BALKAN Der unmögliche Auftrag
An einem schönen Sommertag Ende Juli war der deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger auf dem Weg in den Urlaub. Er fuhr auf der Autobahn Richtung Salzburg, als das Telefon klingelte. Ein Freund, dachte er sich, mit dem er und seine Frau für den »Jedermann« bei den Festspielen verabredet waren. Kurz darauf war es mit der Urlaubsfreude und dem überschaubaren Leben als Botschafter in London erst einmal vorbei.
Nicht ein Freund, sondern Frank-Walter Steinmeier rief an, der deutsche Außenminister. Die beiden kennen sich seit den ersten wilden Tagen der rot-grünen Regierung, sie vertrauen einander, sie duzen sich. Wolfgang, sagte Steinmeier sinngemäß, ich mache dir jetzt ein Angebot, das du nicht ablehnen kannst. Wir nehmen die Verhandlungen ums Kosovo wieder auf, es wird eine Troika gebildet, ein Russe, ein Amerikaner und du, wobei du aber nicht für unser Land allein verhandelst, du wirst vielmehr die Stimme aller 27 EU-Mitglieder sein. Und da das Kosovo ein europäisches Problem ist, wirst du die Verhandlungen führen. Komm nach Berlin, alles Weitere bereden wir dann.
Das war ein Schock für den urlaubsgestimmten Diplomaten, aber auch ziemlich viel Ehre. Es kommt selten vor, dass sich die Europäische Union allein von einem Diplomaten vertreten lässt. Wenn es um den Nahost-Konflikt oder das iranische Nuklearprogramm geht, sind die Deutschen dabei, aber immer auch andere Länder, präventiv gelegentlich, damit Deutschland, die ökonomische Vormacht Europas, die prestigesüchtigen Engländer, Franzosen oder Italiener nicht in den Schatten stellt. Die Deutschen, das ist die ganze Wahrheit, begnügen sich jedoch auch gern mit einer Rolle im Kollektiv.
Das Kosovo ist anders. Der Krieg um die kleine, arme serbische Provinz im Frühjahr 1999 bedeutete eine Zäsur für die deutsche Außenpolitik: Zum ersten Mal nach der Gründung 1949 nahm die Bundesrepublik an einem kriegerischen Konflikt teil. Ischinger war damals Staatssekretär im Auswärtigen Amt und rechtfertigte den Krieg in Radio wie Fernsehen. Er machte seine Sache so gut, dass er das Missfallen seines Außenministers, der damals Joschka Fischer hieß, erregte. Ischinger kennt sich aus im Kosovo, er kennt die Leute, auf die es dort ankommt.
Zehn Minuten nach dem ersten Anruf klingelte wieder das Telefon. Diesmal rief Christoph Heusgen an, der außenpolitische Berater Angela Merkels. Was ihm Steinmeier mit freundschaftlicher Bestimmtheit gesagt hatte, bekam Ischinger noch einmal in formeller Ansprache zu hören: Die Kanzlerin bittet Sie, die Verhandlungen zu führen und darauf zu achten, dass sich alle 27 EU-Staaten informiert fühlen.
Es war alles andere als einfach gewesen, Ischinger als Verhandlungsführer bei Javier Solana, der in der EU für Außenpolitik zuständig ist, durchzuboxen. Romano Prodi wollte lieber einen seiner engsten Vertrauten schicken. In Paris gibt es einen Außenminister, Bernard Kouchner, der sich für die erste Autorität in Fragen des Kosovo hält. Er war zwischen 1999 und 2001 internationaler Administrator der Provinz. Unvergessen ist sein Auftritt in der Neujahrsnacht auf der Brücke im geteilten, geschundenen Mitrovica, einen Friedenszweig in Händen, eine nette, aber unpassende Geste.
Die Briten gaben durch die Blume zu verstehen, dass sie allzu viel Emsigkeit für abträglich hielten. Die Spanier befürchteten Auftrieb für die Separatisten im eigenen Land, wenn sich die EU für die Unabhängigkeit des Kosovo ins Zeug legte. Viele Animositäten, viele Klaviere, auf denen Ischinger fortan spielen musste.
Die anderen beiden Mitglieder der Troika standen rasch fest. Da war Frank Wisner, 69 Jahre alt, ein Veteran der US-Diplomatie, Botschafter unter anderem in Indien. Übrigens ist er familiär mit Nicolas Sarkozy verquickt: Seine Frau war vorher mit Paul Sarkozy verheiratet, dem Vater des Präsidenten. Die Russen schickten Alexander Bozan-Chartschenko, 50, im Rang eines Sonderbeauftragten des Außenministeriums.
Jeder der drei stand unter Weisungen von daheim, allerdings unterschiedlichen: Die amerikanische Regierung setzt sich für die Unabhängigkeit des Kosovo ein. Die russische Regierung wehrt sich gegen die Veränderung des Status quo, Kosovo soll bleiben, was es ist: eine serbische Provinz. Einen umfassenden Plan fürs Kosovo, ausgearbeitet vom Finnen Martti Ahthisaari, hatte Moskau im Uno-Sicherheitsrat abgelehnt und somit zum Scheitern gebracht.
Die Deutschen wollten es noch einmal versuchen. Dabei war ihr Hintergedanke, dass am Ende sämtliche 27 EU-Staaten eine gemeinsame Haltung gegenüber dem kleinen Gebilde auf dem Balkan haben sollten. Keine Extratouren, ein einiges Europa. Wenigstens das.
Ischinger, 61, schien der ideale Diplomat für vertrackte Verhandlungen zu sein, da er es versteht, als Zögling der Genscher-Schule, Widerstrebende ins Gespräch zu ziehen und einen nicht vorhandenen Spielraum Millimeter um Millimeter zu erweitern. Wenn es um multinationale Krisendiplomatie geht, laufen deutsche Spitzendiplomaten oft zu großer Form auf. Das haben sie in der alten bipolaren Welt gelernt, dann sind sie ganz bei sich. So
schlägt die Diplomatie manchmal der Politik Schneisen. Manchmal wird sie aber auch zum Selbstzweck, zum Spiel auf Zeit.
Da die Alternative finster zu sein schien, neues Morden im Kosovo und womöglich auch in Bosnien, fanden sich Russland und Amerika bereit zu einer neuen Verhandlungsrunde, den Status quo friedlich zu verändern. Es zeigte sich, dass die drei gut gewählt waren. Ischinger, Wisner und Bozan-Chartschenko waren sich zu schade für eine reine Schauveranstaltung, für eine Zirkusnummer.
Die knappe Zeit sorgte für wohltuenden Druck. Am 10. Dezember, an diesem Montag, erwartet der Uno-Generalsekretär den Bericht der Troika.
Blieben knapp vier Monate für eine fast unmögliche Mission. Daraus entwickelten sich spannende, manchmal dramatische Sitzungen mit den Serben und Albanern, mit Demonstrationen der Empörung und lautstarkem Schlagabtausch. Dann wieder blitzte die Chance zum Durchbruch auf, immer dann, wenn die Troika als Einheit auftrat. Vieles war drin, mehr jedenfalls, als die drei anfangs gehofft hatten.
Die Verhandlungen um das Kosovo sind mittelgroßes Welttheater, weil die Vereinigten Staaten von Amerika und Russland, die Vereinten Nationen sowie die Europäische Union darin verwickelt sind. Sie lassen sich nun in ihren wichtigsten Phasen rekonstruieren: ein komplizierter Akt der Diplomatie in der Binnenschau.
Kleines schwarzes Loch
Das Kosovo ist ein kleiner Landstrich im Zentrum des Balkans. Anders als Kroatien oder Bosnien bietet er europäischen Urlaubern nichts, und deshalb ist es leicht, ihn aus dem öffentlichen Bewusstsein auszublenden. In die Nachrichten schafft es diese Weltgegend höchstens dann, wenn deutsche Soldaten in Prizren angegriffen werden, wenn ein amtierender Ministerpräsident, zum Beispiel Ramush Haradinaj, wegen Kriegsverbrechen in Den Haag angeklagt wird oder eine Statistik herauskommt, die besagt, dass 80 Prozent des Heroinhandels seinen Weg nach Westeuropa über diesen Teil des Balkans nimmt.
Die Provinz ist ein Zerfallsprodukt des alten Jugoslawien. Mehr als 90 Prozent der rund zwei Millionen Einwohner sind Muslime, ohne dass der Koran eine tragende Rolle spielen würde. Etwa 100 000 Serben leben noch hier, die alte Herrenschicht. Völkerrechtlich ist das Kosovo ein Teil Serbiens. Dieser Status sei seit dem Krieg unhaltbar geworden, sagen Europäer und Amerikaner und natürlich auch die Albaner. Jetzt geht es darum, wie die beiden verfeindeten Völker zusammen leben können und sollen.
Der Uno und der Europäischen Union ist das Kosovo wichtig und teuer: Rund 16 000 Soldaten einer multinationalen Truppe schützen die Albaner vor den Serben und die Serben vor den Albanern. Die zivile Oberhoheit hat die Uno eingerichtet. Die EU pumpt Jahr für Jahr ungefähr eine halbe Milliarde Euro in den »westlichen Balkan«. Die Weltgemeinschaft versucht, eine Polizei und eine Armee, Richter und Beamte, eine Verfassung und Gesetze aufzubauen. Sie fing bei null an, denn auf alle Institutionen hatten die Serben bis 1999 ein Monopol.
EU und Nato betreiben das, was anderswo »Nation-Building« heißt. Das Kosovo ist ein Nato-Staat, sagen die Einheimischen. Das Kosovo ist ein schwarzes Loch, in das enorme Summen gepumpt werden, an denen sich Geschäftemacher, Schmuggler und das organisierte Verbrechen bereichern, sagen die Illusionslosen unter den »Internationalen«, so nennen die Einheimischen die Abgesandten von Uno und EU.
Zum ersten Mal traf sich die Troika mit den Teams aus Serbien und dem Kosovo am 30. August im Wiener Außenministerium. Zunächst waren das im Diplomaten-Jargon »Rücken-an-Rücken-Gespräche«. Die drei sprachen zuerst mit der einen Partei, dann mit der anderen. Ischinger versuchte, den Ton zu setzen: Wir sind mit dem Willen zusammengekommen, Ihnen
eine Gelegenheit zum Diskutieren zu geben. Wir wollen zuhören, wir werden Sie nicht aufs Glatteis führen, Sie müssen aber wissen, es ist Ihre letzte Chance.
Zum serbischen Team gehörte Vuk Jeremic, der 32 Jahre junge Außenminister, der in Harvard studiert und bei der Deutschen Bank in London gearbeitet hatte, aber in der internationalen Politik wenig Erfahrung besitzt. Das Wort führte Slobodan Samardzic, der serbische Kosovo-Minister mit einer Vorliebe für Powerpoint-Präsentationen und dem Hang zu ermüdenden Wiederholungen. Serbien sei bereit, wesentliche Teile der staatlichen Gewalt ans Kosovo abzutreten, sagte er mit dem Anschein der Großmut - die Provinz sollte die Autonomie gewährt bekommen, die sie schon besitzt. Ob das ein Statement zur Eröffnung von Verhandlungen sei?, fragte Ischinger nach. Ja, war die Antwort. Die Serben ließen mit sich reden, immerhin.
Zu den erfreulichen Zeichen gehörte auch, dass der Serbe Marko Jaksic still blieb, ein blendend aussehender Arzt aus Mitrovica, der sich sonst durch lange kompromisslose Reden auszeichnet. »Dr. Njet«, so heißt er deshalb, glaubt daran, dass Krieg die Folge sein wird, wenn der Westen das Kosovo in die Unabhängigkeit entlassen sollte. Anders als 1999 würde dann Russland an der Seite Serbiens stehen, gegen Amerika und die Nato.
Ischinger erzählte in Wien wie beiläufig davon, wie vor vielen Jahren die Westdeutschen und die Ostdeutschen einmal über alles Trennende hinweg einen Vertrag geschlossen hatten. Er meinte den Grundlagenvertrag von 1972, zehn Artikel auf zwei Seiten, die das Nebeneinander der beiden deutschen Staaten regelten und die deutsche Frage ausklammerten. So konnte die Bundesrepublik am Ende argumentieren, die deutsche Frage sei offen, und die DDR, die deutsche Frage sei nicht mehr offen.
Lassen Sie uns doch auch hier die praktischen Dinge lösen, schlug Ischinger vor. Serbien ist Serbien, Kosovo ist Kosovo, beide regeln die wirtschaftliche Zusammenarbeit, bilden gemeinsame Gremien und klammern den Statusstreit - Provinz oder Unabhängigkeit - erst einmal aus.
Bewegung im Stillstand
Die Albaner waren nicht amüsiert über diesen Anfang: Sie wollen eine Flagge, eine Hymne, ein Staatssiegel. Sie wollen los von Serbien. Sie wollen einen eigenen Staat, die Unabhängigkeit. Aber was bedeutet Unabhängigkeit?
Die Troika sollte Kompromisse ausloten. Für den Fall ihres Scheiterns würde der Ahthisaari-Vorschlag in Kraft treten: Die Uno zieht sich zurück, das Kosovo wird zum EU-Staat. Ein EU-Abgesandter übt die zivile Gewalt aus, er kann Minister einsetzen und entlassen. Die multinationale Truppe untersteht dann ebenfalls der EU. Die Unabhängigkeit des Kosovo steht auf viele Jahre unter Vorbehalt.
Das albanische Team trat stets in voller Besetzung an. Fatmir Sejdiu, 56, führte es an, der Präsident des Kosovo, ein Jurist. Ministerpräsident Agim Çeku, 47, war Artillerieoffizier in der jugoslawischen Volksarmee, ehe er sich den albanischen Guerilleros anschloss, der UÇK. Die Serben brachten seinen Vater und andere Familienangehörige um, ersatzweise, weil sie ihn nicht töten konnten. Solche Tragödien sind oft genug der Wurzelgrund des Hasses auf alles Serbische im Kosovo.
Çekus Nimbus ist noch immer groß, er gilt, im Unterschied zu den anderen einstigen Warlords, die aus den Wäldern an die Macht gelangten, als nicht korrupt, als ehrenwerter Soldat, allerdings ohne großes Talent für die Politik.
Ischinger und Wisner fanden den größten Gefallen an Veton Surroi, 46. Er ist, eine Ausnahme im Kosovo, in der Welt herumgekommen. Sein Vater war Diplomat zu Titos Zeiten, er wuchs in Spanien und Lateinamerika auf. Zurück in Pristina,
gründete er 1997 »Koha Ditore«, die bald zur größten Tageszeitung aufstieg.
Den Albanern behagte das deutsche Modell nicht. Sie stiegen in die Archive und legten beim nächsten Treffen den deutschfranzösischen Vertrag von 1963 vor. Ministerpräsident Çeku sagte listig, darin seien ja auch praktische Dinge des Alltags beider Länder geregelt. Darauf würde er gern aufbauen, daraus wolle er einen Vertrag entwerfen. Die Albaner wollten Statusfragen nicht ausklammern, im Gegenteil, sie verlangten von Serbien die Anerkennung als eigener Staat. Die alte Maximalforderung.
Die Albaner waren aus ihrer Sicht einen weiten Weg gegangen. Präsident George W. Bush hatte ihnen öffentlich die Unabhängigkeit versprochen; darauf verließen sie sich. Aus diesem Grund stimmten sie der internationalen Aufsicht über ihren Staat zu. Ihr Bedarf an Kompromissen war gedeckt. Für sie stand in Stein gemeißelt, dass die Troika ihnen nichts mehr abverlangen durfte.
Allein die Serben konnten das Gebäude zu Fall bringen: durch Zugeständnisse.
Ischinger ging vor dem nächsten Treffen auf Tour durch die europäischen Hauptstädte. Er sprach mit Steinmeier, mit dem quirligen Kouchner, mit Javier Solana, mit dem Briten David Miliband und dem rumänischen Präsidenten Traian Basescu. Die Leute im italienischen Außenministerium beschworen Ischinger, die Verhandlungen müssten zu etwas führen, zu irgendetwas, was keinen Exodus der Albaner übers Meer nach Italien auslöse.
In New York saßen sich am 28. September Serben und Albaner zum ersten Mal direkt gegenüber. Die Troika dachte sich ein strenges Reglement aus: Jeder von ihnen gab einführende Betrachtungen zum Besten, dann durften die Serben eine halbe Stunde antworten, worauf eine Pause eingelegt wurde. Dann ein Statement aus der Troika und 30 Minuten Gegenrede der Albaner, dann das Ganze wieder von vorn.
Wie befürchtet, entstand daraus ein Austausch der sattsam bekannten Maximalpositionen. Die Kontrahenten legten ein Zeugnis ihres Unwillens ab, miteinander zu verhandeln. Diplomatie kann sich zur Übung in Langmut auswachsen.
Bislang hatte sich die Troika damit begnügt, Serben und Albanern in erster Linie zuzuhören. Die drei verhielten sich neutral wie Therapeuten. Das änderte sich nun. Ischinger holte sich das Mandat, die Initiative an sich zu ziehen. Die Troika wollte dort anknüpfen, wo sich etwas bewegt hatte, am deutsch-deutschen Modell.
Schimmer einer Hoffnung
Im Oktober trafen sich die Delegationen in Brüssel und Wien. Die Troika legte 14 Punkte vor, das Substrat der bisherigen Verhandlungen, die ihrer Meinung nach unstrittig waren. Einer der Punkte lautete: Serbien übt keine Regierungsgewalt über das Kosovo aus. Bei anderen Punkten ging es um Zölle, Grenzkontrollen, um Praktisches. Die Serben lasen die 14 unanstößigen Punkte durch und entfesselten einen Tumult. Die Liste sei eine Zumutung, 11 der 14 Punkte seien albanisch gefärbt. Die Troika sei parteiisch. Die Serben taten so, als wären sie drauf und dran, die Verhandlungen zu sprengen. Ein künstlicher Wutanfall im Kollektiv.
Ischinger überlegte kurz und schlug dann mit gleicher Münze zurück. Was glauben Sie, was Sie uns zumuten können?, sagte er sinngemäß. Wollen Sie uns noch einmal viele Stunden mit Ihren Vorschlägen langweilen? Der eher staatsmännische Wisner stieß ins selbe Horn. Sogar der Russe sagte, so gehe es ja nun wirklich nicht.
Die drei waren einig. Sie hatten unterschiedliche Interessen, aber sie waren auch Diplomaten, die einem Auftrag nachkamen, und sie wehrten sich gegen das Empörungstheater der Serben. Als alle drei ihr Befremden losgeworden waren, herrschte Stille im Saal. Die Serben gaben eine Art Entschuldigung von sich. Die Troika hatte sich behauptet.
Mittlerweile hatte eine Arbeitsgruppe im Berliner Außenministerium für Ischinger einen Entwurf für das Kosovo nach dem Modell des Grundlagenvertrags geschrieben, zehn Artikel auf vier Seiten. »Keiner Seite fällt das Recht zu, in den Auswärtigen Beziehungen für den anderen oder in seinem Namen zu handeln«, stand da in Artikel 6. Artikel 8, ebenso wichtig, beschrieb »Angelegenheiten von gegenseitigem Interesse«, die sich von Handelsbeziehungen über Umweltprobleme bis hin zur Jagd auf Verbrecher erstreckten. Serbien und das Kosovo sollten sich wie unabhängige Staaten verhalten, ohne dass der Vertrag die Unabhängigkeit definierte. Ein schlauer Text aus der Traditionswelt der deutschen Diplomatie.
Wisner legte den Entwurf in Washington vor und erntete Anerkennung. Damit handelte es sich um eine deutsch-amerikanische Co-Produktion, nicht um einen Berliner Alleingang. Auch aus Moskau gab es Zeichen des Wohlwollens. Die Troika gab sich keinen Illusionen hin. Es machte den dreien aber plötzlich Spaß.
Ischinger reiste nach Moskau, um für seinen Entwurf zu werben. Er dachte, Außenminister Sergej Lawrow werde ihm einen Höflichkeitstermin gewähren und danach seinen Beamten überlassen. Es kam anders, der Minister nahm sich anderthalb Stunden Zeit und wollte über alle
Details der Verhandlungen reden. Ischinger trug seine deutsch-deutsche Lieblingsidee vor. Lawrow gab sich nicht sonderlich beeindruckt, sagte dann aber: Na gut, probieren Sie das mal aus.
Bozan-Chartschenko, der dabeisaß, sagte hinterher, das sei ein fabelhaftes Gespräch gewesen, er habe noch nie eine so klare Weisung von seinem Minister bekommen.
Ischinger war erstaunt: Das sollte eine Weisung sein? Egal, es ging voran, mühsam, aber voran.
Wie es weitergehen könnte, lag auf der Hand. Die Troika würde Albanern und Serben den Entwurf im November vorlegen, mit dem Hinweis, dass ihn die EU, Amerika und Russland befürworteten. Ischinger und Wisner wollten die Philosophie des Vertrags erläutern: Konzentriert euch auf die praktischen Dinge, lasst die Statusfragen in der Schwebe. Die Diplomaten nennen das ein »agreement to disagree«, eine Einigung, sich nicht miteinander zu einigen.
Jetzt wurde es spannend.
Es kommt, wie es kommt
Die entscheidende Figur unter den Serben war Ministerpräsident Vojislav Kostunica, ein kluger Mann, Juraprofessor. In der Tito-Zeit war er wegen Unbotmäßigkeit von der Universität verwiesen worden. Er schrieb über die amerikanische Verfassung, er schien beseelt zu sein von ihrer Freiheitsidee. Die Nato-Intervention und die Bomben auf Belgrad machten jedoch aus dem Amerika-Freund einen Amerika-Feind. Heute ist Kostunica ein Nationalist, allerdings kein Kriegstreiber wie Slobodan Milosevic, der die Balkankriege in den Neunzigern entfesselte und als angeklagter Kriegsverbrecher in Den Haag starb.
Immer wieder kam Kostunica auf den Aderlass Serbiens zurück, den Verlust von Slowenien, Kroatien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina. Und nun auch noch das Kosovo? Die Serben betrachten die Provinz als Wiege ihrer Nation. Auf dem Amselfeld erlitten sie eine historische Niederlage, im Jahr 1389. Auf dem Amselfeld liegen ihre heiligen Stätten und die serbisch-orthodoxen Klöster. Kostunica ließ in die Verfassung einen Passus schreiben, wonach das Kosovo ein Teil Serbiens ist.
Einfluss auf Kostunica haben offenbar nur die Russen. Außenminister Lawrow schien nicht abgeneigt, einen Vertrag, der die Dinge in der Schwebe ließ, in Erwägung zu ziehen, jedenfalls würgte er die Idee nicht gleich ab. Bozan-Chartschenko hielt das für eine Weisung. Dann aber änderte er sein Verhalten, aus Moskau musste eine neue Direktive gekommen sein. Was war geschehen, war Lawrow umgeschwenkt? Hatte der Kreml interveniert? Bozan-Chartschenko übte fortan hinhaltenden Widerstand, erhob Einwände, über
den Vertrag zu reden oder ihn gar schriftlich vorzulegen.
Am 5. November saßen sich Serben und Albaner wieder gegenüber. Ischinger und Wisner legten den Vertrag weder vor noch erwähnten sie ihn. Hätten sie es getan, wäre die Troika geplatzt. Serben und Albaner machten sich gegenseitig samtweiche Vorschläge über den künftigen Status. Wieder einmal erwogen sie das Hongkong-Modell, wonach in Pristina ein Albaner von Gnaden Serbiens regieren würde. Die Albaner lehnten routiniert ab; das war noch weniger als Autonomie. Wie wär's mit einer Konföderation? Diese Alternative ging den Serben zu weit und den Albanern nicht weit genug.
Wir treten Wasser, sagte Ischinger.
Tage später sprach er in Wien mit Kostunica unter vier Augen. Danach fühlte er sich bestätigt, dass es dem nationalkonservativen Ministerpräsidenten nicht um sentimentale Ansprüche auf das Amselfeld ging und auch nicht um die Serben im Kosovo, sondern um die Landkarte, um die Größe seines Landes.
Aber worum geht es eigentlich den Russen, worum geht es Wladimir Putin? Es geht ihm um neue Größe, um die Anerkennung als Großmacht auf der Grundlage von Öl und Gas. Für ihn ist das Kosovo ein Exerzierfeld, um den Europäern und vor allem dem amerikanischen Präsidenten die Grenzen der Macht vorzuführen. In einer Rede nannte Außenminister Lawrow »zwei rote Linien«, die der Westen nicht überschreiten sollte: das Raketenabwehrsystem in Tschechien und Polen; Unabhängigkeit für das Kosovo gegen den Willen Serbiens.
Am 20. November traf sich die Troika erneut mit den Konfliktparteien. Wisner und Ischinger loteten nun aus, wie weit sie gehen konnten. Der Amerikaner erläuterte den Vertragsentwurf. Sekunden danach warf sich Kostunica in Imperatorpose: Niemals werde Serbien sich auf ein derart hinterhältiges Machwerk einlassen. Erst müsse der Status geklärt sein, dann könnten praktische Dinge geregelt werden. Status vor Partnerschaft, so sei die Reihenfolge, nicht umgekehrt.
Es war vorbei.
Ischinger hatte alle Register gezogen, um seinen 27 Auftraggebern die Sicherheit zu geben, alles habe die Diplomatie versucht, einen Kompromiss zwischen Serben und Albanern zu erzielen. Die Amerikaner spielten mit, obwohl sie, wie Wisner zu Beginn sagte, neue Verhandlungen für Zeitverschwendung hielten. Russland ließ die Dinge laufen, eine Weile.
In Schloss Weikersdorf nahe Baden bei Wien traf sich die Troika mit Serben und Albanern am 26. November ein letztes Mal. Es brachte in der Sache nichts mehr, aber atmosphärisch. Abends versammelten sich die Delegationen im Rittersaal an einer langen Tafel. Der serbische Präsident Boris Tadic und Außenminister Jeremic saßen da, ihnen gegenüber Präsident Sejdiu, Ministerpräsident Çeku, dessen designierter Nachfolger Hashim Thaçi und der elegante Verleger Surroi. Sie mussten nicht mehr miteinander ringen. Sie redeten über ihre Söhne und Töchter, darüber, wie sie die Tito-Zeit verbracht hatten. Zivilisierte Menschen mit zivilisierten Sorgen.
Nur einer fehlte an der Tafel im Rittersaal, Ministerpräsident Kostunica, er wollte mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben, er speiste allein, umgeben von seinen Leibwächtern, in einem Restaurant.
Mittlerweile ist der Schlussbericht für den Uno-Generalsekretär fertig. Der Sicherheitsrat wird sich am 19. Dezember damit befassen.
Und was passiert jetzt im Kosovo? Hashim Thaçi, der Guerillero aus der UÇK, der bald Ministerpräsident sein wird, versicherte dem Westen mehrmals, das Kosovo werde nicht überstürzt seine Unabhängigkeit proklamieren. Thaçi und der serbische Präsident Tadic telefonieren angeblich dann und wann miteinander. Wird jeder von ihnen dennoch seine Leute zum Aufruhr anstacheln?
Für die multinationale Streitkraft im Kosovo ist Alarmbereitschaft ausgegeben worden.