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FILM Der TV-Parsifal

»Willkommen, Mr. Chance«. Spielfilm von Hal Ashby. USA 1979. Farbe. 125 Minuten.
aus DER SPIEGEL 39/1980

Mr. Chance ist ein Parsifal im heutigen Washington. Schlichter ausgedrückt: Er ist der perfekt abgerichtete Idiot des TV-Zeitalters, ein mittels Fernbedienung total verkabelter Zuschauer, der die Kanäle nicht voll genug kriegen kann und Entzugserscheinungen hat, wenn er auch nur eine Weile um Bild und Ton gebracht wird.

Dieser Bildschirm-Krüppel, der am Fernsehen saugt wie ein süchtiges Baby am Schnuller, lebt als hochherrschaftlicher Gärtner abgeschirmt von der Außenwelt zwischen Bett, Beeten und TV-Gerät. Sein Essen wird ihm regelmäßig hingeschoben; ansonsten gießt er die Blumen und beackert die Fernsehprogramme.

Als sein Herr stirbt und er jäh von Haus, Garten und Farbfernseher vertrieben wird, lernt er zum erstenmal die reale Außenwelt kennen. Sie ist so ganz anders, als es ihn die bunten Bildchen träumen ließen.

Die Gegend, in die er kommt, ist längst verslumt, mit Autowracks übersät -- ein einziger Müllhaufen, aus dem der weiße Mittelstand fluchtartig weggezogen ist. Mr. Chance flimmert es vor lauter Realität vor den Augen. Angesichts der scheußlichen Verstörungen drückt er auf seine Fernbedienung und versucht vergeblich, ein anderes Programm einzuschalten.

Der Peter-Sellers-Film »Willkommen, Mr. Chance«, nach dem satirischen Roman von Jerzy Kosinski gedreht, ist eine böse Parabel auf den vom vielen Glotzen erblindeten Amerikaner, dem vor lauter Hören und Sehen das Leben vergangen ist.

Doch Mr. Chance, dem das Leben für Werbespots und Serien-Häppchen abhanden gekommen ist und der eher mit einer Yoga-Lektion auf dem Bildschirm als mit einem Mitmenschen kommunizieren kann, ist gleichzeitig eine Herausforderung für das Politleben Washingtons.

Da er, nach Jahrzehnten zum erstenmal ungeschützt der Wirklichkeit ausgesetzt, von einer Edelkarosse leicht angefahren wird, landet er zur medizinischen Betreuung in dem Haus eines Washingtoner Wirtschafts-Tycoons.

In dem gewaltigen Haus des kranken Superreichen, der mit ständigen Bluttransfusionen so weit am Leben gehalten wird, daß er den Börsenkursen noch aktiv handelnd folgen kann (ein Wirtschaftswunder der mondänen Medizin), erscheinen die fernsehverblendeten Dummheiten des reinen Toren als weltabgeklärte Weisheit.

Der US-Präsident, eine Mischung aus Carterscher Unschuld und Nixons Verschwörungen witterndem Mißtrauen, kommt Rat heischend in die Villa und trifft auf den Gärtner, der ein paar Sprüche aus dem grünen Kalender absondert.

Dem Präsidenten erscheinen die Sprüche ("Auf den Frühling folgt der Sommer, dann der Herbst und der Winter") als kluge wirtschaftliche Maßhalteappelle, und er plappert sie, ganz weiser Staatsmann, im Fernsehen als Rede an die Nation nach.

Mr. Gärtner avanciert zum Wirtschaftsweisen, dem sich der Geheimdienst an die Fersen heftet und dem bald ganz Washington, inklusive des russischen Botschafters, zu Füßen liegt.

Seine treuherzigen Bekenntnisse, daß er weder lesen noch schreiben könne, werden von der versnobten Washingtoner Polit-Society zungenschnalzend als Bonmots genossen und weiterkolportiert.

Und im Hause des auf medizinisches Eis gelegten Wirtschaftskapitäns bietet ihm dessen Frau sich als erotisches Brachland für die gärtnerische Pflege an. Und es verdrießt die (im Spiel Shirley MacLaines) hinreißend aus ihrem Frust aufblühende Gattin keineswegs, daß der vom Schauen Verwöhnte sich auch hier weitgehend voyeuristisch begnügt:

Schon das bißchen Aufmerksamkeit genügt in dieser Welt des perfekten Ersatzes, in der Ärzte Leben vorgaukeln, Geheimdienstgschaftlhubereien politische Aktivitäten vortäuschen und vor der Kamera geklopfte Sprüche präsidiales Handeln substituieren.

Die leblose Abgeklärtheit des Mr. Chance wirkt in der Scheinwelt des regierungsamtlichen Washington wie eine unerwartete Vitalitätsspritze:

Mr. Chance bringt durch seine Feld- und Gartensprüche die Regierungskunst des Präsidenten durcheinander, dessen Geheimdienste verzweifelt die Identität des Unbekannten aufzudecken suchen.

Schließlich wird er, wider Willen, zum Gegenkandidaten aufgebaut. Der Präsident (von Jack Warden als rosig infantiles Monster gespielt) verfällt in panische Nervosität, kann die sexuellen Anforderungen, die seine Gattin an sein Amt stellt, nicht mehr erfüllen und knickt auch in seinem politischen Ansehen ein.

Am Ende, am Sarge seines millionenschweren Förderers, ist Chance auf dem Wege, den Präsidenten endgültig aus dem Felde zu schlagen. Es nimmt nicht wunder, daß er jetzt sogar mit traumwandlerischer Sicherheit über das Wasser schreiten kann.

Dem Regisseur Hal Ashby ("Harold und Maude«, »Shampoo") ist mit der zynischen Parabel ein boshaft genauer Film gelungen, der politisches Imponiergehabe und wichtigtuerischen Smalltalk wirksam mit der Weltentrücktheit eines durch die Medien narkotisierten Bürgers konfrontiert.

Der Film führt eine schier totale Veräußerung und Veräußerlichung des politischen Lebens vor; wenn er beispielsweise zeigt, wie Mr. Präsident einen Besuch abstattet. Da durchwühlen vorsorgliche Geheimdienstler gründlich das Haus, die Wagenkolonne fährt mit viel Blaulicht und Trara ein.

Aber der große Bahnhof der Auf- und Abfahrt umrahmt ein kleines nichtiges Gespräch, das über den Austausch S.259 der abgegriffensten Höflichkeitsfloskeln nicht hinauskommt.

»Willkommen, Mr. Chance« ist der letzte Film von Peter Sellers geworden. Sein kindlich-kindischer Gärtner steckt in einer, wenn das Paradox erlaubt ist, empfindsamen Elefantenhaut und ist eine abstoßende und liebenswerte Figur zugleich -- jemand, der vor lauter Schaulust jegliche Lebensregung verloren hat.

Die tonlose Lebendigkeit, die abgestorbene Vitalität, die Sellers dieser Rolle zufügt, wird jedem Zuschauer lange im Gedächtnis bleiben: Als die schaurig komische Version eines Menschen, der alles vermag, weil er nichts mehr kann: der perfekt verkrüppelte Konsument des technischen Fortschritts.

Hellmuth Karasek

S.257Mit Shirley MacLaine und Peter Sellers.*

Hellmuth Karasek

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