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LITERATUR / JÜNGER Der Traum von der Technik

aus DER SPIEGEL 4/1950

Siehe Titel

Auf dem Briefkopf des vormaligen »Furche-Verlags« in Tübingen steht jetzt »Heliopolis-Verlag«. Verleger Katzmann nahm Ernst Jüngers ersten Roman zum Anlaß, sein Unternehmen umzutaufen.

Ewald Katzmann hält die Feuilleton-Redakteure aller Zonen ganz ordentlich in Atem. Sein Verlag brachte kurz hintereinander zwei seitenreiche Bände heraus, beide mit demselben goldgeprägten, in einem Zuge durchgezogenen Handzeichen. »EJ« läßt sich leicht daraus entziffern, wenn man es erst weiß.

Kaum hatten »Strahlungen«, Ernst Jüngers 648 Tagebuchseiten aus den Jahren 1941-1945, in moosgrünem Leinen, viel Tinte aufgerührt, da lag schon »Heliopolis« in den Buchläden, 440 Seiten »Rückblick auf eine Stadt«, in gedecktem Blau.

Zwei Jahre hat Jünger an dem romanhaften Opus gearbeitet. Es schildert Gestalten und Geschehnisse in einer utopischen Stadt, zwischen dem Zusammenbruch des ersten und dem Beginn des zweiten Weltimperiums.

Der Übermensch soll durch den Menschen überwunden, die perfekte Technik in eine neue Theologie einbezogen werden. Jünger-Jünger wissen, daß diese Konzeption ihrem Meister seit den »Marmor-Klippen« keine Ruhe mehr läßt.

Held in »Heliopolis« ist der Kommandant Lucius de Geer, Soldat mit metaphysischen Neigungen, der zwischen den Fronten lebt und sich dann in Goldmaske und Asbestpanzer den irdischen Machtkämpfen durch eine Raketenfahrt ins Weltall entzieht. Lucius sagt, das Christentum sei »noch flüssig, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so drängt es auf ein drittes Testament, auf eine letzte Vergeistigung«.

Des Kommandanten Wahlspruch »De ger trift« und sein Wappen zieren das Buch mehrfach. Der fortgeschrittene Jünger-Leser erkennt in ihm unschwer den Autor des »Arbeiter«. Aber zweifellos war der Autor des »Arbeiter« aufregender.

Was 1932 im »Arbeiter« noch grandiose Vision war, die neue Religion der Technik, hat sich inzwischen als grandiose Fata Morgana erwiesen, und es macht allmählich niemandem mehr Spaß, jeweils das heroisiert, mythisiert und theologisiert zu sehen, was nun einmal nicht zu ändern ist.

Auf der Innenseite des »Heliopolis«-Umschlags findet sich ein Plan der geträumten Sonnenstadt. Meister Werner Höll hat ihn gezeichnet, ein guter Bekannter Jüngers aus der Pariser Zeit. In Ravensburg, nahe dem Bodensee, haben sich die Duzfreunde wiedergefunden. Der Heliopolis-Plan entstand aus Freundschaft nebenbei, Höll, vielgewandt, malt hauptamtlich abstrakt oder interessante Damen.

Er bewährte sich auch als Quartiermacher, als Ernst Jünger vor einigen Monaten vom hannoverschen Kirchhorst nach dem mild-sanften Ravensburg umsiedelte. Jünger hat das halbverfallene Pastorat an der Straße Hannover-Celle gern mit dem freundlichen, modernen Siedlungshaus vertauscht, am Rande der mauerbewehrten schwäbischen Kleinstadt.

Hier ist er wieder in der Nähe Friedrich Georg Jüngers, der in Uebingen wohnt, der alle Manuskripte des Bruders vor der Drucklegung liest und dessen Person und Werk Ernst in »Strahlungen« oft in brüderlicher Verbundenheit erwähnt. In Ravensburgs Wilhelm-Hauff-Straße 18 bewohnt Ernst Jünger mit Frau Gretha und Sohn Alexander den ersten Stock. Die zu kleine Bleibe ist nicht auf Dauer berechnet.

Das schmale Arbeitszimmer wirkt wie eine Gelehrten-Klause. Der monumentale Schreibtisch, hinter dem der Schriftsteller wie eine Spinne anmutet, ist mit Geschriebenem und Gedrucktem aller Art bestapelt und allen dienstbaren Geistern tabu. Außer Jünger kennt sich niemand in seiner vertrackten Topographie aus.

Mit einer Ausnahme: Armin Mohler, Doktor der Philosophie aus Basel, Ernst Jüngers Privatsekretär.

»Arminius« führt die Korrespondenz, empfängt Besucher und Adoranten, sammelt Zeitungsausschnitte und tut alles, was sonst noch seines Amtes*). Außerdem arbeitet er für den Heliopolis-Verlag.

Im Labyrinth des Pro und Contra um Ernst Jünger findet Mohler sich besser zurecht als Jünger selbst. Arminius weiß genau, was im Pamphlet eines Skribenten steht, und erinnert sich lächelnd an das überspannte Aperçu im Brief eines adeligen Fräuleins. Ernst Jünger ist nahezu die einzige Persönlichkeit im deutschen Geistesleben, die nach Kriegsende wirklich in einem Wirbel von Zustimmung und Ablehnung stand. An der Diskussion seines »Falles« erscheint besonders bemerkenswert, daß Stimmen maßvoller, sachlicher Kritik seltener sind als radikale Aeußerungen, Lobeshymnen und Schmähtiraden aller Schattierungen. Parodien aller Qualitäten fehlen nicht Die Hymnen pflegt Jünger nur zu überfliegen, negativen Stimmen hört er sehr genau zu, nicht nur aus Eitelkeit.

»Seit dreißig Jahren schwenken die Feuilletonredakteure meinen Skalp. Das bekommt mir ganz gut.«

Wie es in einem Feuilletonredakteur aussieht, weiß Ernst Jünger ziemlich genau. In den zwanziger Jahren war er selbst einmal für kurze Zeit Theaterkritiker und verriß in Berlin Ku-Damm-Premieren. Damals brauchte Jünger Geld. Seine Mitarbeit an Zeitschriften mit politisch eindeutigen Titeln wie »Standarte«, »Arminius«, »Vormarsch« hatte andere Motive. Schon damals wurde vom Autor des erfolgreichsten Kriegsbuchs mit anerkennend oder mißbilligend emporgezogener Brauen gesprochen. Die »Stahlgewitter«, erste Auflage 1920, hatte der vierzehnmal verwundete Stoßtruppführer aus zerfledderten, blut- und schlammbespritzten Notizbüchern niedergeschrieben.

E. S. Mittlers Militärverlag verzeichnete in wenigen Jahren zackige Auflageziffern. Die Kritiker der Rechten feierten der »Metaphysiker der Materialschlacht«.

1914 hatte Jünger sich am ersten Tag freiwillig gemeldet. In der satten Bürgerlichkeit des Wilhelminischen Deutschland gehörte er zu den »jungen Leuten, die an Temperaturerhöhung leiden, weil in ihnen der grüne Eiter des Ekels frißt, den Seelen von Grandezza, deren Träger wir gleich Kranken zwischen der Ordnung der Futtertröge einherschleichen sehen«.

Der 16jährige war durchgebrannt, zur Fremdenlegion. Nach drei Wochen hatten die Eltern ihn wiedergefunden. Nur das Versprechen, nach dem Abitur an einer Kilimandscharo-Expedition teilnehmen zu dürfen, tröstete Ernst über die Blamage hinweg.

Sein erstes großes Abenteuer hat Jünger in den »Afrikanischen Spielen« 1926 geschildert, nicht ohne Humor, den man seinen Büchern oft abspricht. Sein zweites, entscheidenderes Erlebnis wurde der Weltkrieg.

Dezember 1914 stand er schon im Feld, beim 73. hannoverschen Füsilierregiment. Vier Jahre kämpfte er an der Westfront. Wilhelm II. verlieh dem 23jährigen Leutnant d. Res. den Pour le Mérite. Hindenburg knurrte. Eine so hohe Auszeichnung sei gefährlich bei so jungen Leuten.

Bei den Vorgesetzten war Jünger dafür bekannt, daß er sein Bestes in scheinbar ausweglosen Situationen gab. Ein solches Ausharren ist der Untergrund seiner Bücher. Auch der Beter Jünger (mit und ohne Asbesthelm) scheint noch eine verlorene Bastion zu verteidigen.

Den »Stahlgewittern« folgte 1922 »Der Kampf als inneres Erlebnis«, Ernst Jüngers Tribut an den literarischen Expressionismus. Zwei mikroskopische Vergrößerungen aus den Kriegstagebüchern folgten: »Feuer und Blut«. »Das Wäldchen 125«.

Jünger tat damals noch Dienst bei der Reichswehr. Seeckt hatte ihn nach Berlin gerufen, ins Ministerium, zur Mitarbeit an den neuen Heeresdienstvorschriften. Das Kasernenleben behagte Jünger nicht. 1923 zog er, nach Differenzen mit Vorgesetzten, den grauen Rock aus. Er ließ sich in Leipzig immatrikulieren.

Die Zeitschriften, für die er in den folgenden Jahren Beiträge vorwiegend kritischer Art schrieb, bemühten sich, meist in scharfer Opposition zur Weimarer Republik, um eine höhere Synthese von Nationalismus und Sozialismus. Ebenso deutlich setzte man sich von den Massenbewegungen des Kommunismus und Nationalsozialismus ab. Die Theoreme spann man aus, aber auf höherer Ebene, der vulgären Praxis ging man aus dem Wege.

Aehnlich operierten die Leute des »Widerstands« um Ernst Niekisch, die im bürgerlichen Lager als Nationalbolschewisten verschrien waren. Ihnen hat Jünger mit seiner »Totalen Mobilmachung« das Stichwort und mit seinem Buch »Der Arbeiter« 1932 eine Art Manifest geliefert, einen Ueber-Zarathustra.

Im »Arbeiter« wird die Abkehr von den Wertungen des Individualismus zu den neuen Wertungen des »Typus« verklärt. Der neue Mensch, der Mensch nicht der Individualität, sondern des Typus, der »Arbeiter« ist ersetzbar, er ist auf Ordnung und Unterordnung angewiesen. »Der Typus kennt keine Diktatur, weil Freiheit und Gehorsam für ihn identisch sind.«

Der kultische Rang dieser »Arbeit« und dieser »Arbeiter« kommt nach Jünger im namenlosen Soldaten zum Ausdruck. »Der Weltkrieg ist als ein Werkvorgang zu betrachten, bei dem die Nation in der Rolle der Arbeitsgröße erscheint.«

»Eine zynische Vision des totalen Staates«, sagte die damalige Kritik, »ein schreckliches Buch«, eine »Verwechslung von Soziologie und Metaphysik«. Die »Züricher Weltwoche« schrieb, man habe bei der Lektüre »das Gefühl, das einen Mann beim Anblick in die Flamme befallen mag, die sein Haus verzehrt«.

Die Brandstifter, die Kommunisten wie die Nationalsozialisten, bemächtigten sich des Buches denn auch mit Leidenschaft. Karl Radek versuchte, seine KPD-Freunde zu überzeugen, daß die Gewinnung des Ernst Jünger mehr wert sei als alle neuen Wählerstimmen zusammen. Der »Arbeiter« wurde als das »Hohelied der Sowjetunion« reklamiert. Wenige Jahre später stand der nachtschwarze Leinenband auf den Bücherregalen der Ordensburgen Sonthofen und Vogelsang.

Daß Ideologen zweifelhaftester Ueberzeugungen sich auf ihn berufen ist Ernst Jünger gewohnt. Er selbst hat seine Bücher mit jenen Kristallen verglichen, die nur von einer Seite durchsichtig sind.

Daß seine Texte die gegensätzlichsten Auslegungen gestatten, weil unter dem geschliffenen Eis seiner Diktion verschwommene Bilder treiben, rechnet er sich nicht zur Sünde an. Nachdem das, was er als Seher verkündet und verklärt hat, in Otto Ohlendorf, in Stachanow, in Adolf Hennecke Gestalt angenommen hat, sagt Jünger (in »Strahlungen"): »Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein. Man kann jedoch das Barometer nicht für die Taifune büßen lassen, wenn man nicht zu den Primitiven zählen will.«

Hier wird klar, was »Ruf«-Gründer Alfred Andersch meint, wenn er den Autor des »Arbeiter« jenen Leuten zurechnet, die Jünger selbst als den »sehr gefährlichen Schlag der konkreten Träumer« abgestempelt hat.

Am 15. Juli 1946 stellte Ernst Jünger in einem »Brief an meine Freunde« fest, daß er nicht zu den Leuten gehöre, die nicht an ihre Vergangenheit erinnert werden wollen. Dieser Brief ging geschrieben, getippt, hektografiert, gedruckt in den ersten Nachkriegsmonaten durch viele Hände, zusammen mit dem Traktat »Der Friede«.

»Wir haben die Opfer dieses Krieges angeschaut. Zu ihrem dunklen Zuge stellten alle Völker ihr Kontingent. Sie alle nahmen an den Leiden teil und daher muß auch ihnen allen der Friede Frucht bringen.«

Dies der Grundgedanke der Jüngerschen Friedensschrift. Es war eigentlich kaum ein Gedanke, sondern ein frommer Wunsch. »Möglich, daß ich den Blick an einen jener Sterne knüpfte, die man im Leben nicht erreicht«, gibt Jünger im Vorwort der »Strahlungen« zu.

»Der Friede«, »gewissermaßen als 'Übung in der Gerechtigkeit'« geschrieben, löste Ende 1945 eine Pressekampagne um den »Fall Jünger« aus. Gegner warfen ihm vor, er versuche, die deutsche Kriegsschuld zu verschleiern. Ausgerechnet er, der Schrittmacher des Krieges und des Nationalsozialismus, wolle sich mit den Siegern anbiedern.

Eifrige Novizen der zweiten deutschen Republik ließen am Autor der »Stahlgewitter« kein gutes Haar. Vernehmlich tönte es von Osten: »Dieser feine Schreiber mit der lanzettenartig geschliffenen Feder, dieser bedenkenlose Alchimist, der mit kühlen Tränklein eine Berserkerwut zu entfesseln suchte, ist einer der deutschen Hauptkriegsschuldigen.«

So Karl Schnog im »Ulenspiegel«, und die »Tägliche Rundschau« sprach von Jünger als einem Verherrlicher der Gewalt und Barbarei. Seine Schriften seien die Inkarnation des Kriegerischen schlechthin, er habe den Krieger als Existenzform erfunden. Jung-Professor Wolfgang Harich stieß mit ins Horn.

Ernst Jünger hat zu allem geschwiegen. Einen Fragebogen der Militär-Regierung hat er bis heute nicht ausgefüllt. Er weigerte sich auch, einen Spruchkammerbescheid zu beantragen, weil er nie der NSDAP angehört hat. Und »Der Friede« war nicht »eine Frucht der Niederlage«. Seine Planung fällt in das Jahr 1942 und, wie Jünger erwähnt, »zusammen mit der größten Ausdehnung der deutschen Front«.

Am 5. Januar 1942 trägt Jünger in sein Erstes Pariser Tagebuch ein: »... Papier erstanden für das Friedensmanuskript. Begonnen mit dem Grundrisse. Auch den Tresor auf Sicherheit geprüft. Das sind Ordnungsversuche zwischen Klippen und Haifischen.«

Damals tat Jünger als Hauptmann zbV Dienst in einem Pariser Kommandostab. Major war er nicht mehr geworden, weil er seine Truppe das verpönte Lied »War einst ein Polenmädchen« hatte singen lassen. Es ist für ihn ein wehmütig-trutziges Leib- und Magenlied geworden, hauptsächlich zum Weine zu singen.

In den »Strahlungen« nennt Jünger seine Bücher über den ersten Weltkrieg, den Arbeiter, die Totale Mobilmachung sein Altes Testament und »die Veränderung gründlich«. Und: »Es ist richtig, daß viele meiner Ansichten und insbesondere meine Wertung des Krieges und auch des Christentums und seiner Dauer sich änderten.«

Die Kritik stellte fest, daß in »Strahlungen« »die Tugend der Demut wieder an ihren metaphysisch begründeten Ort rückt«. Das sei großartig. Aber daß zu solcher Erfahrung zwölf Jahre Terror, »auf unsere Kosten«, notwendig gewesen seien, das sei, bei Gott, ein wenig unverständlich.

So schrieb Albert Schulze-Vellingshausen, der sich für seine Rezension Narrenfreiheit ausgebeten hatte. »Da dürfte ich also sagen: der Kerl ist weich geworden.«

Ein paar bessere Zensuren, namentlich in Nebenfächern, austeilend, im übrigen scharf wie Haifischzähne handhabte Peter de Mendelssohn im »Monat« den Bleistift des Merkers, in einem »Tagebuch zu Ernst Jüngers Tagebuch": »Gegenstrahlungen«.

Das Fazit: Der Gott in den »Strahlungen« sei »kein anderer denn der Gott der 'Stahlgewitter'«, eine militärische Größe«. Dadurch fühlt Mendelssohn sich fast versöhnt, denn es zeige ihm, »daß die Haut den Mann nicht heraus läßt, so dringlich er aus ihr herausschlüpfen möchte«.

Es sei Jüngers Tragik, sagten gemäßigte Kritiker, daß man ihn, der ähnlich wie Macchiavelli nur Deskriptor sein wollte, als Präzeptor mißverstanden habe. Hier seien Erkenntnisse unversehens und ungewollt in magische Formeln umgeschlagen. Jünger teilte das Schicksal von Goethes Zauberlehrling.

Heinrich von Trott zu Solz, ein alter politischer Gegner, brach für Jünger eine ritterliche, wenn auch ein wenig stumpfe Lanze:

»Ich spreche jedem das Recht ab, Jünger einen 'faschistischen Literaten' zu nennen, der nicht konkret und im einzelnen beweisen kann, was er selber getan hat, um Hitler zu stürzen. Es ist billig, sich nachträglich ein Alibi zu beschaffen, indem man andere, die hervorgetreten sind und nicht geschwiegen haben, als Faschisten beschimpft. Wer so handelt, beweist, daß er nicht zu den Kreisen gehört, die in der Feigheit und Niedertracht des Dritten Reiches die 'Marmorklippen' aufgenommen haben wie einen Regen in der Wüste.«

In diesem schmalen Band in weinrotem Leinen brauchte man 1939 nicht zwischen den Zeilen zu lesen, um ihn als Kampfansage gegen die Diktatur zu begreifen. Reichsleiter Bouhler schrieb an Hitler, Reichs-Philosoph Bäumler drohte dem Verleger.

Die rätselvollen Figuren und Geschehnisse des merkwürdigen Buches fanden mannigfaltige, oft abstruse Deutungen. Der »Oberförster«, der aus seinen Wäldern die alte, blühende Kultur der »Marina« mit Vernichtung bedroht, identifizierte man bald mit Himmler, bald mit Göring, bald mit Hitler. Jünger schwieg sphinxhaft.

»Der Genius Deutschlands hat begonnen, sich selbst wiederzufinden, angesichts der Katastrophe - das macht Jüngers Buch zu einem Meisterwerk der Weltliteratur«, schrieb die englische Literaturzeitschrift »19th Century and After«.

Es war nicht das erstemal, daß Jünger den Braunen unangenehm auffiel. Schon 1927 hatte er sich von Hitler, der ihn gern als Hofpoeten in seine Dienste genommen hätte, distanziert. Er schlug ein NSDAP-Reichstagsmandat aus. Er lehnte auch eine Berufung in die Dichter-Akademie ab. Dem »Völkischen Beobachter« verbot er, seine Bücher abzudrucken.

Prompt folgte die erste Haussuchung. Als der Niekisch-Kreis, der getarnt nach 1933 weiterbestanden hatte, 1937 aufflog, blieb Jünger dank der Fürsprache hoher Offiziere in Freiheit. Seine Wohnung wurde viele Wochen hindurch überwacht.

Später hatte Jünger einen besonderen Strauß mit »Grandgoschier«, wie Goebbels in den »Strahlungen« heißt. Wegen einer Stelle in »Gärten und Straßen«, dem Tagebuch von 1940. Dort heißt es unterm 29. März: »Dann zog ich mich an und las am offenen Fenster den 73. Psalm.«

Es dauerte ein Jahr, bis im Pro-Mi jemand Zeit fand, die Bibelstelle nachzuschlagen und zu lesen: »Denn es verdroß mich der Ruhmredigen, da ich sah, daß es den Gottlosen so wohl ging.« Und: »Darum fällt ihnen ihr Pöbel zu und laufen ihnen zu mit Haufen wie Wasser.«

Goebbels verlangte, daß Jünger die Stelle in der nächsten Auflage strich. Jünger lehnte ab. Das Buch wurde verboten.

Daß die »Marmorklippen« ein Buch des Widerstandes seien, lehnt Jünger heute schroff ab. Wohl aber wurde »Der Friede« Marschall Rommel zugeleitet, wenige Tage bevor er sein Ultimatum an Hitler sandte. Nach dem 20. Juli bewahrten Jünger seine Freunde vor der Verhaftung.

Den »Frieden« hat Ernst Jünger nachträglich seinem Sohn Ernstel gewidmet, der als Marinehelfer wegen »Zersetzung der Wehrkraft« verurteilt, dann zu Frontbewährung begnadigt wurde. Ernstel Jünger fiel 1944. 18 Jahre alt.

Er starb in den Marmorbrüchen von Carrara, dem Idealbild der »Marmorklippen« »Ein quälender, orakelhafter Zusammenhang, mit dem Ernst Jünger sich nicht abzufinden vermocht hat«, schrieb der Franzose D. Raguenet, der bald nach Kriegsende in Kirchhorst zu Besuch war.

Es gibt viel Besuch im Hause Jünger. Sieben Verehrerinnen und zweieinhalb Journalisten sind in letzter Zeit der tägliche Durchschnitt. Unbekümmert plaudernde Gäste sind dem Hausherrn lieber als die ehrfürchtigen Schweiger. Langatmige Monologe sind seine Sache nicht.

Zuweilen werden Besuchern die Handschriften der Jüngerschen Bücher gezeigt, Manuskripte in sehr zierlicher, fast kalligraphischer Schrift. Das der »Marmorklippen« ist in kostbarer, in Paris gefertigter goldgeprägter Lederkassette verwahrt.

Unbekannten begegnet Ernst Jünger höflich und reserviert. Der mittelgroße, fast schmächtige Mann in Knickerbockern und buntkarriertem Sporthemd entspricht nicht unbedingt ihren Vorstellungen von einem berühmten Mann.

Andere erfahren, wie Jünger im Gespräch auftaut. Das kann oft sehr schnell gehen. »Erstens hat es mit dem Wetter zu tun, und zweitens kommt es darauf an, ob sie ihm gefallen oder nicht«, kommentiert Dr. Mohler, der wie die Post auch die Besucher vorsortiert. Jünger, nervös, hochsensibel, ist überaus empfindlich gegen Zugluft, grelles Licht, vor allem gegen Radiogeräusche. Der Föhn macht ihm im Alpenvorland zu schaffen.

Ist Jünger guter Dinge, so zeigt er dem Besuch gern seine Käfersammlung. Letzter Stand: 30000 Exemplare. Mit seiner hellen, scharfen Stimme gibt er Erläuterungen. Wenigstens in der Stimmlage hat er es bis zum Major gebracht.

Entomologen schätzen Jüngers Urteil. Hin und wieder schreibt er kleine Aufsätze in Fachblättern, und zu einer Käferkunde, die sein zweiter Verleger Vittorio Klostermann unlängst herausbrachte, steuerte er ein Vorwort bei. Verfasser ist Albert Horion, katholischer Pfarrer in Ueberlingen. Mit ihm geht Jünger gern auf »subtile Jagd«.

Die Insektenbelustigungen pflegt Jünger als eine »hoffmanneske Ecke meiner Welt« zu bezeichnen.

»Als Abweg aber kann ich das nicht sehen. Es ist das gleiche wie mit meinen Träumen - ich entferne mich da nicht aus meiner Sphäre, sondern ich vertiefe und erweitere sie.«

Philosophie und Zoologie waren Jüngers Hauptstudienfächer in Leipzig. Doch nach einem genußreichen Intermezzo in Professor Dohrns Aquarien in Neapel, ließ Jünger von der hauptamtlich betriebenen Wissenschaft ab, er ließ sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder.

Die naturwissenschaftlichen Studien fanden ihren ersten literarischen Niederschlag in einem ungewöhnlichen Buch, das damals, als Frucht der neugewonnenen Freiheit, langsam heranreifte, unter dem Titel: »Das abenteuerliche Herz.«

Es enthält »Aufzeichnungen bei Tag und Nacht« oder auch »Figuren und Capriccios«, wie auf dem Vorsatzblatt der zweiten Fassung von 1938 zu lesen ist: Strandstücke und Flugträume, Anmerkungen zum Raskolnikow, zu Don Quijote und Tristram Shandy, Frutti di mare, Historia in nuce, Fliegende Fische, Violette Endivien und Die Tigerlilie, Betrachtungen über die Aprikose und über Grausame Bücher, Blaue Nattern und Das Lied der Maschine.

»Mit alle diesem ist der sehr einfache Vorgang verbunden, den ich das Erstaunen nenne, jene Innigkeit im Aufnehmen der Welt und die große Lust, nach ihr zu greifen wie ein Kind, das eine gläserne Kugel sieht.«

»Es ist das Kennzeichen der Geister erster Ordnung, daß sie im Besitze des Hauptschlüssels sind. So dringen sie, wie Paracelsus mit der Springwurzel begabt, mühelos in die speziellen Kammern ein, sehr zum Aerger der Leute vom Fach, die ihre Registraturen mit einem Schlage außer Kraft gesetzt sehen.«

Das waren Sätze, die bei der Lesergemeinde des Kriegsdichters Kopfschütteln hervorriefen. Der schreibende Soldat war über Nacht zum Schriftsteller geworden, zu einem, der seine nicht geringe Selbsteinschätzung nicht unbedingt unter den Scheffel stellt.

Sehr angetan waren die Sprachkritiker:

»Ernst Jünger gehört zu denen, die unsere ungelenke Sprache zwingen und sie zur Wiedergabe feinster, abstrakter Denkfiguren und plastischer Bilder zu benutzen verstehen. In seinem Buche herrschen die Windstille der Einsamkeit und die Schmiedeglut des Denkens.«

Jünger vermag über das Wörtchen »so« und seine beiden Buchstaben zeilenlang Betrachtungen anzustellen. Soviel Meditationsbeflissenheit, hier und anderwärts, aber auch die anspruchsvolle Selbstbetrachtung ist für viele Jünger-Leser oder solche, die es zu werden versuchen, ein Knüppel zwischen die Beine.

»Das abenteuerliche Herz« ist Ernst Jüngers großes Traumbuch. Trotz »Heliopolis«, in dem er schon jahrelang Nacht für Nacht spazieren geht. Den Träumen sind von 24 Stunden zehn vorbehalten, die Nachtseite des Jüngerschen Tagespensums: »Ich arbeite 24 Stunden«, pflegt Jünger denen zu antworten, die auf seine Passion fürs Schlafen anspielen. Von 440 Heliopolis-Seiten sind mindestens 220 aufs Nachtkonto zu setzen.

Tagsüber arbeitet Ernst Jünger gern im Garten. Geist und Körper, meint er, müßten sich gegenseitig aufziehen. Bei ihm habe sich das ganz schön eingependelt.

Adlatus im Garten ist Filius Alexander. Der geht noch zur Schule und wird vom Vater regelmäßig in der sachgerechten Führung eines Tagebuches unterwiesen.

Manchmal fährt er mit dem Autobus in die Alpen auf Kräutersuche. Oder er nimmt, ist das Wetter schön, eine Aktentasche voll Lektüre unter den Arm und ergeht sich in den Anlagen. Nur selten drehen sich Ravensburger Bürger nach ihm um. Ist das Wetter schlecht, geht Jünger auch schon mal ins Kino. »Fabiola« hat ihm nicht gefallen.

Nicht selten unternehmen Jüngers einen Tagesausflug nach Ueberlingen zu Bruder Friedrich Georg, Dr. jur. und Lyriker und Denker dazu. »F. G.« ist jedem Jünger-Leser vertraut. Das Verhältnis der beiden Brüder zueinander ist sehr herzlich: sie sind nebeneinander aufgewachsen, haben im gleichen Regiment gedient, haben zusammen die halbe Welt bereist. Sie fachsimpeln häufig in Pflanzen und Käfern. Ein Gemälde von A. Paul Weber zeigt sie beim Schachspiel.

Zum Bodensee bringt Ernst Jünger gern bevorzugte Gäste mit. Dazu gehören zwei Professoren der Rechte, der bedeutende Staatsrechtler Carl Schmitt der eine, Carlo Schmid der andere. Mit SPD's Falstaff stößt Ernst Jünger gern an.

Zu den Stammgästen gehört Dr. Gerhard Nebel aus Wuppertal, Altphilologe, Essayist, Fischfreund und Afrikareisender. Den braucht »Capitano« Jünger als Katalysator, wenn Neues im Werden ist. »Capitanello« ist mit Dionysos auf »Du«. Wenn Nebel zu Besuch da ist, dann hallen die Berge wieder von Capitanellos mächtigem Gesang.

Einen »glänzenden Geist« hat der Capitano ihn in den »Strahlungen« genannt. Gerhard Nebel interpretierte 1939 in seinem Buch »Feuer und Wasser« Ernst Jüngers kriegerischen Nihilismus, seine Theologie des Abenteurers und seine Moral des Schmerzes als Erscheinungen ein und derselben elementaren Sehnsucht nach ungebrochener Seinsfülle, als Vorstufen zur Begegnung mit dem Göttlichen. Für diese These fand Nebel in den »Strahlungen« die schlüssigsten Beweise.

Auf ein Damaskus, meint Nebel, werde man bei Jünger allerdings vergeblich warten. »Ich muß Gott erst beweisen, ehe ich an ihn glaube, den Weg zurückgehen, auf dem ich ihn verließ«, heißt es in den »Strahlungen«. Das »abenteuerliche Herz« wird sich niemals in der Gewißheit eines Dogmas beruhigen.

Aber das abenteuerliche Herz mochte jetzt vor Anker gehen. Wenn nicht im Dogma, dann wenigstens im Mythos: »Der Schmerz erhöht uns in anderen Regionen, im wahren Vaterland. Es wird uns dort nichts schaden, wenn wir hier in aussichtsloser Lage und auf verlorenem Posten Dienst taten.« Hier ist kein Raum mehr für ein Damaskus.

Von Gerhard Nebels zwei Bänden italienischer Kriegserinnerungen kam jetzt der erste heraus: »Auf Ausonischer Erde«, im Wuppertaler Marees-Verlag. Den hat sich Peter de Mendelssohn mit der vehementen Contra-Ernst-Jünger-Feder vorgenommen, unter der Ueberschrift »Der Sphinxblick des Capitano«.

Nebel wird, wo »in ihm ein eigener Kerl lebendig« ist, wohlwollend betrachtet, aber Mendelssohn sieht »das stilisierte Götzenbild des Capitano fast überall« durchscheinen. Und es »verbreitet eine eisige Kälte, wann immer sein starrer Blick einen trifft«.

Jüngers literarische Pläne liegen vorläufig noch im Dunkeln. Nach dem Erscheinen seiner bisher umfangreichsten Bücher, legte er eine Pause ein. An kleineren Arbeiten ist ein Aufsatz über den Nihilismus um Werden, ein schon lange gehegtes Projekt, das jetzt als Beitrag zur Festschrift für Martin Heidegger verwirklicht werden soll.**)

Ferner sind zwei Erzählungen und eine »Farbenlehre« geplant. Auch die Briefe sollen gesammelt werden, in einem Brief-Journal, das der Reutlinger Reichl-Verlag herausgeben will.

Den umfangreichen Briefwechsel inspiriert mit zärtlichem Miauen Prinzessin Li-Ping aus Siam, das einzige weibliche Wesen, das den Schreibtisch berühren und sogar betreten darf. An dem äußersten Bücherstapel rechts streicht die exotische Dame mit krummem Rücken vorbei. Obenauf liegt ein blankes feldgraues Heftchen mit der Aufschrift: »Wehrpaß«.

*) Dazu gehört, jeden Donnerstag früh den »SPIEGEL« links neben die Schreibmappe zu legen. Ernst Jünger bestellte den »SPIEGEL« einst in Kirchhorst »für die 15 Flüchtlinge bei mir zu Hause«. In »Heliopolis« hat er den »SPIEGEL« literaturfähig gemacht: Seite 260, Zeile 9, anläßlich eines Attentats auf Messer Grande: »Nach fünfzig Minuten brachte der »Spiegel« die ersten Berichte mit dem Nekrolog 'Er gab sein Herzblut'. Trotz aller Routine dieser Herren schien das nur möglich, wenn auch für den Fall des Attentates eine Version im Satz gewesen war.« **) Als Friedrich Georg Jünger seinem Bruder vor Jahresfrist erklären wollte, was Existenzialismus sei, sagte Ernst: »Ach laß, ich fahre mal zu Heidegger und gehe einen Vormittag mit ihm spazieren.«

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