Der unheimliche Ort Berlin
Das Kottbusser Tor ist kein Ort, an dem die Leute in Übergangsmänteln herumlaufen, wenn der Winter vorbei ist. Das bißchen Sonne im April legte gleich die Oberarmtätowierungen der Punker frei. Die türkischen Männer hielten nicht mehr frierend das Jackett vor der Brust zusammen und gingen wieder aufrecht. Die Wärme hatte jedes Verhalten gelockert. Die Punker kippten die Bierdosen in ihre struppigen Köpfe hinein, bespritzten einander und bewarfen sich mit Schaum. Sie tänzelten um ein kopulierendes Hundepaar, das unsicher auf sechs Pfoten stand und dabei dreist zu lächeln schien. Keine besonderen Vorkommnisse, keine schockierten Personen, um den Milieudarstellern den Genuß noch zu erhöhen, eher ein schräger Frieden, der sich sogar auf die lauernde Anwesenheit des Polizeiautos legte. Zum Bürgersteig hin waren seine Türen geöffnet, als würde ein dunkler Stall gelüftet.
Um 17.30 Uhr ist in der Oranienstraße/Ecke Heinrichplatz kein Durchkommen mehr. Auf beiden Bürgersteigen engstehende Menschen wie ''63 vorm »Kranzler« in Erwartung Kennedys. Der Örtlichkeit Kreuzberg entsprechend, sind es fast nur Türken und die kugelköpfigen Knaben. Aus dem vierten Stock der Nummer 19 hat sich ein Mann gestürzt. Er liegt unter einer weißen Plane neben einer Baukarre. Die Sohlen seiner nicht ganz bedeckten Schuhe zeigen mit den Spitzen zueinander, und die Absätze sind so gewaltsam flach nach außen gedrückt, als gebe es eine Symmetrie des Aufpralls. Nur ein Polizist ist zur Stelle. Wenn er mit ausgebreiteten Armen die Nachdrängenden aufhalten will, wendet er das Wort »bitte« als eine dem Anlaß zukommende Befehlsform an. Eine Gruppe von Punkern überzeugt ihn, den Toten gekannt zu haben, mit ihm eng gewesen zu sein. Er läßt sie zum Tatort durch, was sich zu einem obszönen Privileg auswächst.
Alle Augen sind jetzt auf sie gerichtet. Der Umstand, den Mittelpunkt zu bilden, fordert ihnen eine Aufführung ab. Einer schlägt schluchzend auf die Kühlerhaube eines Autos ein. Sie lassen eine Weinflasche kreisen, aus der sie mit hart in den Nacken gelegten Köpfen trinken. Sie fallen sich in die Arme, lachen, weinen und torkeln. Da es sich um Auswüchse von Trauer zu handeln scheint, fehlt dem Polizisten jede Handhabe, dem Geschehen eine Manierlichkeit zu sichern.
Aus der anfangs starren Menge sind inzwischen Schaulustige geworden. Die polizeilich geduldete Nähe der Punker zu dem Selbstmörder muß eine Entsprechung in dessen eben beendetem Leben haben. Das Fenster, aus dem er sprang, wirkt nicht, als habe er ein behagliches Zuhause verlassen. Er muß direkt am Schaufenster des türkischen Friseurs entlang gefallen sein. Daneben, auf der Tür des Haupteingangs, steht in gesprühter Schrift »Hoch hänge Reagan!« Erste Angaben zur Person des Toten kursieren: 18 sei er gewesen, weißblonde Irokesenbürste, Punker.
Mitten auf der Kreuzung Heinrichplatz/Oranienstraße steht ein grüngrauer, tresorhaft kompakter Lieferwagen, dessen
auffälliger Abstand zum Brennpunkt allen Interesses ihn gerade dadurch zugehörig macht. Daneben halten sich zwei Männer in weißen Jacken und weißen Hosen auf. Obwohl das Auto keine behördlichen Embleme trägt und äußerlich weder Herkunft noch Bestimmung preisgeben soll, wird seine Anwesenheit hier wie eine geläufige Pointe aufgenommen, die fast echolos wegsackt: Es ist der Transporter des Leichenschauhauses.
Die Menschen warten auf das Tätigwerden dieser weißen Männer, die endlich vor die Unglücksstelle fahren und beim Aussteigen schon Gummihandschuhe tragen. Über den abgedeckten Hügel breiten sie noch eine durchsichtige Folie, die sie unter der Leiche durchziehen und dann an beiden Enden zusammendrehen, was dem Bündel das Aussehen eines großen Bonbons gibt. Die betrunkenen Punker mißbilligen diesen Vorgang mit einem aufjubelnden Wehklagen. Den Zuschauern, die fast wütend vor Neugier sind, bleibt nur noch der Augenblick, in dem die Männer den Toten auf die Bahre heben, ohne ihn in die eigentlich geziemende Rückenlage zu bringen. Ein Skateboardfahrer in getigerter Trikothose, ein Hosenbein aufgeschlitzt und flatternd, nutzt für sich noch schnell das große Publikum und fährt enge, hart abgebremste Achterfiguren auf der gesperrten Straße.
Aus der Tiefe der zugerümpelten Höfe des Hauses Nummer 19 tritt ein Mann mit einem Eimer, aus dem er Erde auf den Bluthaufen neben der Baukarre streut. An Ort und Stelle wetteifern jetzt die intimsten Augenzeugen mit ihren Nacherzählungen. Der türkische Friseur spricht von dem rasenden Schatten, den er sah. Und in seinem grauen Kittel, mit den Armen einen Sturzflug nachvollziehend, sagt der türkische Gemüsehändler: »Es war ein Deutscher!«, was den Vorfall exotisch macht.
Kreuzberger Todesfälle. Am Ostermontag 1979, einem 16. April, sagte Ingrid Rogge zu ihrer Mutter: »Ich gehe in die Stadt.« Da Rogges am Rand der oberschwäbischen Stadt Saulgau wohnen, dachte die Mutter, sie gehe nur nach Saulgau rein, jemanden treffen. Doch Ingrid Rogge meinte Berlin, als sie Stadt sagte. Und der Mutter paßt diese vermiedene volle Wahrheit heute gut in die Erinnerung an die Tochter, die nie gelogen habe. Auch sei die Tochter damals ohne alles aufgebrochen, was ihre Auskunft, in die Stadt zu gehen, zwar noch täuschender machte, von der Mutter aber als eine den Trennungsschmerz hinauszögernde Diskretion begriffen wird. Und was die örtlichen Verhältnisse angeht, hätte das Mädchen die Bogenweiler Straße in Saulgau, diese stille Siedlungsstraße, an einem Feiertag gar nicht mit Gepäck entlanggehen können, ohne den nachforschenden Vorwitz der Anwohner auf sich zu ziehen.
Den Tag zuvor, Ostersonntag, hatten Herr und Frau Rogge mit der Tochter eine Autofahrt nach Adelsheim im Odenwald gemacht, wo ihr Sohn Dieter wegen Drogenmißbrauchs einsaß. Dieser Besuch wäre den Eltern der liebste Grund, warum danach auch die Tochter ausscherte. Nämlich nicht, um ihnen zusätzlich Kummer zu bereiten, vielmehr, um ihre ständige Bekümmertheit nicht weiter mitansehen zu müssen. Denn Dieter, der Bruder, war der bunte Hund von Saulgau, ein einbruchsversierter Beschaffer von Opiaten und anderem Zeug, womit für einen Fixer ein Suchtzustand zu überbrücken ist. Kein geplünderter Giftschrank im Umkreis, ohne daß es hieß: »Der Rogge war''s!«
In die Schwabenapotheke stieg er, wie ein Hochspringer auf dem Rücken liegend, durch ein kleines Loch im Oberlicht des Haupteingangs ein und zerschnitt sich dabei die Schultern. Diese artistische Leistung des Sohnes macht für die Mutter die Tat nicht kleiner, nur daß in ihrer mütterlichen Sicht seine Courage den kriminellen Vorgang nicht so trostlos niedrig erscheinen läßt. Für das Elternpaar Rogge war das Schlimmste immer wahrscheinlich; das sicher nie ausgesprochene, von beiden jeweils nur gedachte Schlimmste, weil ein Vater und eine Mutter verschieden strenge Hoffnungen hegen. Auch weil jeder den anderen glauben läßt, er nehme noch teil an diesem inneren Wettlauf für den guten Ausgang. Und immer kreisten die bösen Vorstellungen der Eltern nur um den Sohn, für dessen teure Sucht und deren unwägbare Folgekosten sie geradestehen mußten.
Sie zahlen, zahlen und zahlen in eine bodenlose Tiefe hinein. Der Lohn des Fernfahrers Dietrich Rogge und seiner Frau Annemarie, die Metzgereiverkäuferin war und um des höheren Verdienstes wegen Akkordarbeiterin in einer Möbelfabrik wurde, ist in Raten verplant, deren Gegenwert ihr Ansehen nicht erhöhen kann. In kleinstädtischer Überschaubarkeit lebend, jeden grüßend und in jedem entgegengenommenen Gruß einen atmosphärischen Widerhaken witternd, gabelt sich das Unglück der Rogges in ein Elternschicksal und in eine nach außen hin empfundene Schande.
Die Bogenweiler Straße in Saulgau ist mit ihren Reihenhäusern von sauberer und heller Eintönigkeit. Das ändert sich auch nicht in der Dahlienzeit, wenn es in den Gärten richtig glüht. Keine Natur wächst gegen einen Ordnungsanspruch an, der sich besenrein vor den Haustüren zeigt und dahinter von Staubsaugern, deren häufige Benutzung ihnen nichts mehr ins absuchende Maul gelangen läßt, eine aufgesträubte, fusselfreie Reinlichkeit schafft.
Nichts ist dieser Straße zu verübeln. Nur, daß es nachvollziehbar ist, sie hinter sich zu lassen, wenn einem das Leben in voller Länge noch bevorsteht. Wenn Zufriedenheit noch keine Tugend sein muß, nur weil daheim warmes Wasser aus dem
Hahn läuft und an dem schirmförmig aufgespannten Wäscheständer die T-Shirt-Parade trocknet.
Zwischen dem Ostermontag 1979, an dem Ingrid Rogge, damals 17 Jahre alt, die Bogenweiler Straße für ein aufregenderes Leben in Berlin verließ, und dem Tag, an dem ihre Eltern erfuhren, daß sie als Skelett in einer verschnürten Plastikplane auf einem Kreuzberger Hinterhofspeicher gefunden worden war, liegen sechs Jahre. Über diese ganze Zeit galt sie als vermißt.
Am 3. September 1985 erscheint Kriminaloberkommissar Müller aus Sigmaringen abends bei den Rogges und fragt zuerst ganz allgemein: »Wie geht es Ihnen?« Auf die Antwort der Frau Rogge: »Wie soll''s schon gehn«, stellt der Kommissar die Frage: »Sind Sie stark?« Das allerdings ist die fürchterlichste aller Fragen, eine Ouvertüre, nach der nur Unheil ausgebreitet wird; eine Stereotype von Todeskurieren, die jemandem die Nachricht von einem Schicksal beibringen müssen. »Also die Ingrid ist tot«, sagt der Kommissar, vor sechs Jahren schon zu Tode gekommen, vermutlich Ende Juni ''79. Der Schädel weise auf Gewalteinwirkung hin.
Vor ihrem Aufbruch nach Berlin arbeitete Ingrid Rogge in der elf Kilometer entfernten Ortschaft Altshausen bei der Firma Trigema. Sie war Rohnäherin in einer Gruppe von 60 Frauen. Das heißt, sie nähte auf einer Rohnähmaschine die Schultern zugeschnittener T-Shirts zusammen, der erste Arbeitsgang von einer Hand, bevor an jeweils anderen Maschinen gekettelt wird, die Bündchen und Ärmel angenäht sowie die Seitenteile zugenäht werden.
Jedesmal ein kurzes, kaum angesetztes und auch schon wieder beendetes hartes Surren unter dem rasenden Maschinenkopf, was keinen ohrenbetäubenden, wilden Lärm verursacht, sondern eher die feinere Tortur eines Zahnarztgeräusches. Dazu summieren sich die lauten Farben der Arbeitsobjekte. Alles, was vereinzelt vielleicht Laune machen kann, das Lila, das gemeine Türkis, das hundsgemeine Orange, das nervlich behelligende Maigrün, diese ganze nuancenlose Heiterkeit liegt in hohen Haufen als blindmachendes Dickicht vor den Maschinen.
In diesem Nähsaal voller Mädchen herrscht nicht die Ausgelassenheit einer zwitschernden Vogelhecke. So ein Nähsaal ist vielmehr eine Galeere, die zu ertragen jemand in den wirklich besten Jahren sein muß, wie Ingrid Rogge es war.
Die Gruppenleiterin erinnert sich nach sechs Jahren in einer pietätischen Freundlichkeit an eine allseits beliebte Person, die schnell konnte, was bei Trigema zu können ist, und der einmal nachgesehen wurde, daß sie in der Damentoilette einen Rausch ausschlief.
Einen Tag nach ihrem Verschwinden rief Ingrid Rogge bei Elli Gottler in Saulgau an. Frau Gottler ist eine enge Freundin der Rogges, die damals ihr Telephon abgemeldet hatten, um sich vor den Fern- und Auslandsgesprächen ihres Sohnes zu schützen, der, kaum auf Urlaub, gleich wieder in seinen Drogenkontakten zugange war. Ihrer herbeigerufenen Mutter sagte Ingrid Rogge: »Du, Mutti, ich bin jetzt in Berlin, und da bleib'' ich auch!«
Die Rogges sind ein mustergültiges Ehepaar. Er überläßt ihr das Reden, wobei er den Anschein erweckt, daß Schweigen Gold ist. Natürlich ist auch Müdigkeit dabei, das Unabänderliche immer wieder aufzurühren. Und so sitzt er, während sie erzählt, löwenschläfrig und hinnickend wie in einem Zugabteil, nur dabei. Und nach dem kalten Abendbrot, das sie mit gesundheitlichen Rücksichten sehr mäßig zu sich nehmen, geht er mit der Frau in die Küche, um ihr beim Abwaschen der beiden Resopalbrettchen zu helfen.
Ingrid Rogge wollte sicher dem Augenschein der Eltern entkommen. »Denn durch den Dieter«, sagt Frau Rogge »haben wir sie ja immer beschworen, uns keine Sorgen zu machen.« Ganz schnell hieß es: »Und jetzt du auch noch!« Ständig waren sie an ihr dran, schon beim Kleinsten. Dieses Eingeständnis klingt, als haben sie dadurch die Lunte gelegt fürs Verlassenwerden. Und wenn es der Mutter widerfährt zu erwähnen, nachts zum »Hirschen« nach Steinbronnen gefahren zu sein, um in dieser als Drogenspelunke reputierten Lokalität die Ingrid zu suchen, dann verwischt sie das Gesagte gleich wieder: »Eigentlich war die Ingrid problemlos.«
Rogges haben es gemütlich in ihren Wohnzimmertropen mit den gefirnißt blanken Philodendronblättern und ihren bürgermeisterhaft kolossalen Kleinmöbeln. Auf Anrichten und Regalen die rustikalen Preziosen, Deckelhumpen, Zinnbecher, Zinnteller, Landsknechte aus Zinn, Zierat auf brokatgefaßten Tischläufern; in einer Schale eine Ananas, die ihrer Schönheit wegen nicht gegessen wurde und schon vergoren riecht; auf dem Fernseher in galanter Zugewandtheit Pierrot und Columbine auf einem über Eck gelegten Deckchen, das in den Bildschirm überhängt. Gobelinbilder an den Wänden, Breughel-Sträuße, Schäferszenen.
Kurz nach der Todesnachricht, als die Zeitungen von dem »grausigen Fund« in Berlin berichtet hatten, kam der Pfarrer die Rogges besuchen. Auf das Skelett anspielend, fragte ihn Frau Rogge: »Aber da müssen doch noch Haare gewesen sein?« Worauf der Pfarrer sagte: »Nein, bei einem Skelett bleibt nichts, sonst hieße es mumifiziert.« Doch Frau Rogge insistierte: »Haare verwesen doch nicht!« Doch, habe der Pfarrer gesagt, bei einer gewissen Feuchtigkeit, gerade in einer Plastikplane, würde das Ganze kompostieren. Der Pfarrer ließ ein Erbauungsbüchlein da.
Wenn in einem Haus das Unglück nicht verjähren kann, weil es in immer neuen Schüben wieder einkehrt, dann setzt zu seiner Bewältigung eine Trainiertheit seiner Bewohner ein. Für zwei Ängste in dem Ausmaß, wie es die Rogges überkam, war kein Platz in ihnen. Ohne den Sohn mit seinem Heroin wäre die Katastrophe mit der Tochter viel fürchterlicher eingeschlagen.
Am 6. Juni 1979 fragte Ingrid Rogge in die Frühstücksrunde der sogenannten Lederetage, einer WG in der Kreuzberger Waldemarstraße 33, 3. Hinterhof, 3. Stock, ob jemand Bock habe, mit ihr nach Westdeutschland zu trampen. Der arbeitslose Kalle Hübing, der seinerzeit mal hier und mal dort übernachtete, dessen Anwesenheit bei diesem Frühstück purer Zufall war, dachte sich: »Ich hab'' eh nix zu tun, fährste mal mit.« Da die Frau zudem eine Schlafgelegenheit in Aussicht stellte, habe er nur noch seine Stulle zu Ende gegessen und sei mit ihr aufgebrochen.
Kalle Hübing wohnte eine Woche bei den Rogges in Saulgau und half dem Vater beim Tapezieren des Flurs. Selber aus unbehausten Verhältnissen vom Berliner Wedding stammend, genoß er die Tage in familiärer Obhut; die erste Wohltat dieser Art in seinem Leben. Dieses Erlebnis war ihm
ein schöner Naturvorgang, bei dem etwas so gehandhabt wurde, wie er es von zu Hause nicht kannte, nämlich nachgiebig beherrscht zu werden.
Kalle Hübing, der die Lebenskulisse der Ingrid Rogge als eine beneidenswerte Speckseite in Erinnerung hat, kann sich dagegen nicht entsinnen, ob Ingrid Rogge damals in der Lederetage der Waldemarstraße 33 eine Matratze zu liegen hatte, ob sie überhaupt da wohnte. In den fluktuierenden Verhältnissen dort, wo sich in den hinteren Fabriketagen zeitweilig hundertfünfzig bis zweihundert Personen aufhielten, sei das auch kein Fakt gewesen. Die Kripo habe ihn diesbezüglich nageln wollen, als 1985 die Suche nach dem Mörder der Ingrid Rogge losging. »Da trampst du mit ''ner Frau nach Westdeutschland und Jahre später so''n Ei.«
Als Kalle Hübing im Spätsommer 1979 aus Schwaben zurückkehrend »die Walde« besuchte, was bis heute das Synonym ist für den 3. Stock im 3. Hof der Waldemarstraße 33, fand er Ingrid Rogge nicht mehr vor.
Alles spricht dafür, daß Ingrid Rogge eine unangefochten sichere Plazierung bei ihren Eltern hatte, sonst wäre es ihr nach diesem ja doch verletzenden Verschwinden nicht in den Sinn gekommen, zu einer Stippvisite in Saulgau wieder aufzutauchen. Auch mit den Großeltern verband sie eine Innigkeit, die ihr unzerstörbar gewesen sein muß.
»Jetzt freue ich mich, daß du wiedergekommen bist«, sagte die Großmutter, »bleib jetzt, geh nimmer nach Berlin.« »Doch«, sagte die Enkelin, »ich bleib'' nicht hier, ich gehe wieder dahin!« »Guck Ingridle«, habe die Großmutter sie daraufhin beschworen, »jetzt warst du ja schon in Berlin, hast Berlin gesehen, bleib doch hier!«
Immer fällt »Berlin«, dieses unheimliche Wort für einen unheimlichen Ort, der wie das Fegefeuer durchlaufen werden muß, um danach Ruhe zu finden und Saulgau zu schätzen. Am 16. November 1981 suchte Ingrid Rogges Großvater, Max Hohl, den Pendler Friedrich Stroppel in Ulm-Wiblingen auf. Stroppel legte ein Photo der Gesuchten auf eine Weltkarte und ließ das Pendel kreisen. Nachdem das Pendel über dem US-Staat Nevada Ruhe gegeben hatte, schrieb Stroppel dem Großvater auf einen kleinen Quittungszettel: »Ingrid Rogge lebt in Amerika im Staate Nevada, sie ist unverheiratet. Die Stadt, in welcher die Gesuchte lebt, muß noch festgestellt werden.« Das Honorar betrug 60 Mark.
Die Auskunft des Pendlers gab die Kriminalpolizei Sigmaringen an das Polizeipräsidium in Frankfurt weiter mit der Bitte, beim US-Konsulat zu ermitteln. Die Vermißte könnte nach Vollendung des 18. Lebensjahres, am 30. 8. 1979, mit einem amerikanischen Armeeangehörigen die Ehe eingegangen sein und sich in die Vereinigten Staaten begeben haben. Das Konsulat in Frankfurt schrieb die Einwanderungsbehörde in Washington an. Der seidene Faden, an dem diese Hoffnung hing, riß am 20. Januar 1983, als Kriminaloberkommissar Müller den Rogges über die unergiebigen Nachprüfungen in den USA Mitteilung machte.
Im Juli 1982 gab es wieder einen Hinweis, der Eltern und Großeltern in Aufruhr versetzte. Damals glaubte ein Italiener Ingrid Rogge in einem Bordell in Sizilien entdeckt zu haben. Franco Aggliato gehörte zum Bekanntenkreis von Brunhilde Gräber, die eine Schwester von Frau Rogge ist und ein Friseurgeschäft in Steinheim betreibt. Dort hatte Aggliato das Mädchen einmal kennengelernt.
Als Urlauber in seinem Heimatort Castelvetrano fuhr Franco Aggliato mit seinem Bruder zu einem Etablissement, einem alten Gehöft zwischen den Ortschaften Trischina und Trefontani. Schon aus seinem Auto habe er ein blondes Mädchen im Hof stehen sehen und blitzartig an Ingrid Rogge gedacht, über deren Verschwinden er informiert war. Er sei jedoch nicht ausgestiegen, sagte er bei seiner Vernehmung, da er kein Interesse an ihr hatte und ein Zuhälter, ein ihm bekannter Mann aus Castelvetrano, auf sie einredete. Über ein Jahr später kam von Interpol Rom der Bescheid, daß die Ermittlungen zur Auffindung der Genannten negativ verlaufen seien, die Fahndung im Lande aber noch andauere.
Als ihre Tochter Ingrid im dritten Jahr vermißt war, fuhr Frau Rogge mit anderen Frauen aus Saulgau, die eigene Angelegenheiten gedeutet haben wollten, zu der Wahrsagerin Luise Kudlitz nach Weingarten an der oberschwäbischen Barockstraße. Hier wimmelt es von Seminaristen und auswärtigen Schulklassen, die vespernd auf der Treppe der Benediktinerabtei in ihren Barockführern lesen. Die hellgelbe Kultur gibt hier den Nenner, und eine Existenz wie die der Kartenlegerin Kudlitz mit ihrem unschwäbischen Namen in ihrem Bretterverschlag an der Friedhofstraße hat für Weingarten etwas Unpassendes an sich.
Frau Kudlitz lebt umgeben von fünf dunkelhäutigen Enkelkindern, der Hinterlassenschaft einer schwarzen Schwiegertochter, die das Weite gesucht hat. In einem engen Flur mit vollgerauchten Aschenbechern warten verwegen geschminkte Frauen mit ihrem Liebeskummer oder ihren Versorgungsängsten auf eine Sitzung. Und hin und wieder taucht ein dunkles Kind auf, weil es einer Dame zeigen soll, wo die Toilette ist, auf deren Ablage unterm Spiegel die fünf Drahtbürsten dieser krausköpfigen Kinder liegen.
»Sie, Fraule«, hatte Frau Kudlitz damals zu Frau Rogge gesagt, »um Ihre Ingrid sieht es ganz schlecht aus.« Die sei von lauter Männern umgeben, lauter Dunkelhaarige, und diese Karte, das sei Geld, als wenn sie Geld herschaffen müßte für die Männer. Frau Kudlitz nahm nur zehn Mark für diese trübe Auskunft.
Drei Jahre später, als sie weiß, daß Ingrid Rogge als verschnürtes Skelett in der Waldemarstraße 33, direkt an der Berliner Mauer, auf einem Speicher gefunden worden ist, und weit und breit keine Spur von einem Täter, zieht die Kudlitz aus ihrem hingeblätterten Firmament die Karte für die schlimmen Sachen, die sie die Drogenkarte nennt.
Dort, wo sie wohnte, sei sie auch umgekommen. Ein sehr süchtiger dunkler Mann, womit die Kudlitz die Haarfarbe meint, habe sie aus der Welt geschafft, »als wenn sie hat wollen was verpfeifen«.
In das kojenkleine Zimmer der Frau Kudlitz, dieser rundlichen Füchsin in ihrem Wahrsager-Plüsch, mit dem sie sogar ihrem herabgelassenen Klappbett die profane Bestimmung nimmt, dringt vom Flur ein kurzes Toben ihrer Enkel. Dabei gerät der Bretterverschlag in ein Beben, als stünde er auf rollenden Rädern. Dann sagt ein Mädchen »Husch!«, und es kehrt Ruhe ein, und die Kudlitz fährt fort in ihrer Hellsicht.
»Also gehn wir mal ans Gegenteil«, der dunkle Mann wäre Zuhälter gewesen und hätte sie aus Liebe umgebracht. Aber die Liebeskarte lief nicht dabei. Nur noch eine dunkle Dame, nicht ganz so dunkel wie der Mann, kommt ins Spiel,
Mitwisserin, fast Mittäterin und nicht mehr in Berlin, aus Angst, ebenfalls umgebracht zu werden.
Die lange Ungewißheit hat die Großmutter Elisabeth Hohl vorzeitig gebrechlich gemacht. Sie ist wie fast alle Großmütter von einer liebenden Blindheit; immer darauf bedacht, den Motiven des Mädchens eine fromme Einschätzung zu geben und sich selber keine Spielverderberin zu sein in dessen Angedenken. Als Ursache dann für das schreckliche Gestorbensein des Mädchens in Berlin kommen ihr ein langer Nappaledermantel und eine Lederjacke in den Sinn: »Es muß ein Kapitalverbrechen gewesen sein, denn sie hatte ja so schöne Sachen.«
»Und dann haben sie ihr aus dem Hinterhalt ein paar auf den Kopf geknallt«, sagt ohne Selbstschonung die Mutter, »und womöglich hat sie noch gelebt, und man hat ihr noch mal ein paar draufgeschlagen.« Die übersteigerte Nüchternheit, mit der die Mutter über das Eventuelle spricht, dieser sprachlich so drastische Umgang mit der ausgemalten Katastrophe, unterscheidet sich von den furchtsamen Äußerungen der Großmutter, in deren Sachtheit der Wunsch nach einem sachteren Tod mitspielt.
Einmal träumte die Mutter von einem Badeausflug mit ihrer früheren Chefin, der Metzgersfrau Melitta Nußbaumer. Auch die Ingrid war dabei. Sie wollte partout über einen Wassergraben springen. Und während die Mutter schrie: »Tu das nicht, drüben ist Moorboden!«, rief die Tochter: »Das ist mir egal!«, sprang rüber und versank. Über ihr haben sich ein paar Ringe gebildet, und »weg war sie«. Jetzt ist sie in Berlin in ein Wasser geschmissen worden, deutet sich Frau Rogge den Traum, die von einem Telephongespräch her wußte, daß die Tochter zum Baden öfter am Wannsee war, sogar nackt, wobei einmal berittene Polizei auftauchte; eine Erwähnung, die ihr Berlin noch unberechenbarer machte: Dort, wo alles möglich ist, ist auch alles verboten.
Ingrid Rogge blieb neun Tage, bis zu Fronleichnam, dem 14. Juni 1979, in Saulgau. Um die Widerspenstigkeit der Tochter nicht herauszufordern, nicht diese mühevolle Leichtigkeit im Umgang miteinander zu gefährden, vermieden es die Eltern, die Rede auf das Fortgehen zu bringen. Sie halfen ihr im Gegenteil noch bei den Vorbereitungen zur Abreise, packten alles ins Auto, und da Feiertag war, fuhren der Vater und die Mutter das Mädchen nach Donauwörth, wo durchgehende Züge nach Berlin anhalten. Es sei ein wunderschöner Tag gewesen, Wiesen, Bäume, alles blühend; eine glücklich scheinende Familie fuhr durch den Garten Eden.
Und die Mutter hoffte ein bißchen, daß dieser Ausflug eine Wirkung zeigen möge auf das Mädchen, daß sich Berlin in ihm verflüchtige, daß man in Donauwörth ankomme und gar nicht mehr wisse, warum, daß das Mädchen wieder mit nach Hause führe, ohne daß sein Wille gebrochen würde, daß es einfach auch nur möchte, was gut für es sei.
Die immer niedriger werdenden Kilometerzahlen auf den Hinweisschildern zum Bestimmungsort, das angstvoll empfundene Näherkommen von Donauwörth, ließ die Mutter schließlich doch aufs Thema kommen: »Komm, Ingrid, in dem Berlin, wer weiß.«
Der folgende Tag bringt wieder den besänftigenden, wenn auch nicht frohmachenden Anruf aus Berlin. Ingrid Rogge telephonierte in der Vorstellung der Großmutter von einem Postamt aus mit ihr. Sie sei auf eine befremdende Weise kurz angebunden gewesen. Nicht, als ob die durch den Apparat rasenden Groschen und Markstücke sie gehetzt hätten. Vielmehr, als habe jemand hinter ihr gestanden und sie genötigt, keine Sentimentalitäten auszutauschen. Die Großmutter fragte: »Warst du auf dem Arbeitsamt?« Und die Enkelin antwortete: »Das hat heute zu. Richte der Mutti aus, ich schreibe«, beendete Ingrid Rogge das Gespräch.
Sie schrieb nicht, rief aber vier Tage später, am 19. Juni, bei Elli Gottler an, die auch diese aufreizende Frage stellte: »Hast du Arbeit gefunden?« Nein, das habe sie noch nicht, deswegen arbeite sie vorübergehend bei den Lederleuten mit. Das war das letzte Lebenszeichen von Ingrid Rogge.
Die Einzelheiten ihrer damaligen Existenz in Berlin variieren in dem überforderten Erinnerungsvermögen der Eltern und Großeltern. Einmal wohnte sie zuletzt bei Angelika Harner, einer 25 Jahre alten Frau mit Kind in der Schöneberger Leberstraße; einmal wohnte sie schon in der Lederetage, der »Walde« in Kreuzberg. Der Großmutter hatte sie gesagt, sie arbeite in einer Diskothek und wohne in einer ehemaligen Fabrik, wo viele wohnen und vom Ledernähen leben.
Angelika Harner hütet sich vor trügerisch genauen Erinnerungen. Sie weiß nur, daß Ingrid Rogge im Frühsommer 1979 etwa vierzehn Tage bei ihr wohnte, nur nach Bock lebte, auftauchte, um zu baden oder zu duschen und danach die benutzten Gegenstände sauber hinterließ.
Sie sei lebenslustig und schön zum Ansehen gewesen. Einmal habe sie Ingrid Rogge ein weites Hemd geliehen, in dem sie sich in der »Music-Hall«, einer Diskothek in der Schöneberger Rheinstraße, vorstellen wollte, einem hochakuten Scenelokal seinerzeit, wo nur die heißesten Bräute Anstellung fanden und in den blutrot gekachelten Toiletten die Dealer herumstanden. Nach dem branchenüblichen fliegenden Wechsel vieler Besitzer wird die »Music-Hall« inzwischen von dem 80 Jahre alten »Strapsharry« betrieben, der schulterlange weiße Haare hat, rote Kinderstrümpfe an Damenstrumpfbändern trägt und darüber eine Turnhose. »Strapsharry« imitiert am Wochenende Heino und Zarah Leander und erzählt, da er aus Leipzig stammt, sächsische Konsum- und Mangelwitze über Mikrophon. Unter seiner Ägide wurde die »Music-Hall« drogenfrei.
Wenn Pitt Müller, der heute 32 Jahre alt ist und als ambulanter Altenpfleger in Moabit und Wedding arbeitet, das Geschehen noch mal rückwärts abspielt, dann würde er dieses junge Mädchen Ingrid Rogge damals nicht mit nach Berlin genommen haben. Er hatte sie am Abend des Ostersonntag 1979 im Saulgauer »Bohnenstengel« kennengelernt, einem Lokal, in das der unruhige Teil der ansässigen Jugend den Sesselmassen seiner Elternhäusern entflieht, um dort, im eigenen Plüsch, das Entrinnen aus Schwaben zu besprechen, das Wegmachen nach Berlin.
Pitt Müller hatte von Berlin aus seine Mutter in Altshausen besucht, wo er geboren ist und wo die Rogge ihre letzte Arbeitsstelle bei Trigema hatte. Und jedesmal, wenn er mit seinem alten Käfer wieder nach Berlin zurückfuhr, habe er Typen mitgenommen, soviel das Auto faßte. Es war ein regelrechter Transfer zwischen Oberschwaben und der erlösenden
Stadt. An Ostermontag 1979 saß dann auch Ingrid Rogge in dem vollen Auto.
Nun ist Pitt Müller ein sanfter Mensch und kein phosphoreszierender Satan, der damals im »Bohnenstengel« das nicht zu versäumende Berlin anpries und Benzingeld kassierte. Denn die Typen, die er mitnahm, saßen ihm dann auch tagelang auf der Bude; in jeder Ecke eine Matratze mit einem auf Abenteuer angespitzten Schwaben drauf. Auch Ingrid Rogge wohnte eine Woche in seinen beengten Verhältnissen in der Zossener Straße in Kreuzberg, bis sie umzog zu Angelika Harner, der Schwester seiner damaligen Freundin.
Mit dem Wissen um ihren gewaltsamen Tod geraten alle Erwähnungen über das Wesen der Ingrid Rogge in eine ihrem Tod entsprechende, negative Stimmigkeit: Alle haben es sich immer schon denken können. In Pitt Müllers Erinnerung kursierte damals das Gerücht, die Rogge habe ihren Bruder rächen wollen und auf der Polizeiwache die Namen von Dealern preisgegeben. Daraufhin sei ihr wohlmeinend geraten worden, Saulgau zu verlassen. Pitt Müller begegnet Ingrid Rogge nach ihrem Auszug bei ihm nur noch einmal in der »Music-Hall«, wo sie bediente. Sie sei attraktiver und lebhafter als vorher gewesen, so als habe sie ihr eigentliches Element gefunden und die Provinz abgestreift.
Am 1. August 1979 setzte die polizeiliche Suche nach Ingrid Rogge ein. Die Kriminalpolizei Sigmaringen schrieb Berlin mit einer KP-16-Meldung an, einem Formular, das auch für den Fall eines Verbrechens oder Selbstmordes über körperliche Merkmale Auskunft gibt. Von der gesuchten Rogge lag die Röntgenaufnahme ihres Schädels bei, da sie 1976 vom Fahrrad gestürzt war; außerdem ein Zahnschema, das bis auf kleine plombierte Flickstellen keine Abweichungen zeigte.
Daß die Kriminalpolizei Berlin das Ansinnen ihrer Kollegen aus Sigmaringen, jemanden mit auf die Suche zu schicken, ablehnte, könnte großstädtischem Hochmut entsprungen sein. Vielleicht war es auch begründet in der strapazierten Erfahrung mit dieser speziellen Ecke von Berlin, wo polizeilich kein Durchkommen ist, weil kurzfristig ausgerollte Schlafsäcke hier das Wohnen bestimmen und wer heute dort war, morgen längst woanders ist.
Diese gelangweilte Kenntnis von dem Ort hätte ein Beamter aus Sigmaringen nicht gehabt. Er hätte im Sinne des Wortes frischer gesucht, wäre mit einkreisender Routine wahrscheinlich bis hoch auf den Speicher gegangen. Es wäre die Akribie gewesen, mit der Kollege Ochs im Mädchenzimmer der Vermißten deren Fingerspuren von einer Lippenstifthülse und 40 Zentimeter über dem Schloß auf der rechten Innentür des Kleiderschrankes erhoben hat, mit der er Haarproben aus ihrer Bürste in einer Tüte mitnahm.
Es sei schon winterlich gewesen, doch noch im November, als Barbara Reuter 1979 von der Berliner Kriminalpolizei gebeten wurde, in der Wohngemeinschaft, die als »die Walde« firmiere und extrem polizeifeindlich sei, nach Ingrid Rogge zu fragen. Barbara Reuter, aus Saulgau stammend und damals Apothekenhelferin in Berlin, hatte die Rogge im Juni am Fehrbelliner Platz getroffen. Sie kannten sich flüchtig aus einer schwäbischen Motorradclique. Barbara Reuter hatte selber eine 25Oer Yamaha gefahren, und die Rogge, zwei Jahre jünger als sie, sei in voller Ausrüstung eine willensstarke Frau auf dem Rücksitz anderer gewesen.
Barbara Reuter nahm für diese Mission einen Freund mit. Im Treppenschacht eines von zwei möglichen Aufgängen, die in der Düsternis des 3. Hofes zur Wahl standen, hörten sie eine Trommel durch eine nur angelehnte Tür. Hinter dieser Tür lag eine lächelnde, von Drogen zahme Menschengesellschaft auf Matratzen. Nur der, der die Trommel klopfte, saß. Man hätte ihnen die Armbanduhren abstreifen können, so hinüber seien sie gewesen. Das konnte »die Walde« nicht sein, nicht diese ungnädige, politische Lederetage.
»Die Walde« lag eine Treppe höher. Auch hier keine geschlossene Tür. In einer großen Halle saßen ganz hinten welche am Tisch. In einem offenen Kamin brannte Feuer. Ein an Ketten hängendes Hochbett, den Ausmaßen nach der Schlafplatz für viele, schien leicht zu schwanken. Der phantasietreibende Anblick dieses instabilen Bettes widersprach den Personen am Tisch, die eine eher harte Natürlichkeit verkörperten. Den beiden Besuchern kamen sie als die unerbittliche Vollendung des alternativen Menschenschlages vor.
Ihrer Frage nach Ingrid Rogge folgte gleich die Gegenfrage: »Seid ihr von den Bullen?« Und Barbara Reuter hatte ihre Erklärung, von der Mutter geschickt zu sein, noch halb im Mund, als man ihren Ausweis sehen wollte, den sie nicht bei sich hatte. Danach gab es für die Unwillkommenen nur noch ein schnelles, fast stolperndes Verlassen des Ortes, an dem zu leben für Barbara Reuter dennoch keine üble Vorstellung war. Das Mißtrauen seiner Bewohner erklärte sie sich als schützendes Verhalten für jemanden, den sie kannten und für den sich plötzlich die Polizei interessierte.
Zwischen Leuschnerdamm und Adalbertstraße - in ortsüblicher Abkürzung die »Ada« - liegt jener Teil der Waldemarstraße, der eine Welt für sich ist. Die westlichen Eckpfeiler dieser kurzen Straßenschlucht bilden am Leuschnerdamm das »Alt-Berliner Wirtshaus Henne« und gegenüber die Neuapostolische Kirche, die dort 1957 einen Neubau von praktischer Häßlichkeit bezogen hat, letztere noch betonend durch ein Rasenstück mit grabstättenhaft flachwachsenden Koniferen.
Mittwochs und sonntags vor den Gottesdiensten stehen in schwarzen Anzügen die naßrasierten und engelbleichen Apostel vor dem Eingang, begrüßen die Gläubigen mit Handschlag, um hinter dem letzten die Tür abzuschließen. Denn draußen ist die Wildnis Waldemarstraße, wo der Leibhaftige seine Täter rekrutiert, sie Steine werfen läßt und ihnen auf dem weißen Kirchenputz die Hand führte bei der gesprühten Botschaft »Bullen prügeln - Jesus schweigt«.
Bevor die Gemeinde schleppend zu singen und der Prediger mit glanzloser Friedfertigkeit zu sprechen beginnt, bekommen Personen mit ungeläufigen Gesichtern Zettel zugesteckt, auf denen das Mitschreiben, Photographieren und Ingangsetzen von Tonbandgeräten verboten wird. Doch was könnte hier von feindseligem Interesse sein? Die namentlich genannten Kranken, derer gedacht wird, die hinkend spielende Orgel oder die huschenden Apostel, die weitersingen, während sie für Ordnung sorgen?
Auch das »Alt-Berliner Wirtshaus Henne« - früher »Litfin« - sieht die Anwohner der Waldemarstraße lieber vor der Tür. Tische werden reserviert. Spezialität des Hauses sind frittierte Hühnerhälften mit Krautsalat, und die Kundschaft kommt meistens aus den Westbezirken, dazwischen reines Überdrußpublikum,
das aus der Neonwiege des Ku''damms mal raus muß, um sich hier an der Mauer ein paar Herbheiten zuzumuten. Denn so, wie es von allen Tellern riecht, geht es in die Kleider wie im »Wienerwald«. Parterre sitzt die Prominenz der geschilderten Sorte und eine halbe Treppe höher ein maßvoller Studentenschlag, viel Pädagogik. Die ochsenblutrote Ölbemalung der Wände schafft eine ermüdende Dunkelheit. Sie verdoppelt optisch noch die Verräucherung. Hier könnte auch Burschenschaft versammelt sein.
Die Waldemarstraße liegt so ruhig da, daß Schritte wie in einer Tropfsteinhöhle widerhallen. Von außen fehlen ihr alle schrillen Lebensäußerungen, die in Kreuzberg zu erwarten wären, von denen die Oranienstraße beispielsweise voll ist. Gegen sie ist die Waldemarstraße nicht einmal durchschnittlich charakteristisch. Die Häuser tragen das in Berlin übliche Elefantengrau oder das ebenso übliche Beige der Sanierung, das nach kürzester Zeit die Farbe von Packpapier annimmt.
Ins Auge fällt nur die Nummer 41 mit einem über die ganze Front gemalten Dreieck, auf dem ein Typ in einer Pose von Weltverachtung an den Trümmern seines Motorrades lehnt. Neben ihm das Motto: »Our dream is your desaster.« Hier wohnt der Phönix-Klan, eine Rockergruppe, die 1979, als sie noch im Ruf stand, wild zu sein, direkt neben dem späteren Fundort der toten Ingrid Rogge ihre Klubhütte hatte.
Zwei Häuser stehen noch im vollen Stuck des wilhelminischen Altertums: die Nummer 26 des Dachdeckermeisters Förster und die 33 mit den drei schachttiefen Höfen, in deren letztem sich das Drama der Rogge abgespielt haben muß.
Die Waldemarstraße hat sich zur Unterscheidung ihrer Bewohner drei Kategorien geschaffen: Normale, Nichtnormale und Türken. Die Normalen sind wenige ausharrende alte Frauen, die sich während der Sanierung nicht umquartieren ließen; die sämtlich einheimischen Mieter der Nummer 23, einem Neubau von 1958; einzelne männliche Alkoholiker und eine straßenbekannte Familie mit sieben Kindern.
Die Nichtnormalen sind ehemalige Besetzer, die, rechtlich abgesichert, ihre Eroberungen weiter bewohnen. Sie bilden das breite Spektrum der Freaks, was im Wortlaut der Scene jeden bezeichnet, der sich »aus dem System voll ausgeklinkt« hat. Unterhalb dieser Grundbedingung dividieren sich die
Freaks dann nach zugespitzten Vorlieben oder biographischem Stigma in Körner-Freaks, Öko-Freaks, Leder-Freaks, Knast-Freaks, Heim-Freaks, Alt-Freaks usw.
Im Schlepp der Besetzer, die längst eine historisch gewordene Kaste bilden, leben aber auch Parasiten, die erst gekommen sind, als die Toiletten installiert und die Dächer dicht waren. Diese Abdecker des Zeitgeistes verschwinden gern den Winter über, wenn es in den Fabriketagen nicht warm werden will, und kommen wieder zur Saison, wenn in den Höfen die Tischplatten auf Böcken liegen, worauf der Vollwertkuchen steht, aus den großen zugefleckten Thermoskannen der Kaffee läuft und der Kiff seinen Baldachin über die bescheidenen Verhältnisse spannt.
Dem unfehlbaren Nichtnormalen ist jeder faschistisch, der Anzeichen von Versöhnung mit dem »Schweinesystem« zeigt. Als Anzeichen der Versöhnung reicht schon ein rasiertes Gesicht unter einer verbindlichen Frisur, ein Wintermantel, dessen Normalität nicht durch einen Tuareg-Turban, einen am Hinterkopf hängenden Fuchsschwanz oder von Filzknoten gebündelte Rasta-Strähnen gelöscht wird. Eine Frau darf scharf aussehen, den Pelz einer geschützten Tierart tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt .
Neben der Abweichung in eine bürgerliche Unauffälligkeit, die sogar eine Zimmerwirtin in Steglitz oder Tempelhof die Türkette lösen ließe, zensiert der Nichtnormale auch Fixer, Schwule und solche, die ihren Idealismus schleifen lassen, deren tagespolitische Entrüstung leiser wird, die der Armut keinen hohen Wert mehr beimessen und in ihre eigentliche Veranlagung zurücksinken.
In seiner Hochform leidet der Nichtnormale aber auch an sich selbst. Denn als Platzhalter der Idee vom selbstbestimmten Leben muß er ständig für eine Verlockung stehen, die auch ihm manchmal verlorengeht. Deshalb muß er sich zur Selbsterhaltung in die Verachtung anderer retten. So verbraucht sich der Nichtnormale zu großen Teilen in einer Energie der Ablehnung.
Als eine Unterform des Nichtnormalen kann auch sein sozialer Betreuer gelten. Dieser hat sich in seinem Betreuungsrevier angesiedelt, um die Unbill der Gegend am eigenen Leib zu erfahren und dem Vorwurf, nur Theorie zu bieten, begegnen zu können. Durch die Tag- und Nachtgleiche mit seiner Klientel nimmt die Existenz des Betreuers zwei mögliche Wendungen: Entweder er verliert seine Distanz und wird über der Härte des Milieus selber bedürftig, oder er erlebt sein gutgemeintes Nahebei als eine Anmaßung gegen sich selbst und zieht wieder weg.
Und mit Wilmersdorf als Adresse im Rücken wird der soziale Betreuer für die Waldemarstraße zum »Diplombetroffenen«; zu jemandem, der ein Diagnose-Raster über die Formen der Verelendung legt und nicht weiß, wie kalt Kälte ist; zu jemandem, der über »Schleppscheiße«, einem Kreuzberger Krankheitsphänomen der Haut, auch »Kieztätowierung« genannt, so redet, als sei sie ein entferntes, tropisches Übel, und der in der Ku''damm-Zivilisation das türkischdeutsche Miteinander träumt.
Die Waldemarstraße wird zu fünfundsiebzig Prozent von Türken bewohnt. Es sind etwa hundert Großfamilien, die, meistens miteinander verwandt, aus dem ostanatolischen Dorf Kelkit stammen. Die nächste Großstadt ist Erzurum. Viele haben innerhalb Kreuzbergs drei oder vier sanierungsbedingte
Umquartierungen hinter sich, bis sie ans unterste Ende der Preisklasse, in die Waldemarstraße, zogen.
Was die Straße so billig machte, war ihr geplanter Abriß für eine Autobahn durch ein ungeteiltes Berlin; eine symbolische Vorkehrung wie die der klugen Jungfrauen aus der Bibel, die ihr Öl nicht ausgehen ließen für eine jederzeit fällige Ankunft des Herrn. Die aufgegebenen Häuser durften die Türken zu Ende wohnen. Auf diese Weise gehören sie zu den frühesten Ansässigen einer Straße, deren Existenz nur noch schraffiert in der Stadtplanung vorkam.
Die Hölle von Nathalie Wetzel wäre in einer Straße von durchgehender Berliner Rechtschaffenheit noch unerträglicher, als sie es hier ist. Die Waldemarstraße, in der eine weichere Elle angelegt wird, ist ihr Quantum Glück im Unglück. Sie erspart ihr die Leumundsängste, denn die Türken zählen nicht. Und die Nichtnormalen, die das soziale Mißraten politisch erklären, nennen sie Oma Wetzel, was eine rare Liebkosung für sie ist.
Sie wohnt mit ihrem vom Alkohol zerrütteten Sohn Arnold zusammen. Zweimal ist er einem Heim entwichen, jedesmal zu ihr. Den Konflikt, sein Entweichen zu melden oder nicht, entschied sie beide Male gegen sich und behielt ihn da. Nathalie Wetzel ist 75, sie kam aus dem östlichen Abschnitt der Dresdner Straße in den Westen gekrochen. Bis die Rente durch war, wohnte sie im Keller. Bei Krause in Reinickendorf habe sie Rollmöpse wickeln dürfen, »da kaum eine deutsche Frau mehr in den Fisch zu kriegen war«.
»Jetzt brüllt er wieder«, sagt sie. Aus der zur Straße liegenden Stube schreit ein Mann: »Dracula! Dracula!« Bei Frau Wetzel in der Küche sitzt sehr akkurat gekleidet ihr anderer Sohn Helmut. Sein Hemd ist bis zum obersten Knopf unter dem würgend harten Kragen geschlossen; die Haare so gescheitelt, als habe ein Friseur ihn gezüchtigt. Er ist Freigänger eines Heimes in Wilmersdorf.
Sie redet über ihn hinweg, als wäre er nicht anwesend. Auch ihn habe das Trinken den Verstand gekostet. Helmut ist liebenswürdig, ständig auf ein hartes Wort gefaßt, sich duckend wie unter einer niedersausenden Rute und immer lächelnd um Versöhnung bittend. Er hat Brötchen mitgebracht und eine kleine Menge Aufschnitt.
Als der Kessel mit dem Kaffeewasser zu flöten anfängt, schreit Arnold aus der vorderen Stube: »Du alte Giftmischerin, hast du heute schon gefickt?« Vor Angst stößt sein sanfter Bruder Helmut gegen den Kessel, dessen Flöte abspringt. Der Kessel kippt, das wallende Wasser ergießt sich in die Küche. Unter dem Tisch erbricht vor Schreck die alte Hündin Tanja einen Hühnerschlund. Helmut wischt die Bescherung auf, und seine Mutter sagt: »Bei Arnold kommt die Krankheit stufenweise. Einen Moment gehn die Nerven hoch, dann ist er rot im Gesicht und tobt. Wenn er weiß ist, ist Ruhe, dann macht er Kreuzworträtsel.«
Wenn Arnold rot ist im Gesicht und Nathalie Wetzel sich vor ihm fürchtet, bittet sie manchmal jemanden, den Kopf durch seine Tür zu stecken. Dann glaubt er, es ist die Behörde, die ihn abholen will, und schlagartig wird er zahm.
Der Kategorie der Normalen gehören auch Apollonia und Rochus Wegener an. Ihnen bedeutet die Waldemarstraße eine Schmach. Sie empfinden sich in einer zweifachen Minderheit lebend; einmal durch die Türken und innerhalb ihresgleichen durch die Gestrauchelten. Sie wohnen seit 29 Jahren im einzigen Neubau der Straße, dessen Haustür hinter sich zu schließen ihnen eine Genugtuung ist. Denn dieses glatte Haus zwischen den vernutzten Häusern scheint auch seine Bewohner deutlich abzusetzen.
Ihre Wohnung ist von der dichten Gemütlichkeit, die bei einem gutsituierten älteren Ehepaar nicht ausbleibt. Überall stehen Reminiszenzen einer Reise. Im Flur ragt in der Höhe eines Hydranten der Hl. Rochus, Namenspatron des Hausherrn und Beschützer der Leprakranken. Das Schlafzimmer liegt schon jenseits der Grenze zum Märchen; es hat ein Himmelbett. Der sich unter dem Küchenfenster ausbreitende Hof ist eine Rasenfläche mit Blautannen und einem kleinen Blockhaus aus geflämmtem Holz. Auf den Mauerkronen stehen einbetonierte Glasscherben aufrecht.
»Wenn wir in Tirol im Urlaub sind«, sagt Frau Wegener, »und Kreuzberg erwähnen, wird nur aufgeschrien: ''Dann kommt ihr ja aus Ankara!« Die Waldemarstraße erwache erst nachts zum Leben. Zwischen drei und vier Uhr morgens gegenüber nur helle Fenster. »Ick weeß nich«, sagt Frau Wegener, »die leben, gehn nich zur Arbeit und fahrn
große Autos.« Sie tippe auf Heroin, will aber nichts gesagt haben.
Die Waldemarstraße macht die Wegeners zwiespältig. Sie lassen selber nichts Gutes an ihr und sind darin wie Eltern, die Kummer haben mit einem Kind, von einem Dritten aber wegen dieses Kindes nicht bedauert werden wollen.
»In beiden Händen eine Tüte, und dann kommen die langhaarigen Bettelregimenter: ''Haste mal ''ne Mark?'' Und ich sage zurück«, sagt Frau Wegener: »''Zeig mir mal, wie ''ne Mark aussieht, ich weiß es auch nich.''« Im Sommer unterm Balkon spielen mehr als dreißig Türkenkinder. »Gut, wir ham auch gespielt, aber anders. Wenn in der Türkei die Schafschur war, kommen die zurück und waschen in der Badewanne hier die Rohwolle aus. Die hängt dann zum Trocknen überm Geländer der Waldemarbrücke.« Der Tonfall, in dem Herr und Frau Wegener erzählen, verrät weniger Abneigung als den Wunsch nach Anerkennung ihrer Toleranz.
Trotz ihrer Mehrheit geben die Türken hier nicht den Ton an. Sie sind das aus problemlosen Mietern bestehende Rückgrat der Straße. Sogar ihre oft übervölkerten Wohnungen, in denen außer den drei ursprünglich gemeldeten Personen über Nacht vierzehn gemeldete Personen im Kaffeeschlamm der kleinen Tassen rühren, sind den Wohnungsgesellschaften keine Aufregung wert. Ihnen ist dieses türkische Schlaumeiertum lieber als der Barrikadenton der Nichtnormalen, deren Weltverbesserung ständig »Plenum angesagt« sein läßt; die für die Nutzung einer Etage als Kräuteretage, für ein Gründach oder die mit »Grauwasser« zu betreibende Toilettenspülung die härtesten Bandagen der Mitbestimmung anlegen und es darüber auch Nacht werden lassen für den Baustadtrat, den Protokollanten, die ehrenamtlichen Mietervertreter, die nicht _(Links: Remisen-Entrümpler Rino. )
ehrenamtlichen, die Blockarchitekten der »Behutsamen Stadterneuerung« und die Sozialplaner.
Die Türken haben solche Anliegen nicht. Sie ziehen sich vor den Türen ihrer penibel sauberen Wohnung die Schuhe aus, richten ihren levantinischen Wirklichkeitssinn aufs Sparbuch und versprechen ihre halbwüchsige Tochter einem Anwärter aus Kelkit.
Die hellen Gesichter der türkischen Männer mit den gestanzten Schnurrbärten unter ihrem akkuraten Haarschnitt geben der Waldemarstraße eine Wirkung von Intaktheit. Es kommt vor, daß ein in der Nacht heimkehrendes Ehepaar in patriarchalischer Distanz hintereinander geht, obwohl es in der menschenleeren Waldemarstraße keinen religiösen Beobachter zu fürchten hätte. Die Frauen tragen das eckig gebundene Kopftuch, das ihnen wie die harte Kartonage einer Nonnenhaube den Haaransatz verdeckt. Die Ausstattung ihrer Neugeborenen ist königlich. Windelhose, Strampelhose, Hemdchen, Jäckchen, Schnuller und Schnullerdöschen sind Orgien der Abgestimmtheit, was die Leute von der Säuglingsfürsorge mit der sprachlosen Wendung »da schnallst du aber ab« kommentieren.
Das Verhältnis der Türken zu den Deutschen ist sortiert: Wenig Kontakt bringt wenig Reibung, dafür Vorbehalte. Hier die ungekämmten, hochzeitslosen Paare der Habenichtsgruppen in ihren kahlen Fabriketagen, dort die prügelnden Unterdrücker in den Teppich-Oasen der Vorderhäuser. Hier die Asketen mit den Keimlingsplantagen im wattierten Suppenteller und den hochgemüllten Stühlen von der Straße, dort die Verführten der Fernsehwerbung, die ihre Schaumstoffgarnituren aus dem Fenster werfen. Diese unbrennbaren Sessel und Sofas schaffen den ewigen Müll auf den Höfen. Das Wissen voneinander ist klein. Der türkische Bäcker in der Nummer 31 wurde einmal auf den Mehlsäcken liegend gesehen, wie er sich von der Schwester seiner Frau massieren ließ. Das reicht, um zu sagen, er lasse sich täglich von der Schwester seiner Frau massieren. Die Waldemarstraße ist eine harte Provinz, die der schwäbischen Provinz nicht nachsteht. Nur, daß sich manchmal ganz laut die girlandenhafte, plötzlich abstürzende Türkenmusik mit dem Geruch von Kohlenbrand auf die Bürgersteige drückt, was es in Saulgau nicht gegeben haben kann.
Am 27. September 1985, einem Freitag, fand Dette, ein Nichtnormaler, das Skelett der Ingrid Rogge unter dem sogenannten Kriechdach des linken Seitenflügels im 3. Hinterhof der Waldemarstraße 33. Dette, Bewohner des ersten Hofdurchgangs, war im 2. Hinterhof die linke Treppe, wo die Firma Microgummi ihren Sitz hat, hochgestiegen bis zu diesem Dach, das nach dem Einschlag einer Brandbombe nur als Schrägdach notdürftig wieder hergerichtet worden war. Den Speicher unter diesem Dach bildet ein flacher Stollen, der nur ein kriechendes Fortbewegen erlaubt. Er ist, wie in Gewerbehöfen üblich, durch eine feuerbeständige FB-Tür - im Unterschied zu einer nur feuerhemmenden FH-Tür - vom Nebenspeicher getrennt. Vor dieser FB-Tür zwischen dem zweiten und dritten Speicher, ihrem Standort nach aber schon im 3. Hof, lag das in eine Bauplane gewickelte und mit Elektrodraht verschnürte Skelett.
Wie das Affentrio, das nichts sehen, nichts hören und nichts sagen will, steht Dette, den Fall Rogge betreffend, wie alle Nichtnormalen der Waldemarstraße unter einer internen Schweigepflicht. Eine der durchgesickerten Einzelheiten dieses Freitags ist, daß Dette etwas gerochen haben will, als er so insistierend die Treppe hochging bis zu dem Speicher, der nie mehr als eine Müllablage war. Außer, wenn die Phönix-Rocker in Silvesternächten über diesen Speicher das Dach bestiegen, um sich das Feuerwerk Gesamtberlins anzusehen.
Das taten sie auch 1979, dem gerichtsmedizinisch bestimmten Todesjahr von Ingrid Rogge. Diesen mit nichts zu vergleichenden Leichengeruch konnten sie damals, als er von furchtbarer Deutlichkeit hätte sein müssen, nicht wahrnehmen. Dort oben habe es immer den Gestank von Abfällen gegeben, doch nicht diese Nuance, für die es kein Wort gibt. Für die Gewerbe-Siedlungs-Gesellschaft, der das Haus gehört, kann das nur an der permanenten Zugluft unter dem Dach gelegen haben.
»Nee, det is einfacher«, sagt, auf die Tote anspielend, der Bauschlosser Dietrich Blühdorn, dessen Betrieb zweiunddreißig Jahre, bis 1983, im Parterre des 3. Hofes lag: »Weil die selber stinken, könn'' die keen Kadaver riechen.« Die Treppenaufgänge seien die reinsten Harnröhren gewesen. »Die Scheißhäuser jedem zugänglich. Und wenn eins zugeschissen war, rin ins nächste und det verstoppt.« Und »denn wird sich vorgekämpft bis zur Leiche, auf der noch''n Teppich lag«.
Für Dietrich Blühdorn, in der Waldemarstraße Sesam-Dietrich genannt, weil er auch Gitter und Wachtürme für Vollzugsanstalten zusammenschweißt, reduziert sich die Erinnerung an seinen alten Firmensitz zu einem »Scheißhaufen«. In einem Rausch drastischer Aufzählungen ist die Rede von den Suleikas, die den in der Wohnung geschlachteten Hammel in den Hof ausbluten ließen, »und zwee Tage später hängt det Fell zum Trocknen in der Sonne«. Kochtöpfe mit Mittagessen »nüscht wie runter«, hasengroße Ratten, »versiffte« Matratzen, die Müllcontainer waren unbenutztes Mobiliar. Einmal denken er und seine Belegschaft »es regnet«, aber das war ein bekifftes Kerlchen im 2. OG, das runterpißte. Sense war, als aus einem Fenster ein heraushängender Hintern eine »Tellermine« fallen ließ. Da schoß Blühdorns Vorarbeiter mit einem Bolzenschußgerät nach oben zurück.
Der Entschluß der äußerst polizeiallergischen Hofbewohner von der 33, Dettes Entdeckung dennoch der Polizei zu melden, ist nur damit zu erklären, daß sie unter sich keinen Mörder wähnten, und wenn es ihn hätte geben können, unter sich keinen Mörder wollten. In diesem oft durchkämmten Terrain, das einmal Augenmerk des Staatsschutzes war, erschien an jenem Freitag die Kriminalpolizei als geladener Gast.
In olivgrünen Anzügen, Gummistiefeln und Schutzhandschuhen, deren Unauffälligkeit durch orangefarbene Applikationen aufleuchtete, machte sich ein Kommando an die Fundortarbeit. Da das zu Suchende längst gefunden war, trug die rasterhafte Gründlichkeit, mit der die Männer in Speicherecken und Kellerböden herumstachen, Züge einer bloßen Vorführung. Nicht aber für Blühdorn. »Is doch logisch«, sagte der, »wo een Krümel Gold inne Erde is, liegen ooch mehr.«
Die Bereitschaft, an einen gewaltsam erlittenen Tod in der Waldemarstraße 33 zu glauben, reicht von einer in Genugtuung gebetteten Gewißheit bis zu einer matten Hinnahme. Für
Rüdiger Möllering von der Druckerei »Movimento« stellt diese Leiche fast eine zwangsläufige Abrundung seiner Erinnerung an diesen Ort dar: Sie habe dort nur noch gefehlt.
»Movimento« war von 1972 bis 1980 im 2. Hof links und im 3. Hof rechts, jeweils im ersten Stock, Mieter des Hauses. Als linke Druckerei mit der zusätzlichen Eigenschaft, Termine einzuhalten, druckte sie den politischen Aktivisten ihrer Nachbarschaft schnell und billig die Flugblätter. Als Reaktion auf ihre Organisiertheit und eine sich anbahnende Etablierung habe diese Kundschaft Eisenteile durchs Fenster der Druckerei geworfen. Und vor dem Lastenfahrstuhl standen immer geparkte Autos.
Die Versicherungen machten für diese Adresse besondere Auflagen geltend. Und es war müßig, wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und aufgedrehter Rockmusik bis zu 1500 Watt polizeiliches Einschreiten zu reklamieren. Die Gewerbetreibenden fühlten sich in einem vom Staat aufgegebenen Terrain. Sogar der Rentner aus der 35, dessen Lebenselixier einmal darin bestanden hatte, sich über die Nachtschichten von »Movimento« und Blühdorns Sonntagsschichten zu beschweren, hörte auf, die Polizei zu rufen. An diesem Ende schien die Waldemarstraße nur ein sich selbst überlassener Knochen zu sein.
Da die Nichtnormalen ihren Nachnamen verweigern und alle, die beispielsweise auf den Vornamen Manfred getauft sind, in dem kurzen Abschnitt der Waldemarstraße zu unterscheiden sein müssen, gibt es schon für Manfred die Nennformen Manne, Manni, Mannu und Menne. Und wenn Manne in diesem Kosmos ähnlich klingender Ruf- und Kosenamen schon besetzt ist, braucht der nächste Manne ein Attribut. Er heißt dann Grizzly-Manne, so wie es einen Holzwurm-Rainer gibt, einen Asterix-Johnny, jemanden namens »Werner, die Träne« und einen Schmutzfuß, dem durch irgendein deutliches Verhalten der Leitname erlassen wurde. Dani, die mit einem um die Stirn gebundenen Fellstreifen wie eine Waldläuferin aussieht, bewohnt in einer Remise der 32 die ehemalige Stalletage. Das ist ein großer, sehr niedriger Raum, bemessen nur für die Rückenhöhe stehender Kühe, die über eine Rampe in dieses erste Stockwerk hineinkamen. Obwohl nach grober Zuordnung eine Nichtnormale, nennt sie die Waldemarstraße »eine einzige Giftgasse«; und auch das übrige K 36, dieses ganze Kreuzberg südlich der Hochbahn, erscheint ihr als »Abladeplatz für Müll in Form von Menschen«. Sie stellt sich vor, daß eine Leiche in einem Keller der Waldemarstraße keinen lauteren Aufschrei verursachen würde als eine Maus in einem Keller in Wilmersdorf. Und ein Menschenbein im Müllhaufen ihres Hofes würde sie so wenig wundern wie das Skelett vom Speicher der 33.
Sie glaubt an eine systematische Schwächung der Gegend durch die CIA. Von ihrer Seite her werde Heroin hereingepumpt und, bevor die Tragweite zu ermessen war, auch das Aids-Virus. Sie malt sich aus, wie das Produkt einer negativen Zucht einen Retortenmenschen ergibt, der bestimmte Strahlen auszuhalten hätte und dessen Schmerzgrenze der Forschung verfügbar wäre. Ihre Vision reicht bis zu einer kontrollierten Schranke am Kottbusser Tor.
Pilles drei Töchter heißen Chaota, Santana und Janna. Chaota wurde im Frauengefängnis Lehrter Straße geboren, wo Pille wegen Heroin einsaß und politisch eine »Wahnsinnsfrauenpower« entwickelte. Mit dieser Mitgift kam sie 1974 in »die Walde«, jenes 3. OG im 3. Hof, in dem Ingrid Rogge 1979 gelebt und sich am Ledernähen beteiligt haben soll. Inzwischen wohnt Pille, die in diesem labyrinthischen Haus schon viele Adressen hatte mit immer neuen Modellen zur Betreuung Schwacher, ein Stockwerk über der Lederetage.
Pille steht heute außerhalb der »Kiezaristokratie« mit ihren tyrannischen Idealisten, denen der abhanden gekommene Feind zusetzt und die das Lächeln mit einem Senatsvertreter ahnden. Für die trägt sie das Stigma der Labilität. Auch ihrer drei Kinder wegen, die sie unbedenklich haben wollte, ohne selbst in Sicherheit zu sein.
Die Geburt ihrer Tochter Janna glich einem Krippenspiel mit großer Besetzung. Das halbe Hinterhaus hatte sich eingefunden. Und Santana tobte mit dem Hund ums Bett. Pille, die mit einem Anflug von Wehen schon Tage vorher im 3. OG ein Wannenbad genommen hatte, weil sie glaubte, es gehe los, hatte irgendwo die Telephonnummern des Arztes und der Hebamme liegenlassen. Aus dem Vorderhaus kam eine türkische Geburtshelferin. Und Pille dachte besser die als eine Alternative, die noch diskutieren will.
Es sei eine in ihren Handgriffen wunderbare Türkin gewesen, sagt Pille. Nur habe sie das ohnehin Tumultuarische dieser Niederkunft noch durch Tänze und Fangspiele mit Santana auf die Spitze getrieben. Beteiligt an dieser großen Unruhe waren außerdem eine Photographin, die von allen Phasen des Geschehens eine Aufnahme machte, und Remmi, der Vater des erwarteten Kindes, der die Tonbandkassetten für den Geburtsschrei ablaufen ließ.
Als das Kind da war, hatte Pille die Empfindung, die Grenze ihrer Belastbarkeit erlebt zu haben. Noch in der gleichen Nacht räumte sie die Kaffeetassen und Aschenbecher weg, das ganze sich türmende Geschirr der Freunde. Und am darauffolgenden Morgen brachte Pille in einer Plastiktüte die Nachgeburt ins Krankenhaus, um nachsehen zu lassen, ob alles stimmt.
In Pilles Schönheit sind Spuren von Verwüstung enthalten. Neben ihr wirkt das Halbblut Remmi, ihr sehr junger Freund, wie ein manikürter Ganove, der, in vorgewärmten Frotteetüchern liegend, Zigarre rauchen könnte. Die Tätowierung um sein Pockenimpfmal ist nur ein Blümchen, das ihn keiner rauhen Lebenslaufbahn zugehörig macht. Immer geduscht und gecremt und immer unansprechbar, wenn die Rede auf das Skelett kommt, steht er am Spülstein.
Er schnitzt von einem unergiebigen Knochen das Fleisch für eine Mahlzeit ab und brät es. Neben ihm liegt ein mit Schmutz panierter Rinderschädel, das Geschenk eines türkischen Metzgers. Pille sagt: »Den Kopf kriegt der Hund.«
So reflexhaft schnell wie Pille, die ehemalige Junk-Frau, eine Ermordung Ingrid Rogges ausschließt und an einen Drogentod glaubt, klingt es wie besseres Wissen, ist aber eine Verteidigung des Milieus. Da der Schädel der Rogge eine Druckstelle hatte, könnte sie auch vollgefixt gegen das Treppengeländer geknallt sein. Daß die Tote in eine Plane verschnürt war, ist Pille kein Hindernis für ihre Version. Fixer entledigen sich manchmal eines »natürlich« Gestorbenen, um eine polizeiliche Befragung zu vermeiden, und laden ihn irgendwo ab. Diese Praxis ließ das Gerücht aufkommen, im Grunewald gebe es einen Fixer-Friedhof. In dem großen,
durch Wandbehänge, Schaffelle und Scheibengardinen wohnlichen Fabrikraum hängt, wenn Pille redet, Remmis Unbehagen. Das macht er hörbar, wenn er hart in der Pfanne rührt oder die Klappe des Ofens zuschlägt. Remmi rangiert als »linke Bazille« im Milieu. Eine Mutmaßung im Fall Rogge könnte ihn das Nasenbein kosten. Das einzige, das er sagt, ist: »Ich mache Abendabitur.«
Keiner ist keinem grün in der Waldemarstraße. Wer in der 31 wohlgelitten ist, ist in der 33 ein Schwein und in der 35 ein Faschist. Und umgekehrt. Jeder Entwurf, mit dem das Leben in einer Fabriketage grundsätzlich umzustülpen wäre, braucht Senatsknete. Und diese Knete sät Zwietracht. Rino entrumpelt schon seit vier Jahren seine Remise in der 32, die mal den Namen »Triebwerk« tragen und dem umfassenden Zweck »leben und arbeiten« dienen soll. Er hat einen Mundschutz umgebunden, wenn er die alten Bretter in den Hof knallt, deren Dreckwolken den Putz der gerade sanierten Seitenflügel wieder einschwärzen.
Rino bekam seinerzeit den Zuschlag gegen eine Kindertagesstätte. Zur Stimulierung dieser Entscheidung hatte Rino mit zwei Kästen Bier eine Horde Punker vom Kottbusser Tor mobilisiert, die für ihn Stimmung machten. Der Gegenkandidatin kippten sie eine Fuhre Mist auf den Schoß.
Ein Nutzungskonzept jagt und vertreibt das andere. Gestern gab es in der 35, der Backsteinfabrik, noch eine Punkerschule. Die Igel-Typen sollten von den U-Bahnhöfen weg und Hauptschulabschluß machen. Um ihren Widerwillen abzufangen, durften sie »saufen«, »pissen« und »kotzen« als Tuwörter konjugieren. Heute soll da eine Gäste-Etage rein für die Rucksackreisenden, die im Sommer durch ihre Überzahl die besten WGs kaputtmachen. Ihrer Mauerlage wegen und der Freaks mit ihrem Lebensblues wurde die Waldemarstraße, und speziell die 33, zu einem Ausflugsziel wie die Rüdesheimer Drosselgasse. Nach dem Wort »Mama« konnte Simones Kind »Touristenbus« aussprechen .
Das Jahr 1979, in dem Ingrid Rogge umkam, war ein Höllenjahr für die Waldemarstraße 33. Im März wurde das 4. OG im 3. Hof besetzt, die erste als Besetzung deklarierte Wohnraumbeschaffung in Berlin. Auf den Matratzen dieses Stockwerks mit seinen 640 Quadratmetern lagen Aktivisten von verschiedenstem Engagement. Unter ihnen die »Stadtindianer«, die eine straflose Sexualität mit Minderjährigen forderten und ihnen ein »zärtliches Zuhause« geben wollten. Da in K 36 jeder dritte Vierzehnjährige kein zärtliches Zuhause hat und auf der Straße Feuer will für eine Zigarette, fühlten sich die »Stadtindianer« im Schlaraffenland.
Im 3. OG der »Walde« taucht in immer dichteren Zeitabständen der Staatsschutz auf, der nach RAF-Sympathisanten und Angehörigen des 2. Juni sucht. Ganze »Bullenstaffeln« auf den Treppen der beiden Aufgänge, krachend und dröhnend an den Türen, die schon splitterten, bevor sie geöffnet werden konnten. Eine Hundertschaft quillt herein, die Etage in die Zange nehmend, und macht »Hügellandschaft«. Kurzes Anheben der Tische, hart gezogene Schubladen werden ausgekippt und Regale umgestürzt. In der Lederwerkstatt hageln 3000 Nieten auf den Boden; das sind in Fächer geordnet 3000 Oberteile, 3000 Mittelteile, 3000 Unterteile und 3000 Kugelkopfteile, nicht gerechnet die Knöpfe, Reißverschlüsse, Nadeln, Garne und Locheisen.
Die Existenz der »Walde« begann 1974 mit einer Singer vom Sperrmüll. Sie gehörte Hütte, bevor sie allen gehörte. Hütte reparierte und nähte Lederklamotten, anfangs allein, dann zu mehreren. Für das schwarze Leder, das seinem Träger schon optisch eine Schlagkraft gibt, war der Markt enorm.
Die Jacke des Streetfighters hatte rundgenähte Schultern, gepolsterte Ellbogen, hier eine Tasche für den Knüppel, dort eine Tasche für das Piece; Ärmelreißverschluß, Kragenreißverschluß bis übers Kinn gegen erkennungsdienstliche Photos. Rockermonturen, Niete an Niete gestanzt und lanzendicht, am Gemächte dick vorgebeult wie ein gekrümmter Boxhandschuh; Sondermodelle für einsame Wölfe mit rätselhaft verlaufenden Reißverschlüssen- Motorradkombis für Paare, diese nicht immer höllenmäßig schwarz, sondern auch farbig paspeliert.
»Haste Lederkummer, ruf die Waldenummer«, reine Maßarbeit, nach außen »auf Stange«, damit es nur über Industrie- und Handelskammer läuft und das Handwerk nicht anrückt. Hütte schrieb eine Anleitung zum Ledernähen vom Umfang einer Doktorarbeit. Wie ist eine Brustpartie zu lösen, die mehr Taschen haben soll als ein Schreibsekretär Schubladen? Zehn Leute konnte die Lederetage ernähren. Und Hütte, der nachbebende 68er, der »Geborgenheit im Strom einer Bewegung« suchte, mehr wollte als nur eine florierende Manufaktur, kam mit der Idee, Theater zu machen.
Ins »Walde-Theater« flossen die Überschüsse aus der Lederfabrikation. Die Stücke waren grob gebaut, pointiert auf das Fazit hin »Allein machen sie dich ein« und unterlegt von »Ton, Steine, Scherben«. Der Erlös ging an die Anwälte »eingefahrener« Genossen; »Knastarbeit« und »Knastpakete« wurden finanziert, tausend Mark von einer Aufführung vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche für Inhaftierte in Madrid überwiesen. Die Mitwirkenden trugen Lederjacken mit dem Emblem »Walde-Theater« auf dem Rücken, was die exklusivste »Kutte« in K 36 war, das Kleidungsstück der obersten Kaste.
Mit immer weiteren Tourneen, einmal bis nach Holland, größeren Kulissen in immer mehr Autos mit immer mehr Menschen scheiterte das »Walde-Theater« an der Zerstrittenheit seiner Beteiligten. Es war das gängige Ende eines Kollektivs. Zerfließende Zuständigkeit, delegierte Pflichten, und Chef, wo es gar keinen Chef geben durfte, war der methodische Hütte, dem die knappen Improvisationen über das Aushaltevermögen gingen.
»Die Walde« sympathisierte mit der »Bewegung 2. Juni«, die theoretisch nicht so opulent war wie die RAF und nach Hütte ohne deren »deutschen Untergangswillen«. Die Geiselnahme von Peter Lorenz, 1975, wurde dem »2. Juni« wie ein Bubenstück abgenommen. Der Schlag mit dem Besenstiel auf den Kopf des Chauffeurs, der nichts als eine Beule davongetragen habe, galt als volksnahe Prozedur, noch übertroffen davon, daß Geld aus den Anzugtaschen der Geisel an Berliner Rentnerinnen überwiesen wurde, von denen Bittbriefe im Aktenkoffer des Opfers gesteckt haben sollen.
Als 1977 nach »Mogadischu« und den Toten von Stammheim der Staat zum Endsieg ausgeholt und zur Verfolgung der Stadtguerilla so aufgerüstet habe, daß »er wirklich plattmachen konnte«, zog in »die Walde« die Angst ein. Der Bruch
mit der Gesellschaft durfte nur noch gedacht werden. Die Bewohner ließen das Agitieren sein und saßen über den Ledernähmaschinen. Von dieser totalen Häuslichkeit profitierte das Kommuneleben.
Ein Kamin wurde gebaut, vor dem die Gemeinschaft kiffend versammelt war, wenn im Morgengrauen wieder eine »viehische« Razzia alles aufmischte. Das hängende Bett entstand; eine viersitzige, gemauerte Badewanne, zwei Meter mal zwei Meter fünfzig, eine galante Anlage, aus zwei Becken bestehend, in der Mitte getrennt durch eine Ruhekonsole. Daneben ein Klo, auf dem, während gebadet wurde, ungehemmt die Notdurft verrichtet werden sollte. Dieses Konzept einer umgekehrten Klösterlichkeit war jedoch schon gestorben, bevor der Mörtel der Bauarbeiten trocknen konnte.
Weder hat Hütte, der antreibende Visionär, von dem die Ideen all dieser Installationen kamen, während einer Badestunde auf dem Klo gesessen. Noch hat er auf dem schaukelnden Kommunebett geliebt. Denn »die Walde« hatte auch das Modell der besitzlosen Liebe angespielt. Es bereitete aber nur Kummer und schlug fehl. Und gleichzeitig hinderten die Paare den Betrieb. In ihrer akuten Phase waren sie entweder abwesend oder nur unausgeschlafen dabei.
Es war eine kurze Ruhe. Sie endete, als eine Rotte von Züri-Leuten »eingeritten« kam. Frauen und Männer in schweren Lederkutten, gepolt nur auf »Ente oder Trente«. Sie brachten Junk in »die Walde«, im Gefolge die Gelbsucht und Schulden. Die halbe Brigade drückte und war dennoch »druff wie die Sau«, palavernd, bis es hell wurde. Angst war denen keine Kategorie. Auch wenn täglich ein weiteres Photo durchgekreuzt war auf dem Fahndungsplakat des BKA.
Die Schweizer entließen ihre Frauen auf den Strich, was als höherwertiges Zuhältertum zu gelten hatte, da mit dem Geld Spritkosten gedeckt und auch mal ein Stück Eisen gekauft wurde am Bahnhof Zoo. Mit diesen Gästen geriet »die Walde« in eine immer enger werdende Spirale des Sympathisantentums. Die Eigenschaft, Genosse zu sein, doch kein Desperado werden zu wollen, brachte Nötigung in die Etage.
»Die Walde« befand sich in einer unbremsbaren, nach allen Richtungen auseinanderfahrenden Solidarität. Sie war dem Kollabieren nahe; und dazwischen irrlichterte noch Katharina de Fries mit ihrem Banditen-Mythos. Mit den nobelsten Motiven plante sie, »eine Bank zu machen«. Sie war Mitte Vierzig, Mutter von vier Kindern und von jener revolutionären Hochgestimmtheit, die eine geborgene Herkunft manchmal abwirft. Vor allem wollte sie einen Roman schreiben, für den sie ein extremes Leben brauchte. Im ständigen Wechselbad zwischen ihrer Schöneberger Warmwasserwohnung und ihren passageren Aufenthalten in der »Walde« stellte sie immer schärfere Ansprüche auf die politische Tat.
(Als sie 1980 mit einer Schreckschußpistole die Geldbomben eines Supermarktes an sich bringen wollte, wurde Katharina de Fries festgenommen. Nach einem Monat Haft in Berlin Freilassung auf Kaution. Sie verschwand nach Frankreich. Ihr Roman »Der gestreifte Himmel« erschien 1983.)
Hütte verließ Ende 1978 »die Walde«, für deren ideologisch aufwendige Existenz er keine Nerven mehr hatte. Er habe durchgedreht und sich rausschmeißen lassen. Ohnehin war er eine Reizfigur: zehn Jahre älter als die anderen und von der ungemütlichen Willensstärke, eine Idee nach ihrem Zeugungsakt auch zu verwirklichen. Hütte bekam Kiez-Verbannung, als wollte man sich rächen für das Lob, das man ihm lange singen mußte. Für ihn paßt der Tod von Ingrid Rogge, die nähen konnte und eine kleine Vergangenheit hatte als Lederbraut, sehr gut in das Katastrophenjahr 1979.
In der Waldemarstraße ist es schwer, es jemandem recht zu machen. Eine Architektin geht mit Sonnenblumenkernen säend durch die Höfe, und über der Vorstellung, daß diesen verölten und übernutzten Böden eine Blume abverlangt werden könnte, lacht sich der Bauschlosser Blühdorn einen Ast. Blühdorn war der erste deutliche Kapitalist der Straße. Seinem neuen Mercedes, wird erzählt, haben die Kinder die Kotflügel abgeleckt. Da ihm seine Rubrizierung nie peinlich war, sondern ganz im Gegenteil er sein wirtschaftliches Gelingen im Kontrast zum »Murks der Chaoten« erst richtig erlebte, war Blühdorn ein geachteter Feind.
Das härtere Geschäft in diesem opponierenden Milieu betreiben die Blockarchitekten und Sozialplaner, die sich hineindenken in die nie versiegende Wut der Opponenten. Ihrem Entwurf für eine Hinterhofbepflanzung mit wildem Wein und Paprikaschoten, Schattenbereichen zum Sitzen und einem Indianer-Tibi für die Kletterbohnen, erwachsen die Gegner schneller, als die Planer ihn erörtern können. Verständnis wird mit harter Münze zurückgezahlt. Einmal war es ein Aschenbecher vom Gewicht einer Hantel. Wer die Bullen holt, hat abgemeldet. Der sollte zusehen, daß er in die Hufe kommt und eine Flocke macht. Sonst kriegt er noch einen Satz Ohrenwärmer verpaßt; aber nur zur Betäubung. Wer liegenbleibt, ist epileptisch.
Noppe strotzt vor Gerechtigkeit. Während er redet, tippt er mit einem Finger gegen den Punchingball, der zwischen Fußboden und Decke seines Zimmers vibriert. Wer Noppes Faust noch nicht im Gesicht hatte, muß ihn sympathisch finden. Er ist kein typischer Nichtnormaler, sondern ohne alle Requisiten des Milieus. So sauber, wie er zuschlägt, spricht er auch; keine unklaren Halbgedanken, die mit den Wörtern »feeling« oder »drauf sein« sich über die Klippe der Aussage retten. Wovon der Bulle träume, sagt er, sei »ein Pfiff im Hof, und dreißig Vermummte stürzen runter«. Für die über sechs Jahre unentdeckte Tote auf dem Speicher hat er eine technische Erklärung: Sie muß in der Schüttung aus Schotter und Sand zwischen den Balken gelegen haben.
Wenn Noppe sich aufrichtet, reicht allein seine Erscheinung, mit deren Wirkung er wie mit einem gezückten Revolver spielen kann. Noppe ist aber Sanguiniker und regt sich schnell auf. Nach dem Zuschlagen, nachdem sein Gegenüber unten liegt, sagt er: »So, damit Ruhe ist!« Noppe sorgt sich um die Aufweichung des Milieus. Aus K 36 werde langsam Harlem; das Trendgesindel sei im Vormarsch; es mache aus dieser Armutsecke eine Altstadt und eröffne weiße Kneipen mit Eßzwang.
In diesen Zusammenhang geriet Dieter mit seinem »Frontkino«, das im 1. Stock des 3. Hofes der Waldemarstraße 33 lag. Er wurde zu einer negativen Sammelgestalt der Aufweichung. Denn sein Publikum kam scharenweise aus dem Westen jenseits vom Kottbusser Tor, wo die suspekte Welt beginnt. Die Vertreibung von Frontkino-Dieter verlief stufenweise.
Zuerst wurde er geschlagen. Da er Angst vor Rache hatte, zog er seine Anzeige bei der Polizei zurück. Dennoch blieb er überfällig. Daß er zu verschwinden habe, wurde ihm mit gesprühten Hinweisen auf den Hauswänden beigebracht, die, je sachter sie ausfielen - »Didi nach München« -, um so stärker bedrohlich waren.
Die in grünes Gummi gekleideten Männer, die am 27. September 1985, freitags, die Überreste der Rogge auf einer Bahre aus den Höfen trugen, mußten für Dieter etwas einmalig Schreckliches gesehen haben. Das hätten bei aller Kühle ihrer Berufsausübung die Gesichter verraten. Dieter steckte in den Vorbereitungen seines letzten, für diese Gegend seltsamen Festes. Es war für den Abend in den Scenezeitungen mit Querflöte, Schubert-Liedern und Perücken annonciert. Zur romantischen Akzentuierung hatte Dieter die Wegstrecke durch die drei dunklen Höfe mit Windlichtern flankiert. Sie waren gerade angezündet, als die Männer mit der Bahre erschienen. Icke aus der »Walde« fragte den unwissenden Dieter: »Macht ihr Totenfeier?« Und die Woche darauf stand in »Tip«, das Skelett und die Windlichter in Zusammenhang bringend, nur um der Pointe willen das Wort »Kannibalismus«.
Für den Teppich auf dem Knochenbündel wollten die Phönix-Rocker geradestehen. Sie waren sicher, diesen Teppich 1979 in ihrer Klubhütte im 4. OG des 3. Hofes der Waldemarstraße 33 als Windfang gegen die Zugluft vom Nachbarspeicher benutzt zu haben. Auf dem undeutlichen Photo, das ihnen die Mordkommission Keithstraße vorlegte, konnten sie ihn jedoch nicht als ihr Eigentum bestätigen.
Die Phönix gelten für die Szene der Waldemarstraße nur noch als gute Berliner, die arbeiten gehen, um im Frühjahr ihre Motorräder wieder anmelden zu können. Diese Einschätzung gibt ihnen Meinungsfreiheit. Sie brauchten ein Mitwissen nicht zu meiden und erlauben sich ohne Bedenken einen Zustand der Ratlosigkeit. Die Leiche der Rogge müsse nachträglich auf dem Speicher deponiert worden sein, obwohl es schwer sei für einen Fremden, ein so langes Paket unentdeckt vier Treppen hochzutragen.
Die Todesumstände der Ingrid Rogge, die über ihr Zahnschema identifiziert wurde, sind bis heute ungeklärt. Nach ihrer Einäscherung in Berlin am 14. Januar 1986 konnten die Eltern, die vier Monate lang täglich darauf warteten, die Urne im Saulgauer Rathaus abholen zu können, ihre Tochter am 27. Januar 1986 beerdigen. Da die Urne nur das ungefähre Todesdatum »circa 1979« trug, war die in Trauer versackte Beruhigung der Eltern, ein kurzes Gastspiel in Berlin habe einen schnellen Tod gebracht, wieder zunichte. _(Rechts: Photo ihres Neffen Markus. )
Links: Remisen-Entrümpler Rino.Rechts: Photo ihres Neffen Markus.