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Rudolf Augstein DER ZAHME HEXENMEISTER

Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 27/1966

Ratlosigkeit kann heilsam sein. Ratlosigkeit muß nicht heilsam sein. Wenn die beiden Fraktionsvorsitzenden der christlichen Parteien nach Washington und London ausschwärmen, um dort Meinungen zu artikulieren, die weder zueinander noch zum Meinungskonzert der Bundesregierung passen wollen - ist das eine heilsame Ratlosigkeit?

Barzel will die sowjetischen Truppen auf dem Territorium eines wiedervereinigten deutschen Nationalstaates belassen. Strauß hingegen hält eine europäische Konföderation für möglich, in der, neben der Bundesrepublik, ein zweiter deutscher Staat mit einer freiheitlichen Verfassung Platz hätte.

Der eine will nicht wahrhaben, daß die Stationierung ihrer Truppen die Sowjets sinnlos bedünken muß, wenn sie nicht das von ihnen eingerichtete kommunistische System der DDR beschirmen. Der andere läßt außer acht, daß nur das von den Sowjet-Truppen beschirmte System die Bewohner der DDR wirksam hindern kann, sich mit den Westdeutschen in einem Staat zu vereinigen - solange der Status der DDR nicht international gesichert ist. Guter Rat ist teuer, desto größer die Versuchung, ihn wohlfeil abzugeben.

Erst wenn die Bundesrepublik die DDR nicht länger für sich beansprucht, können die Sowjet-Truppen das Land verlassen. Andererseits, was immer an uns günstigen Entwicklungen möglich erscheint, es ist an den Abzug der Sowjet-Truppen geknüpft. Daß sie hierbleiben könnten, um der Niederlage ihres Systems zu assistieren, ist eine ganz ungare Vorstellung.

Strauß schlägt denn auch den umgekehrten Weg vor. Frankreich und England sollen ihre Atomwaffen zusammenwerfen, sollen mit der Bundesrepublik den Kern eines selbständigen Europa bilden, sollen sich den deutschen Anspruch auf Wiedervereinigung zu eigen machen.

Die Rechnung enthält so viele Flüchtigkeitsfehler wie die Barzels. Was die Sowjets den Amerikanern nicht konzedieren, ihren eigentlichen Gesprächspartnern, wie sollten sie es dem viel schwächeren, um die deutsche Einheit noch weniger besorgten Westeuropa bewilligen?

Man beachte, wie genüßlich de Gaulle in Moskau seine Balance-Funktion ausgemalt hat. Amerika und Rußland sind ihm gerade recht, einander in Schach zu halten. Folgt die Bundesrepublik de Gaulle, so wird er die deutschen Ansprüche auf Einheit mitvertreten (die durchzusetzen Amerika nicht stark genug war). Folgt sie aber den USA, erliegt sie gar der Versuchung, eine Achse mit Washington bilden zu wollen, so wird de Gaulle Rußland die Konter-Balance halten.

Er ist in der deutschen Frage nicht im mindesten doppelzüngig. Er steckt das Feld ab, in dem die deutschen Dinge sich abwickeln werden - und zwar ohne daß die Deutschen noch Gelegenheit hätten, ihre Ansprüche durch Druck oder Turbulenz zu fördern (in seinem Sinn: weiter aufs Spiel zu setzen).

Was de Gaulle den Sowjets mit Bezug auf Deutschland vorgeschlagen hat, scheint vom westlichen Standpunkt aus vernünftig: jetzige Grenzen, keine Atomwaffen, allmähliche Vereinigung der beiden Landesteile. Aber er weiß natürlich, daß die Sowjets seinen Standpunkt nicht akzeptieren können, jetzt nicht und später nicht.

Ob er die Denkart der Sowjets kennt, ob er sie begreift, ob er sie begreifen will, muß ungewiß bleiben. De Gaulle gibt nicht vor, die deutsche Frage lösen zu können. Aber er läßt darauf hinweisen, daß nur er bisher einen Rahmen entworfen hat, in dem sich die Dinge entwickeln könnten: einen Rahmen, wie ihn die deutschen Politiker bisher schuldig geblieben sind.

Da die Sowjets keine Westler sind und da de Gaulle kein Druckmittel nennt, sie zu ändern oder sie zu überzeugen, ist nicht zu sehen, wie sein Standpunkt den Deutschen selbst helfen soll. Es stimmt, daß die DDR eine »Schöpfung der Sowjets« ist, in ganz anderem Maße als die Bundesrepublik eine Schöpfung der drei westlichen Militärgouverneure. Aber was besagt das für die Zukunft?

Es stimmt auch, daß die DDR ihrem Ursprung nach »ein künstlicher Staat« ist, der noch von einem fremden Willen gestützt werden muß. Nur trifft das auf die Vergangenheit so manchen Staates zu, der heute wohlrespektiert ist. So manches von den USA gestützte Regime hatte oder gar hat so wenig Glaubwürdigkeit wie derzeit das der DDR. Sollen die nationalen Kräfte, deren Wirken man sonst verdammt, ausgerechnet hier ihre Sprengkraft beweisen?

De Gaulle erschien in Moskau als der Hexenmeister, der den Besen gar nicht erst losgelassen, sondern im Spind verpackt mit sich führte. Das Einverständnis zwischen ihm und den Herren des Kreml besagt in etwa, die Sprengkraft des nationalen Gedankens in Mitteleuropa solle ins International-Unverbindliche abgeleitet werden.

Der 76jährige de Gaulle weiß noch weniger als wir, was in der DDR los ist, es interessiert ihn wohl auch nicht sonderlich; er weiß nicht, ob sich bei den politisch Ansprechbaren drüben ein neues gesellschaftliches Bewußtsein bildet und ob der Unmut der Vielen mehr ist als ein gestaltloser Verdruß.

So hätten Barzel und Strauß (und erst recht die Bundesrepublik) wohl Grund, ratlos zu sein und Rat zu suchen? Sehr wohl, aber sie sollen nicht nach London und Washington, in völkerrechtliche Spekulationen und Dissertationen ausweichen, nicht in windige Pläne, die sie beim ersten Lüftchen aus Moskau eilfertig wieder einsammeln: sondern sie sollen uns sagen, wie sie mit der Existenz der DDR fertig werden wollen.

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