gibt es kaum einen Feldwebel oder Unteroffizier, der aus eigener Erfahrung weiß, wie Rekruten in Friedenszeiten ordnungsgemäß ausgebildet werden. Die letzte friedensmäßige Rekruten-Ausbildung - vor Bundeswehrzeiten - begann im Herbst 1938. Wer damals auch nur mit dem Dienstgrad eines Gefreiten als Hilfsausbilder fungieren wollte, mußte spätestens im Herbst 1937 Soldat geworden sein - in der Regel zwischen 18 und 21 Jahren alt. Er ist heute 38 bis 41 Jahre alt.
Das Durchschnittsalter der Bundeswehr-Feldwebel wird vom Verteidigungsministerium heute auf 33 Jahre geschätzt; das Alter der Unteroffiziere liegt darunter. Die meisten Feldwebel sind folglich erst im Kriege Soldat und also nur schnell und behelfsmäßig ausgebildet worden. Nicht wenige der heutigen Bundeswehr - Unteroffiziere waren vor Bundeswehrzeiten überhaupt noch nie Soldat.
Auch das Unteroffizier-Korps der Kemptener Jäger-Kompanie Sommer leidet - unverschuldet - unter solchen Ausbildungsmängeln. Diesen unfertigen Unteroffizieren oblag es, die Gefechtsausbildung der Rekruten in eigener Verantwortlichkeit zu leiten, nachdem der Oberleutnant und Kompanie - Chef in die Unterkunft zurückgefahren war.
Der erste, der zweite und der dritte Zug der Kompanie wurden von Feldwebeln geführt. Der etatmäßige Zugführer des vierten Zuges, Stabsoberjäger (Unterfeldwebel) Schäffler, war fußkrank und nahm als Schlachtenbummler nur von fern an der Gefechtsausbildung teil. Geführt wurde sein Rekrutenzug deswegen von seinem Stellvertreter, dem Stabsoberjäger Dieter Julitz, der - 23 Jahre alt - nun 28 Rekruten verantwortlich ausbilden mußte, obgleich er selber erst seit genau neun Monaten Soldat Ist.
Der fußkranke Zugführer Schäffler hatte Immerhin noch drei Kriegsjahre als Soldat erlebt. Er war 1945 Unteroffizier. Julitz aber war bei Kriegsende erst elf Jahre alt. Vater Julitz ist alter Berufssoldat; drei Söhne tragen heute die steingraue Uniform der Bundeswehr. 1951 war Sohn Dieter mit 18 Jahren in die Westberliner Bereitschaftspolizei eingetreten, eine Formation, die von der Berliner alliierten Kommandantur besonders streng daraufhin überwacht wird, daß sie sich ausschließlich polizeilichen, nicht aber militärischen Aufgaben widmet. Ihre Ausbildungsmethoden entsprechen diesem Polizeicharakter.
Desungeachtet wurde der Polizei - Oberwachtmeister Julitz am 3. September 1956 von der Bundeswehr gleich als Oberjäger (Unteroffizier) übernommen, bereits vier Monate später zum Stabsoberjäger (Unterfeldwebel) befördert und schließlich zum stellvertretenden Zugführer ernannt - und dies alles in einem Luftlande-Truppenverband, der für die Sonderaufgaben, die ihm im Ernstfall gestellt sind, durch sorgfältige Personalauswahl und ebenso sorgfältige Ausbildungsmethoden zu einer militärischen Elite herangebildet werden soll.
Zweifellos ist der Soldat Julitz nach Anlage und Neigung für diese Elitetruppe prädestiniert. Er ist ein ehrgeiziger Sportsmann, der seine Leistungen ständig zu steigern trachtet und persönliches Risiko keineswegs scheut. Die Rekruten schwärmen heute noch für ihn. Sicherlich wäre er ein ausnehmend tüchtiger Unteroffizier geworden, wenn man sich Zeit gelassen hätte, ihn dazu auszubilden. Aber bei dem überstürzten Versuch, die Bundeswehr aus dem Boden zu stampfen, blieb dazu keine Zeit.
Es gibt militärische Führer, die diese unheilvolle Entwicklung vorausgesehen haben. Der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Röttiger, vertraute schon im November 1956 dem SPD-Bundestagsabgeordneten Helmut Schmidt seine Sorgen an. SPD-Schmidt machte davon vor dem Plenum des Deutschen Bundestages Gebrauch: »Wenn Sie die leitenden Offiziere des Verteidigungsministeriums fragen, so merken Sie, daß bei denen kein Zweifel darüber vorhanden ist, daß die Bundeswehr in Wirklichkeit nicht in der Lage ist, im kommenden Frühjahr in nennenswertem Umfang wehrpflichtige Soldaten aufzunehmen; im Gegenteil, wenn der Bundeswehr die Aufnahme von Wehrpflichtigen aus politischen Gründen aufgezwungen werden sollte, so werden diese (führenden) Soldaten (im Verteidigungsministerium)- das haben sie heute schon zum Ausdruck gebracht -, das für ein Unglück halten, weil sie den Reifegrad der bisher aufgestellten Truppe kennen.«
Kanzler Konrad Adenauer, Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß und die Mehrheit des Deutschen Bundestages setzten sich aus Gründen, deren Stichhaltigkeit heute mehr denn je umstritten ist über die Bedenken der Fachleute hinweg. So kam es, daß Wehrpflichtige in die Kasernen geschickt wurden, obwohl - wie das Beispiel Kempten zeigt - weder Ausbildungskräfte noch Ausbildungsvorschriften, weder genug Offiziere noch qualifizierte Unteroffiziere vorhanden sind. Und so kam es denn auch, daß der Stabsoberjäger Julitz, der besten Willens war, dem aber die sachlichen Voraussetzungen für seine Dienststellung fehlten, ahnungslos fünfzehn Rekruten in den Tod führte.
Die strafrechtliche Schuld an diesem Unglück liegt - so scheint es - bei Julitz. Verantwortlich in weiterem Sinne aber sind jene Stellen, die um politischer Effekte willen militärische Verantwortung auf Schultern luden, die solche Verantwortung noch nicht tragen können.
Bonner Parlamentarier sind jetzt mit einem Fall befaßt, der das krasseste Gegenstück zum Fall Julitz zu werden verspricht. Ein Feldwebel, der seinen Dienst bei einer Versorgungskompanie in Neumünster (Holstein) zur Zufriedenheit der Vorgesetzten versah, sollte zu einer anderen Einheit versetzt werden und dort Rekruten ausbilden. Der Feldwebel gab zu bedenken, er habe noch nie in seinem Leben Rekruten ausgebildet und verstehe mithin nichts von diesem Geschäft. Als die vorgesetzte Dienststelle trotzdem darauf bestand, der Feldwebel solle als Rekrutenausbilder fungieren, verweigerte er den Gehorsam. Er wurde festgenommen und sitzt bis heute in Untersuchungshaft.
Bär, Bär - Eck, Eck
Der Stabsoberjäger Julitz in Kempten, jünger und ehrgeiziger als der Feldwebel von Neumünster, kannte solche Hemmungen nicht. Als ihm, dem 23jährigen, am Montag letzter Woche die Befehlsgewalt über 28 Rekruten anvertraut war, faßte er einen Plan, der mit Indianerspielereien Halbwüchsiger entschieden mehr Ähnlichheit hatte als mit militärischen Ausbildungsmethoden.
Dabei hat es den Anschein, als ob die Disposition des Soldaten Julitz für irrsinnige Kraftstückchen und Härte-Proben durch einen Drei-Wochen-Kurs auf der Fallschirmschule der amerikanischen Armee in Augsburg nach Kräften gefördert wurde. Erst die letzte Woche dieses Sprung-Lehrgangs, den Julitz im letzten Dezember absolvierte, ist dem Fallschirmspringen, die beiden ersten Wochen dagegen sind dem »physical training« (Bodenübungen) gewidmet.
Dazu gehören täglich zwei Stunden Bewegungsgymnastik: eine halbe Stunde Freiübungen im eckigen Stil des Jahres 1005, eine halbe Stunde Marsch im Gleichschritt - wobei die Marschierenden unausgesetzt rhythmisch: »1-2-1-2«, brüllen müssen -, eine halbe Stunde wechselweise Balkentraining, Reiter- oder Hahnenkämpfe und eine halbe Stunde Tier - Gangarten.
Beim Balken-Training heben zwei, drei, manchmal auch vier Mann einen Telegraphenmast zunächst in Kniehöhe, dann in Brusthöhe, schließlich in Schulterhöhe. Derweil springen die Kameraden über den Balken oder turnen auf ihm herum. Dauer der Übung je Balkenträgermannschaft: Sieben Minuten.
Tier-Gangarten gibt es mehrere: Beim »Katzengang« bewegt sich der Fallschirmschüler so schnell er nur kann auf allen Vieren und brüllt dazu im Rhythmus seiner Bewegungen: »Miau- Miau«. Beim »Raupengang« streckt der Schütze die Arme nach oben, läßt sich vornüber fallen und federt sich beim Aufprall mit den gespreizten Fingern ab, zieht die Füße bei durchgedrückten Knien an die Hände heran - wobei das Gesäß nach oben gestreckt ist -, richtet sich auf und wiederholt diese Übung, zu der ein rhythmisches »Eck - Eck - Eck« ausgestoßen wird.
Der »Bärengang« ist eine langsame Bewegung auf allen vieren im Paßgang, Arm- und Beingelenke durchgedrückt, dazu im Rhythmus das Gebrüll: »Bär - Bär - Bär!«
Beim »Froschgang« schließlich hüpft der Rekrut nach Lurchenart, hält die Arme dabei senkrecht nach unten gestreckt und rührt: »Quack - Quack - Quack.«
Diese Bewegungsübungen nach dem Vorbild niederer Lebewesen werden den deutschen Fallschirmschülern der amerikanischen Armee noblerweise nur jeden zweiten Tag abverlangt. An den übrigen Tagen wird als Ausgleich Rasendrill geboten: Die Sprungrekruten laufen unverdrossen im Kreise und werfen sich auf das Kommando »Bauch« nach vorn, auf das Kommando »Rücken« nach hinten zu Boden.
Tier - Gangarten und Rasendrill werden In einer Art mit Sägemehl bestreuter Zirkus-Arena exerziert. Für jeden Fehler werden zehn Liegestütze verordnet. Anfänger bringen es auf 280 bis 300 Liegestütze pro Tag.
Nicht nur der Unteroffiziersverstand des Julitz hat sich an Hand dieser Spektakel-Ausbildung seine Vorstellungen vom Drill einer Elite-Einheit gemacht. Auch der Kommandeur der Luftlande-Division, Oberst von Baer, hat selbst einen derart albernen Tier-Kurs absolviert, dessen körperliche und moralische Anforderungen einschließlich der Tierstimmen - Imitationen keineswegs dem Hirn eines amerikanischen »Schleifer-Platzeck« entsprungen, sondern in der amerikanischen Ausbildungsvorschrift festgelegt sind.
Oberst von Baer verfertigte über seine Erlebnisse im amerikanischen Fallschirm-Zirkus einen Bericht für das Bonner Verteidigungsministerium. Das Urteil des Obristen lautete: Die Härte ist richtig, die Methoden müssen, der deutschen Mentalität von heute entsprechend, etwas sportlicher werden.
Was unterdes bei den Bemühungen, bundesdeutsche Fallschirm - Ausbildungsvorschriften nach jenen Erkenntnissen zu formulieren, als Entwurf herauskam, fand Im Verteidigungsministerium nur geringen Beifall. Sagt der Major Schmückle, Leiter des Referats »Innere Führung« im Führungsstab des Heeres, jetzt - nach dem Iller-Unglück - kommissarischer Kommandeur des Unglücks-Bataillons: »Ich habe schon auf den ersten zwölf Seiten unseres Vorschriften - Entwurfs hinter manchen Punkt ein Fragezeichen gesetzt.« Und: »Ich glaube nicht unbedingt daran, daß Zuverlässigkeit durch Kniebeugen entsteht.«
Ein anderer, für solche Fragen nicht minder kompetenter Stäbler in der Bonner Ermekeilkaserne prophezeite nach Lektüre des auf harten Drill abgestellten Vorschriften-Entwurfs - wenige Tage vor der Kemptener Katastrophe -: »Wenn die das so machen, dann haben sie spätestens in vier Wochen eine Schweinerei à la Marine - Korps.«
Die rücksichtslose Härte, mit der das als Elite-Einheit berühmte amerikanische Marine-Korps - die Marine-Infanterie - seine Rekruten drillt, galt bis zur Kemptener Affäre als einzigartig. Anfang August 1956 stand der Marine-Korps-Stabsfeldwebel Matthew C. McKeon vor einem Militärgericht, weil er einen Trupp Rekruten auf einem Nachtmarsch im Wattenmeer durch ein Priel geführt hatte, in dem sechs seiner Soldaten ertranken. Er wurde zu neun Monaten Gefängnis und zum Ausschluß aus der Armee verurteilt. Aber bald darauf setzte die militärfromme amerikanische Öffentlichkeit durch, daß er begnadigt wurde und wieder Dienst tun durfte.
Mitte November bekannte sich ein 19 Jahre alter Rekrutenausbilder des Marine-Korps vor einem Militärgericht schuldig, Rekruten gezwungen zu haben, sich minutenlang auf Ellenbogen und Zehenspitzen zu stützen, wobei den Gequälten ein Bajonett aufrecht unter den nackten Bauch gestellt wurde.
Unbeirrt durch solche Übergriffe, sieht die Öffentlichkeit Amerikas in dem Marine-Korps die Elite der Nation. Die Amerikaner sind bereit, die Thesen des McKeon - Verteidigers als Rechtfertigung all dieser schikanösen Mißhandlungen zu akzeptieren:
»Stabsfeldwebel McKeon ist ein würdiger Repräsentant des Marine-Infanterie-Korps. Was er tat, tat er nicht aus sadistischem Vergnügen, sondern um den Sinn des Korps zu erfüllen - nämlich aus verweichlichten Muttersöhnchen harte und disziplinierte Kämpfer zu machen. Seine Ausbildungsmethoden erfordern keine Entschuldigung, weder vom Korps noch von McKeon.«
In der Tat, kein pflichtbewußter Ausbilder kann auf Druck und Drill verzichten, wenn es gilt, aus Zivilisten kriegstüchtige Soldaten zu machen. Denn ein Soldat, der im Frieden nicht gelernt hat, sich bis zur äußersten Grenze seiner Leistungsfähigkeit auszugeben, spielt im Krieg mit seinem Leben. Der militärische Vorgesetzte, der den Soldaten bei der Ausbildung nicht bis an jene äußerste Grenze heranfahrt, versäumt seine Pflicht.
Aber: Dieser Ausbildungsanspruch setzt Ausbilder voraus, die es gelernt haben, die eindeutige Grenze zwischen der lebensrettenden Ausbildungs - Härte und der lebensgefährdenden Ausbilder-Schikane zu erkennen und zu respektieren. Solche Ausbilder müssen außerdem zwischen im Ernstfall nützlichen und unnützen Härte-Übungen zu unterscheiden wissen.
Härtester Waffendrill im Gelände zahlt sich im Ernstfall immer aus, für den einzelnen wie für die ganze Truppe. Erfahrungen und Fertigkeiten dagegen, die sich der Soldat beispielsweise bei Gewaltmärschen - über weite Entfernungen, mit Stahlhelm, Gewehr und Gepäck in Friedenskolonne - aneignet, kommen im modernen Krieg niemandem zugute, wenngleich die Opfer derart nutzloser Energieproben auch heute noch den Davongekommenen als Vorbilder präsentiert werden.
Sogar die Schweizer Urdemokraten finden nichts dabei, wenn ihre Miliz falschverstandenes Preußentum imitiert. Noch heute ist es auf den Kasernenhöfen der Schweizer Miliz Brauch, »,Hinlegen!« und »Aufstehen!« exerziermäßig zu üben, ohne daß dieser stupide Drill durch eine Gefechts - Übungslage motiviert wäre.
Im Juli 1951 starben zwei Offizier-Aspiranten der Schweizer Miliz nach einem Gewaltmarsch an Hitzschlag. Der Kompanie-Kommandant, der jenes Marschexerzitium, das für den Krieg keinerlei praktische Bedeutung hat, veranstaltet hatte, wurde zu dreißig Tagen Gefängnis mit zwei Jahren Bewährungsfrist verurteilt. Kommentierte der Oberstdivisionär Beerli, das Urteil werde ernste Folgen für die Verantwortungsfreudigkeit des Schweizer Offizier-Korps haben.
Angesichts solcher Exzesse in den beiden Musterdemokratien der Welt - in Amerika und in der Schweiz - nimmt es kaum noch wunder, daß ein Regiment der neuen japanischen Armee einen Gepäckmarsch über 80 Kilometer Distanz abtippelte, bei dem ein Unteroffizier und ein Feldwebel tot zusammenbrachen. Der Regimentskommandeur beförderte die beiden Opfer militärischen Ausbildungswahns nach ihrem Tode in den nächsthöheren Rang und proklamierte in einem Regimentsbefehl: »Die beiden Männer haben unseren unbezähmbaren Kampfgeist demonstriert und allen unseren Soldaten ein anfeuerndes und löbliches Beispiel gegeben.«
Der Bonner Verteidigungsminister meinte, das Kemptener Unglück zum Anlaß ähnlich anspornender Wendungen nehmen zu sollen: »Zutiefst erschüttert und bewegt, gedenkt mit mir in dieser Stunde die gesamte Bundeswehr in Ehrfurcht der heimgegangenen Kameraden. Wir gedenken gleichzeitig in stiller Anteilnahme ihrer so hart betroffenen Angehörigen. Ihr Opfer und ihr Leid verpflichten uns in unserem Dienst zum Schutz unserer Heimat.«
In Wahrheit verpflichten die Opfer zu etwas sehr viel Konkreterem; nämlich zu
- pflichtgemäßer Dienstaufsicht durch die
Offiziere und dazu,
- die Rekrutierung Wehrpflichtiger den
tatsächlichen militärischen Ausbildungsmöglichkeiten anzupassen.
Was die Dienstaufsicht, beim Luftlande-Jäger-Bataillon 19 in Kempten betrifft: Ohne auf Verbotsschilder am Illerufer und auf Warnungen der Bevölkerung zu achten, wurden schon im Spätsommer vorigen Jahres Soldaten der Kemptener Garnison über den glitschigen Grund der eiskalten Iller geschickt. Im Februar dieses Jahres wurde den Teilnehmern eines Unterführer-Lehrgangs die gleiche lebensgefährliche Mutprobe abverlangt. Der Kommandeur des Kemptener Luftlande-Jäger-Bataillons, Major Alfred Genz, 41, erfuhr davon und befahl den Kompanie-Chefs, die Iller bei der Gefechtsausbildung zu meiden. Die Kompanie-Chefs gaben diesen Befehl mündlich an Ihre Zug- und Gruppenführer weiter.
Der Jäger-Kommandeur Genz ist ein erprobter Fallschirm-Offizier. Am 20. Mai 1941, beim Luftlandeunternehmen der Wehrmacht gegen die Insel .Kreta, fiel die Sturmkompanie Genz mit ihren - Lastenseglern in die Feuerstellung dreier britischer Flak-Batterien ein, überwältigte die Kanoniere und sprengte die Geschütze.
Nachdem die - eingeschlossene - Kompanie Genz vergeblich auf Entsatz gewartet hatte, entschloß sich ihr Führer zu einem zweiten Husarenstreich. Die provisorisch versorgten deutschen und britischen Verwundeten wurden unter dem Zeichen des Roten Kreuzes zusammengebettet, die kampffähigen Fallschirmjäger staffierten sich mit englischen Uniformteilen aus, die sie erbeutet hatten, und zogen - englisch parlierend, so gut sie es konnten - durch feindliches Gebiet sechs Kilometer weit bis zur eigenen Front. Genz - seine beiden Brüder fielen als Fallschirmjäger auf Kreta - bekam das Ritterkreuz.
Heute sagt der Chef des Stabes der Bundeswehr-Luftlande-Division, Major Schacht, über den Kemptener Bataillons-Kommandeur Genz: »Wir haben die meisten unserer 350 Wehrpflichtigen in das Bataillon Genz gesteckt. Er ist unser bester Kommandeur.«
Genzens Verbot, an der Iller zu üben, wurde jedoch von den weniger erfahrenen Unterführern seines Bataillons ignoriert. Berichtet der Iller-Anwohner Fliegel: »Schon vor einigen Wochen waren weiter unten Soldaten durch das eisige Wasser gegangen. Da habe ich noch zu meiner Frau gesagt: ,Das gibt noch mal ein Unglück'.«
Die Mutter des ertrunkenen Jägers Walter Schneider in Donaueschingen bestätigt: .Walter hat mir zuletzt geschrieben, daß man sie oft bis zum Hals durchs Wasser geschickt hat. Anschließend bekamen sie nur zwei Stunden Schlaf, bevor sie wieder zur Übung mußten.«
Die Schwester des ertrunkenen Jägers Hans-Jörg Foehrenbach aus Donaueschingen ergänzt diese Bekundungen: »Schon in seinen ersten Briefen schrieb mein Bruder einmal von einem vier- bis fünfstündigen nächtlichen Marsch durch gefährliches Sumpfgelände.«
Dem Major Genz scheint der Ungehorsam seiner Ausbilder nicht verborgen geblieben zu sein. Drei Wochen vor dem Iller - Unglück wiederholte Genz sein Verbot, in die Iller zu steigen. Die Kompanie -Chefs belehrten erneut ihre Unteroffiziere. Stabsoberjäger Julitz aber erfuhr nichts, er war an diesem Tage abkommandiert. Und so konnte Julitz denn etwas befehlen, was er - der kaum ausgebildete Ausbilder - für nicht gefährlich und für nicht verboten hielt.
Zur selben Stunde, in der die fünfzehn Jäger die Unerfahrenheit und Unwissenheit ihres Zugführers Julitz mit dem Leben bezahlten, ließ sich der Oberbefehlshaber der Bundeswehr, Franz-Josef Strauß, im Münchener Hauptbahnhof die Haare scheren und die Hand maniküren. Es war der Tag seines Polterabends. In Rott am Inn, wo die Hochzeit gerichtet war, fanden sich die Photographen der illustrierten Presse ein. Strauß, der schon auf der Wagenfahrt von München nach Rott aus dem Auto-Radio die schlimme Neuigkeit von der Iller erfahren hatte, machte im Hochzeitshaus nur kurze Rast, lud Schwiegervater Zwicknagl und Photographen in seinen Dienstwagen und hastete an den Unglücksort.
Strauß trat zweimal an das gurgelnde Wasser - einmal, um sich zu informieren, das zweite Mal, um sich an dieser Stelle photographieren zu lassen (siehe Bild Seite 13). Ein übereifriger Major hatte die Lichtbildner bei Straußens 'erstem Gang an das Wasser zurückgehalten.
Dort, auf der Uferböschung, kam der Minister zu einem ähnlichen Urteil über die Beschaffenheit, der Iller wie einen halben Tag vorher der Stabsoberjäger Julitz: »Wenn ich es mir so anschaue, würde ich keine Minute glauben, daß es gefährlich ist.«
Die anläßlich seiner Hochzeit am nächsten Tage geplante dienstliche Verwendung von Bundestruppen, die dem Familienfest den militärischen Rahmen leihen sollten, blies der Minister Strauß ab. Er beschied sich damit, den Hochzeitszug von einem fast kriegsstarken Zug stahlhelmbewehrter, mit weißem Lederzeug geschmückter Feldjäger eskortieren zu lassen.
Der Kommandeur der Luftlande - Division, Oberst von Baer, war schon vor seinem Oberbefehlshaber Strauß per Hubschrauber vom Divisions - Stabsquartier Eßlingen nach Kempten geeilt. Eingedenk der alten Kommiß-Maxime, daß ein Fehl-, greifen in der Wahl der Mittel den Truppenführer nicht so sehr belastet wie das Unterlassen jeder Maßnahme überhaupt, hielt der Luftlande-Oberst es für sinnvoll, eine Badehose anzuziehen und in der Iller umherzuwaten - »um die Strömung zu prüfen«.
Um den ertrunkenen Soldaten die Absolution zu erteilen, kam auch der Pfarrer von Heiligkreuz, zu dessen Pfarrbereich der Unglücksort gehört, Hochwürden Franz Xaver Schleibinger, an das Illerufer. Er erteilte den nicht anwesenden, vermißten, vermutlich Toten Lossprechung von ihren Sünden.
Verteidigungsminister Strauß zog aus dem Unglück zunächst die bei solchen Fällen in der Armee seit je bewährte Konsequenz. Er suspendierte die unmittelbaren Disziplinarvorgesetzten der Unglücks-Einheit den Bataillons-Kommandeur Genz und den Kompanie-Chef Sommer - »vorläufig« von ihren Dienstgeschäften. So haben die beiden Offiziere keine Möglichkeit, kraft ihrer Kommandogewalt die Aussagen der Tatzeugen zu beeinflussen, während, die schockierten Jäger keine Gelegenheit haben, vermeintlich Schuldigen am Tod ihrer Kameraden den Gehorsam aufzukündigen. Die Stabsoberjäger Schäffler und Julitz dagegen, die das Kommando führten, als das Unglück passierte, wurden von der Staatsanwaltschaft wegen Verdunkelungsgefahr verhaftet.
Weil die richterliche Untersuchung gegen diese beiden Unteroffiziere nur die strafrechtliche Schuldfrage klären kann, soll eine dreiköpfige Untersuchungskommission des Verteidigungsministeriums die militärtechnischen Konsequenzen aufspüren. Die wichtigste Erkenntnis aber aus der Iller-Affäre wird der Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages dem Parlamentsplenum vorzutragen haben: präzisere gesetzliche und personelle Sicherungen dagegen, daß ahnungslose und gutwillige Rekruten von gleichermaßen ahnungslosen und gutwilligen Ausbildern leichtfertig in den Tod geführt werden.
Durchschreiten von Furten
Aus den »Richtlinien für den Behelfswegebau« des Heeres
Die Lage von Furten wird häufig an Wagen-, Rad- oder Hufspuren, die auf beiden Ufern an das Gewässer heranführen, erkennbar sein. Auch Karten und Auskünfte von Landeseinwohnern können Aufschluß geben. Eine Erkundung der genauen Lage, der Breite, Wassertiefe, Stromgeschwindigkeit und des Untergrundes ist immer nötig. Schließt sich der Übergang nicht unmittelbar an die Erkundung an, ist der Wasserstand zu beobachten (zum Beispiel durch Pegel). Die Wassertiefe darf bei festem Untergrund und schwachem Strom betragen für Fußtruppen: bis 1,00 Meter... Verlauf und Breite der Furt sind durch Stangen, Leinen, nachts auch durch abgeblendete Laternen zu bezeichnen. Für Fußtruppen kann auf der Seite Oberstrom ein Haltetau gespannt werden. Große Steine in der Furt müssen beseitigt. Löcher ausgefüllt werden.
* Luftlande - Jäger - Verbände entsprechen den Fallschirmjäger-Verbänden der alten Wehrmacht. Da sich für diese Truppe, die ursprünglich nur Freiwillige aufnehmen sollte, nicht genügend Interessenten gefunden hatten, wurde in den Grenadier-Divisionen des Bundesheeres für den Fallschirmdienst geworben. Die wehrpflichtigen Rekruten, die in der Über ums Leben kamen, waren aufgrund jener Werbeaktion freiwillig von den Grenadieren zu den Luftlande - Jägerin übergewechselt.
Oberster Befehlshaber Strauß, General Heusinger (l.): Schicksal oder Schuld?
Weser-Unglück 1925 (l.), Iller-Unglück 1957 (r.): Soldatentod in Friedenszeiten
Jäger-Kommandeur Genz (1941) Zuwenig Offiziere
Jäger-Zugführer Julitz
. . und ausgebildete Ausbilder
Oberlebende Luftlande-Rekruten: Freiwillig zum Elite-Drill
Minister Strauß auf seiner Hochzeit: Feiern wurden abgesagt
Oberst von Baer (Badehose) in der Iller: Strömungen wurden geprüft