PARTEIEN Der Weg in die Sackgasse
Eigentlich hat Glasgow durchaus hübsche Seiten, etwa seine großartige St.-Mungo-Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert oder die vielen, sorgsam restaurierten viktorianischen Bauten. Der Stadtteil Glasgow East gehört allerdings nicht zu den Vorzeigevierteln.
In Easterhouse kämpfen nachts die Jugendgangs mit Messern, Baseballschlägern und Kampfhunden um die Vorherrschaft auf der Straße, Alkohol und Graffiti bestimmen das Bild. »Hart zu leben, leicht zu sterben«, schrieb die Londoner »Times« über diese dunkelste Seite von Glasgows wildem Osten.
Ganz in der Nähe, in der Shettleston Road, zwischen langen Reihen zweistöckiger Häuser, lebt es sich ruhiger, aber kaum besser. Übergewichtige junge Frauen schieben Kinderwagen durch das Zentrum von Glasgow East, bunte Tattoos schmücken ihre Oberarme. In Fast-Food-Buden und Nagelstudios hocken ein paar Kunden, die Supermärkte sind leer wie das »Job Center«, die Arbeitsagentur gleich um die Ecke.
Nach Arbeit fragen? »Es gibt ja eh keine«, sagt der Pförtner gelangweilt. Fast jeder Zweite hier ist ohne Beschäftigung, ein Normalzustand für viele Familien.
»Gordon Browns Hinterhof« wurde Glasgow East gern genannt, bis vor kurzem jedenfalls. Kaum ein Wahlbezirk stand fester zur Labour-Partei als dieses alte Industrie- und Arbeiterviertel in der Geburtsstadt des britischen Premiers. Seit 1922 schickten die Wähler von hier ausnahmslos linke Kandidaten nach London ins Parlament.
Bis vorigen Sommer. Bei einer Nachwahl stürzte die Labour-Kandidatin Margaret Curran mit ihrer Partei um sagenhafte 19 Prozentpunkte auf 41,7 Prozent. Das Mandat ging erstmals seit 87 Jahren an die Vaterlandsgesellen der Scottish National Party. Und das war erst der Anfang.
Bei der Europawahl im Juni setzte sich der Abstieg fort. Nur noch 20,8 Prozent der Schotten (minus 5,6 Prozent) vertrauten Browns Politik, die Nationalisten erhielten 29,1 Prozent und wurden mit Abstand stärkste Partei. Im gesamten Vereinigten Königreich fiel Labour auf 16,1 Prozent, das Niveau einer Kleinpartei. Das reichte nur noch für Platz drei - ein Kulturschock für New Labour, deren Mitglieder noch vor wenigen Jahren für sich reklamierten, das moderne, coole Großbritannien zu verkörpern.
Hanzala Malik nennt das nüchtern »eine Erosion unserer Stammwählerschaft«. Und Malik muss es wissen. Er sitzt für Labour im Glasgower Stadtrat und hat die Katastrophe kommen sehen, anders als seine Parteiführung. »Es hat sie nicht interessiert«, sagt Malik, der schon Jahrzehnte in der Partei ist. Dafür wird sie jetzt bestraft.
Das Abschmieren der Sozialdemokraten ist nicht nur ein schottisches oder etwa britisches Phänomen. Das Elend hat beinahe die ganze europäische Sozialdemokratie befallen, wie ein hartnäckiges Virus.
In der Woche, in der die deutschen Genossen darauf hoffen, dass wenigstens noch jeder vierte Wähler am nächsten Sonntag sein Kreuz bei der SPD macht, stecken die Sozialdemokraten zwischen Malmö und Lissabon in einer Krise wie noch nie. Es scheint, als würde Lord Ralf Dahrendorfs Prophezeiung vom Ende des sozialdemokratischen Zeitalters mit 26-jähriger Verspätung doch noch Wirklichkeit werden.
Zum Anfang des neuen Jahrhunderts regierten Sozialdemokraten und Sozialisten in 12 von damals 15 EU-Ländern, sie waren auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Ganz im Sinne Gerhard Schröders verkündete Tony Blair stolz: »Wir sind die neuen Radikalen.« In gewichtigen Strategiepapieren wurde das Hohelied von der Modernisierung ihrer traditionellen politischen Ideen angestimmt: Der oft beschworene »Dritte Weg« sollte in die »neue Mitte« führen, um sozialdemokratische Politik »an objektiv veränderte Bedingungen anzupassen«. Und an neue Wählerschichten.
In Florenz trafen sich die beiden Vorzeige-Sozialisten mit Italiens Premier Massimo D'Alema, Frankreichs Lionel Jospin, US-Präsident Bill Clinton, dem brasilianischen Staatschef Fernando Henrique Cardoso sowie EU-Chef Romano Prodi zu einem »Gipfel der Modernisierer«. Sozialdemokratische Macher unter sich.
Von den Erneuerern ist inzwischen keiner mehr im Amt, ihr »Dritter Weg« hat sich als Sackgasse erwiesen.
Der Abstieg der Sozialdemokratie begann ausgerechnet in ihrer Vorzeigeregion Skandinavien. In Dänemark regiert seit 2001 eine Mitte-rechts-Koalition, 2006 verlor Göran Persson in Schweden, der Heimat Olof Palmes, die Macht an die neuen Konservativen. Die nennen sich dort Moderate, sie werden als eigentliche Modernisierer wahrgenommen und, ärgerlicher noch für die Genossen, als »moderne Sozialdemokraten«. Es folgte Finnland, auch Griechenland und die Niederlande gingen verloren. In Italien verschliss das sozialdemokratisch orientierte Parteienbündnis gleich reihenweise seine Führer: nach D'Alema und Prodi zuletzt den populären Ex-Bürgermeister von Rom, Walter Veltroni.
In Paris scheiterte Jospin, Blair musste 2007 den Platz für Brown frei machen. Vorigen September büßte Alfred Gusenbauer in Wien noch einmal sechs Prozentpunkte ein, es war das schlechteste Nachkriegsergebnis der SPÖ. Nachfolger Werner Faymann konnte die Macht nur mit Hilfe einer geschrumpften Großen Koalition noch einmal retten.
Seit der Europawahl stellen Europas Sozialdemokraten und Sozialisten nur noch ein Viertel der Abgeordneten im Europäischen Parlament - ein historisches Tief. Bei den Parlamentswahlen in Deutschland und Portugal drohen am Sonntag zeitgleich die nächsten Enttäuschungen. Einziger Lichtblick: Im ölreichen Norwegen, das nicht zur EU gehört und von der weltweiten Wirtschaftskrise weitgehend verschont blieb, konnte sich der sozialdemokratische Premier Jens Stoltenberg behaupten.
Es ist schon paradox. Europas Volkswirtschaften, die Finanzmärkte weltweit stecken in der größten Krise, welche die kapitalistischen Staaten seit der Großen Depression von 1929 durchlitten haben, und niemand kann den regierenden Sozialdemokraten vorwerfen, dass sie es gewesen seien, die mit dem Geld nicht umgehen konnten.
Die Schuldigen sitzen in Banken und Börsen, und alle Politiker, die zwei Jahrzehnte lang neoliberales Wirtschaften und die Entfesselungskräfte der Deregulierung priesen, sind jäh verstummt. Und doch, so scheint es, sollen nun die Parteien der Willy Brandts, der Olof Palmes oder Bruno Kreiskys, deren Selbstverständnis immer die historische Identität als Marktregulierungspartei einschloss, die Zeche dafür zahlen.
Warum eigentlich? Warum verlieren nicht konservative und liberale Parteien ihre Wähler? Warum werden ausgerechnet jetzt die traditionell eher kapitalismuskritischen Sozialdemokraten bestraft?
Die Suche nach Antworten führt in zwei Richtungen: Zum einen haben Modernisierungs- und Reformeifer der Sozialdemokraten einen Teil ihrer Gefolgschaft vergrätzt. Die Suche nach neuen Wählerschichten vernachlässigte die angestammte Klientel. So gerieten nicht nur Labour wie SPD in eine Glaubwürdigkeitsfalle.
Schon aus nationalem Interesse trieb Premier Tony Blair die Deregulierung der Finanzmärkte voran und heizte damit die Alles-ist-möglich-Stimmung in der Londoner City an. Schröders Reformen legten zwar den Grundstock für bessere Arbeitslosenzahlen, wurden aber von vielen schlicht als unsozial empfunden.
Zum anderen ließen die konservativen Parteien von ihren marktradikalen Exkursionen ab, schraubten ihre Deregulierungsforderungen zurück und begaben sich - zumindest rhetorisch - auf einen Rückzug in die Mitte.
Wo zur Jahrtausendwende Sozialdemokraten herrschten, amtieren nun die deutsche Kanzlerin Angela Merkel oder der französische Präsident Nicolas Sarkozy, die im Angesicht der Krise Staatseingriffe nicht etwa verteufeln, sondern sich teilweise als begeisterte Keynesianer erweisen. Nicht einmal vor einer Bankenverstaatlichung schreckt Merkel zurück. Mit einem solchen Wandel durch Annäherung wildern die moderaten Konservativen unter den Sympathisanten der Sozialdemokratie.
Die steht nun vor gewaltigen Aufgaben. »Soziale Gerechtigkeit und Verteilungsfragen müssen neu buchstabiert werden«, sagt Wolfgang Merkel, Direktor am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, sonst würden Sozialdemokraten weiterhin von ihren Wählern bestraft.
Auf Glasgow übertragen heißt das: »Wir haben zugelassen, dass die einen ihre Heizung nicht mehr bezahlen können und frieren, während die anderen Winter-Barbecues im Garten unter Gasheizstrahlern veranstalten«, so der Stadtrat Malik.
Im sozialdemokratischen Dreikampf um politische Freiheit, wirtschaftliche Sicherheit und soziale Gerechtigkeit haben die Reformer den Staat offenbar allzu gründlich aufgegeben und dem deregulierten Markt geopfert. Sie folgten ihrem Vordenker, dem Blair-Guru Anthony Giddens, der Wirtschaft und Unternehmern mehr Spielräume schaffen wollte, damit die »Märkte ihre Wunder« vollbringen könnten.
Respektable Wahlerfolge, die Bildung der rot-grünen Koalition in Berlin schienen Blair und Schröder anfangs recht zu geben. »Es gibt keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik mehr, sondern nur noch eine moderne oder unmoderne«, erklärte der deutsche Kanzler. Und bis heute hält der britische Wirtschaftsminister Peter Mandelson, einer der Erfinder von New Labour, den Aufbruch von damals »grundsätzlich« für den richtigen Weg.
War demnach das Tempo der Reformen nur zu hoch und ihre Vermittlung nicht überzeugend genug? Obwohl Hartz IV die meisten Betroffenen »praktisch besser«- stelle, sagt Sozialwissenschaftler Merkel, könne die SPD derzeit »nicht glaubwürdig machen, dass die Lasten gleich verteilt werden«.
Wenn 83 Prozent der Deutschen Zukunftsängste haben, wie Emnid ermittelte, fast 70 Prozent die Einführung von Mindestlöhnen fordern und knapp die Hälfte aller Befragten zu verarmen fürchtet, dann wiegt für Sozialdemokraten das Problem der Glaubwürdigkeit besonders schwer.
Die linke Mitte müsse »Gerechtigkeit neu definieren«, glaubt auch Mandelson, wenn sie den »neuen Kulturkampf« gegen Populisten auf der Rechten wie auf der Linken nicht verlieren will. Doch mit ein bisschen Kosmetik ist es nicht mehr getan. Denn ein viel ausdifferenzierteres Parteiensystem als noch vor zehn Jahren hat den einst ungefährdeten Status der linken Volksparteien erschüttert.
Sozialdemokraten müssen sich die Wählerschichten mit grünen und linkssozialistischen Parteien teilen, die längst ihren festen Platz im europäischen Spektrum gefunden haben. Bei der Europawahl in Frankreich lagen die Grünen (16,28 Prozent) mit den Sozialisten (16,48 Prozent) praktisch Kopf an Kopf.
Diese Entwicklung hat in Deutschland dazu geführt, dass das Wählerpotential der Linken insgesamt etwa gleich geblieben ist, deutliche Abwanderungsbewegungen auf die andere Seite des politischen Spektrums, wie etwa in Großbritannien, gab es hier nicht. Überdies macht ein Mangel an charismatischen Köpfen die Aufgabe für Sozialdemokraten nicht einfacher. Respektable Staatsmänner sind noch lange keine akzeptierten Parteiführer, zumindest nicht für die Masse der Wähler. »Frank-Walter Steinmeier wäre vermutlich ein guter Kanzler, ist aber kein optimaler Kanzlerkandidat«, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Merkel.
Zweitklassigkeit dominiert, machtorientierte Männer verhindern den Aufstieg der wenigen glanzvolleren Kandidaten, erst
recht wenn sie weiblich sind. So wurde etwa die populäre schwedische EU-Kommissarin Margot Wallström von Ex-Premier Persson regelrecht weggemobbt.
Wie schwer der dringend notwendige Neuanfang sich für die gebeutelten Sozialdemokraten gestalten kann, zeigt, nach drei verlorenen Präsidentschaftswahlen, das intrigenreiche Ränkespiel bei den französischen Sozialisten. Denen hat Sarkozy nur zu gründlich »die Luft abgedreht«, wie das Magazin »Le Point« in einer Titelgeschichte feststellte. Überschrieben war die Analyse mit der Frage: »Ist Sarkozy links?«
Und in der Tat: Auch für Frankreich lässt sich nachweisen, wie ein in der politischen Mitte agierender Konservativer den Gegnern das Wasser abgräbt. Als Tony Blair ihm 2007 mit den Worten »fabelhaft, deine Kampagne« zum Wahlsieg gratulieren wollte, erwiderte Sarkozy kokett: »Ich habe den Tony Blair gegeben.«
Inzwischen befindet sich Sarkozy auf ausgeprägten Raubzügen in der linken Mitte. Er umgibt sich mit sozialistischen Granden wie Jack Lang, den er häufig zu Gesprächen empfängt, oder Dominique Strauss-Kahn, den er als Chef des Internationalen Währungsfonds durchsetzen konnte. Immer wieder zitiert Sarkozy den sozialistischen Präsidenten François Mitterrand. »Der Präsident borgt bei der Linken seine Worte und seine Ideen«, schreibt »Le Point«.
Dem haben die Sozialisten wenig entgegenzusetzen. Als die jetzt zu ihrem Sommertreffen in La Rochelle zusammenkamen, war die Zerrissenheit der Genossen unübersehbar.
Ségolène Royal, 55, Sarkozys gescheiterte Gegenkandidatin, hielt Hof im Seefahrtsmuseum. Auf Holztischen waren Chabichou und Pineaut von der Loire sowie Ziegenweichkäse zum Aperitif angerichtet. Rund 300 Anhänger drängten sich um das Buffet, Parteijugend und Altsozialisten, diesmal aber als informelle Mitglieder von Royals persönlicher Fan-Gruppe »Désirs d'avenir« (Wünsche für die Zukunft). Stunden zuvor hatte sie sich ihnen als Öko-Vorbild präsentiert, bei einem kurzen Trip im Elektroauto.
Ihre große Rivalin, Parteichefin Martine Aubry, lud parallel zum Umtrunk ins Naturkundemuseum und ließ im Garten des ehemaligen Stadtpalais opulent servieren. Die 59-jährige Sozialistin und ihre jungen Parteikader demonstrierten bei Austern, Lachs und Fischpastete ihr Verständnis von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. »Wir sind zurück, die Partei schaut nach vorn«, tönte Aubry, »wir sind solidarisch geeint.«
Das war glatt gelogen. Tatsächlich mobilisieren die PS-Promis seit Wochen schon, jeder für sich und allein gegen alle, die eigenen Truppen. »Hier herrscht Parteienzwist an Meeresfrüchten«, spottete ein deutscher Sozialdemokrat, der Gast des Konvents war.
Noch im Oktober wollen die französischen Sozialisten über eine grundlegende »Erneuerung der Partei« abstimmen, nur wie die aussehen soll, darüber wird vor lauter Hinterzimmer-Personaldebatten kaum gesprochen. Als »bessere Manager des Kapitalismus« jedenfalls gelten Frankreichs Sozialisten längst nicht mehr, sagt Thomas Klau vom European Council of Foreign Affairs in Paris. Und es klingt, als würde er nicht nur über die marode Partei in Frankreich sprechen.
So jedenfalls kann ein Neuanfang nicht gelingen - weder in Frankreich noch in Europa. Noch sind mit Brown, Aubry und Steinmeier dieselben Politiker an der Spitze der europäischen Sozialdemokratie, die auch schon während der Glanzjahre zu Beginn des Jahrhunderts Regierungsämter bekleidet hatten und deren Chefs längst abgewählt sind. Dass sie die großen Erneuerer sein könnten, erscheint deshalb zweifelhaft. Zumal der sozialdemokratische Raum damals noch nicht von linken Konkurrenten unterwandert war, die das Markenzeichen »Gerechtigkeit« für sich reklamieren, und die Grünen mit ihrem Anspruch auf Zukunftsthemen noch nicht als echte Rivalen auftraten.
Deshalb bleibt einstweilen die Angst, dass gegen den grassierenden Verfall der Sozialdemokratie als europäische Volkspartei noch kein Mittel gefunden ist. »Vielleicht steht der Sarg noch nicht bereit, aber die Bretter sind gehobelt«, sagt Klau.
Womöglich kommen in Berlin noch ein paar dazu. MANFRED ERTEL,
HANS-JÜRGEN SCHLAMP, STEFAN SIMONS
* Links: Bundeskanzler Bruno Kreisky und SPD-Vorsitzender WillyBrandt mit Ministerpräsident Olof Palme auf einer Tagung derSozialistischen Internationale 1975 in West-Berlin; rechts: PremierTony Blair, Kanzler Gerhard Schröder bei einer Sitzung desEuroparats 1999 in Köln.