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US-MOBILISIERUNG Der Ziegelbrocken-Krieg

aus DER SPIEGEL 16/1952

Auf der Westseite der Appalachen-Berge lag das US-Stahlproduktionszentrum, der Träger amerikanischer Weltmacht, in der letzten Woche entkräftet hingestreckt wie ein überdimensionaler Samson. Im vollen Saft zehnmal so stark wie die Ruhr, dreimal so stark wie die Stahlindustrie der Sowjets, schmilzt, härtet und walzt dieser glühende, rauchende Riese 120 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr. Doch von innerem Zwist zerrissen, kann er plötzlich seine gewaltigen Muskeln nicht mehr recht gebrauchen.

Als Vorbereitung für einen Lohnstreik von 650 000 Arbeitern der großen Stahlproduzenten erlosch am letzten Wochenende langsam das Feuer in den Hochöfen.

Bereits in der Woche vorher wurde Amerika erschreckt gewahr, daß mit dem großen Rüstungsproduktionsprogramm, der Voraussetzung für die amerikanische Weltpolitik, nicht nur rein technisch, sondern ganz grundlegend etwas nicht in Ordnung ist. Charles E. Wilson ("Mr. Production") trat aufgebracht von seinem Posten als industrieller Chefmobilisator der US-Regierung zurück. Er war - nächst Truman - der wichtigste Mann in Washington.

In Kreisen der amerikanischen Regierung wird Wilsons Rücktritt für bedeutungsvoller gehalten als der Entschluß Trumans, sich nicht um seine Wiederwahl zum Präsidenten zu bewerben. Denn Wilsons Rücktritt bedeutet das Scheitern der intensiven Wiederaufrüstungspolitik unter Regierungskontrolle, die vor einem Jahr mit großen Zielen gestartet worden war.

Es stellt sich heraus, daß die amerikanische Regierung mit ihrer dezentralisierten, verworrenen Bürokratie (dem modernen Inbegriff für zivilisiertes Chaos) nicht stark und besonnen genug sein kann, um den inneren, freizügigen Kampf zwischen Unternehmern und Arbeitern zu kontrollieren und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Nebeneinander von Kriegs- und Friedensproduktion zu meistern, solange die USA sich nicht in einem offenen Krieg befinden. Das sind zwei der Gründe für die rätselhaften Schwächezustände, die den Riesen Amerika immer wieder anwandeln.

Im kritischen Monat Dezember 1950 (die Rotchinesen waren gerade in Korea eingefallen) akzeptierte Charly Wilson auf Harry Trumans Drängen den Posten des Chefmobilisators der US-Verteidigung. Er ist einer der zähen, tatkräftigen Industriellen, die sich Washington immer holt, wenn es Waffen braucht. Doch Washington

ist in den letzten Jahren zu einem wüsten Kompetenzdschungel ausgewachsen, in dem sich auch ein Mann wie Charlie Wilson verfangen mußte.

Er wurde - dem Präsidenten direkt verantwortlich - Haupt einer komplizierten Kontroll-Organisation. Ihm unterstellt war die »Wirtschaftliche Stabilisierungsverwaltung« unter Roger Putnam. Ihm wiederum waren die Büros für Preisstabilisierung (Chef Ellis Arnall) und Lohnstabilisierung (Chef Nathan Feinsinger) untergeordnet. Die Aufgaben dieser Organisationen waren

* die Waffenproduktion anzukurbeln und rüstungswichtige Rohstoffe zu rationieren;

* die Inflation zu bremsen, die mit Sicherheit aus den Milliarden-Rüstungsausgaben resultieren würde.

Der US-Kongreß bewilligte zwar genügend Geld (bisher insgesamt 74 Milliarden Dollar), aber er verweigerte Harry Truman schlüssige Vollmachten zur wirksamen Kontrolle der Löhne und Preise. Wilsons Agenturen haben zwar das Recht, Höchstpreise und Höchstlöhne festzusetzen, doch es ist mit einer Vielzahl von Zusatzklauseln durchlöchert, die sowohl den Unternehmern wie den Gewerkschaften erlauben, auf höhere Preise und Löhne zu dringen, sobald sie sich »unfair« behandelt fühlen.

Wilsons Agenturen haben keine Verfügungsgewalt, sondern müssen versuchen, sich verhandelnd und vermittelnd mit den Sozialpartnern zu einigen. Ueber dieses schwere Handicap stolperte Wilson schließlich. Doch es war nicht das einzige.

Ehe Charly Wilson Aufträge an die Industrie erteilen und Waffen von den Produktionsbändern rollen lassen konnte, mußte er erst einmal wissen, was für Waffen gebaut werden sollten. Das festzulegen ist die Aufgabe der US-Stabschefs und der zivilen Minister für die Streitkräfte. Sie überschütteten Wilson mit Wünschen nach Fernbombern, Düsenjägern, U-Booten, Flugzeugträgern, Panzern und warmen Unterhosen.

So ginge es nicht, protestierte Wilson. Er brauche eine genaue Liste, welche Waffen für welchen Wehrmachtsteil mit Vorrang entwickelt und hergestellt werden sollten. Während Charlie Wilson nervös von einem Bein auf das andere trat, brach im Pentagon ein giftiger, eifersüchtiger Streit der Stabschefs um die Produktionsprioritäten aus.

Da sie sich nicht einigen konnten, forderte Verteidigungsminister Lovett, daß alle drei Wehrmachtsteile getrennt je vier vordringliche Objekte auf einer Geheimliste unter dem Decknamen »Ziegelbrokken« aufführen, an die Wilson sich dann halten sollte.

Da in der friedensfrohen Zeit zwischen 1945 und 1949 praktisch nur Fernbomber und Atombomben entwickelt und gebaut worden sind, besaßen die US-Streitkräfte darüber hinaus nur Waffen, mit deren Entwicklung noch im Weltkrieg II begonnen worden war (alle zur Zeit einsatzreifen Düsenjäger und Panzer gehören dazu). Hochkomplizierte moderne Waffen jedoch brauchen eine bestimmte Reifezeit, die nicht etwa durch besonders intensive Entwicklungsarbeit verkürzt werden kann. So braucht ein Großbomber durchschnittlich sechs, ein Düsenjäger vier Jahre bis zur Massenproduktionsreife.

Um die vier verlorenen Entwicklungsjahre aufzuholen, setzten der Luftwaffe- und der Marine-Stab nur Entwicklungsprojekte auf ihre »Ziegelbrocken«-Prioritätsliste, die allerfrühestens in zwei Jahren einsatzreif sind, somit also nur den Versuchsanstalten, nicht aber der eigentlichen Industrie Arbeit geben. Die Luftwaffe nannte den Düsengroßbomber XB-52, der längst in Versuchsexemplaren gebaut worden ist, aber noch drei Jahre bis zur Produktionsreife braucht; ein Radar-Projekt; ein Antriebsaggregats-Projekt und ein Düsen-Nachtjäger-Projekt.

Dabei ergab sich, daß der einzige bessere, einsatzreife Düsenjäger, der F-86-Sabre, eine niedrige Priorität bekam. Vor einem Kongreß-Ausschuß gab der stellvertretende Luftwaffen-Minister Gilpatrick

zu, daß die Stabschefs sich auf keine weiteren Prioritäten einigen konnten. Als Wilson energisch drängte, warfen die Stabschefs ein Geldstück, um nach Kopf und Wappen zu entscheiden, wer den Vorrang erhalten sollte. Luftwaffen-Stabschef Vandenberg gewann.

Nicht nur die zankenden, unentschlossenen Stabschefs waren daran schuld, daß die Produktion nicht in Gang kam. Die Umstellung auf Kriegsproduktion der mit Regierungsaufträgen bedachten Werke verzögerte sich durch einen kritischen Mangel an Werkzeugmaschinen, vor allem für die Panzer- und Flugzeugproduktion.

So mußten sich Wilsons Planer ausschließlich damit beschäftigen, den ehrgeizigen ursprünglichen Plan fortlaufend »nach unten hin zu revidieren«. Das erste Produktionsziel für Kriegsflugzeuge belief sich auf 1250 Maschinen pro Monat. Vor zwei Monaten wurde es auf 950, dann auf 900 Maschinen gesenkt. Die wirkliche Produktion beträgt augenblicklich nicht ganz 600 Maschinen.

Seit einem Jahr steckte Charlie Wilson in regelmäßigen Abständen seinen Kopf aus seinem Büro, um selbstbewußt zu erklären, daß das amerikanische »Produktionsgenie« tätig summe und alle Pläne erfülle. Daß diese Pläne sich nach der Produktion richten statt umgekehrt, vergaß er zu erwähnen.

Ständig drohte er, daß für 1952 mit dem Anwachsen der Rüstungsproduktion scharfe Einschränkungen, z. B. der zivilen Autoproduktion, erwartet werden müßten. In Detroit gab es 120 000 Arbeitslose, weil die Zivilproduktion für das zweite Quartal 1952 von einer Million auf 800 000 Autos gedrückt werden sollte. Dabei wuchsen die Rohstoffläger ins Immense.

Mit roten Köpfen gaben Wilsons Planer Ende letzten Monats plötzlich sämtliche Rohstoffe, die sich mittlerweile gewaltig aufgestaut hatten, frei - selbst die rarsten wie Kupfer, Aluminium und Kautschuk. Amerikas Industrielle waren empört über die Washingtoner Stümperei.

Wilsons Planer hatten die Einschränkungen entsprechend einem 85-Milliarden-Rüstungsprogramm für 1952/53 berechnet.

Sie selbst aber hatten inzwischen ihre 1952/53er Pläne auf ein Maximalziel von 50 Milliarden Dollar »revidieren« müssen, weil sie wegen ihrer Produktions-Engpässe gar nicht für 85 Milliarden Waffen bauen können und vor allem weil der Kongreß im Wahljahr nicht so viel Geld bewilligt und selbst die von Truman beantragten 50 Milliarden über einen längeren Zeitraum hin verbraucht werden sollten, da Regierung und Kongreß von der neurotischen Furcht gepackt wurden, die ganze gewaltige US-Wirtschaft könne durch die hohen Militärausgaben ins Inflations-Chaos gestürzt werden.

Auf der Stabilisierungsseite in Charlie Wilsons Pflichtenkreis nämlich galoppierte die Inflation auch ohne daß die Kriegsproduktion auf Touren kam. Die Rohstoff-Hortungen der Regierung und die durch Wilsons Einschränkungsdrohungen ständig angestachelte Kaufwut der Verbraucher trieb seit Korea die Preise bis zum Jahreswechsel 1951/52 immer höher. Erst im März 1952 zeigte sich zum erstenmal eine deutlich rückläufige Tendenz der Preise.

Am Jahreswechsel lief der Lohnvertrag der Stahlarbeiter-Gewerkschaft mit den großen Unternehmen (wie U.S. Steel, Bethlehem Steel und Jones & Laughlin) ab. Für den neuen Vertrag forderte CIO-Gewerkschaftschef Phil Murray eine Stundenlohnerhöhung und »Vergütungen« wie Pensionszahlung, Versicherung und bezahlte Ferien, zusammen 36 Cents pro Stunde.

Die Unternehmer lehnten rundheraus ab. Anfang Januar sollte gestreikt werden,

doch Präsident Truman griff ein, und erreichte, daß der Streik ausgesetzt wurde, damit Wilsons Lohnstabilisatoren eine Untersuchung anstellen und Schlichtungsempfehlungen vorlegen konnten.

Amerikas Stahlarbeiter hatten bisher einen Durchschnittsstundenlohn von 1,88 Dollar, doch dabei werden sie immer noch schlechter bezahlt als die Auto-Arbeiter, die noch eine Lohnerhöhung durchpauken konnten, ehe die Regierung Ende 1950 erklärte, Preise und Löhne seien auf dem Niveau vom 24. Juni 1950 einzufrieren.

Nach nächtelangen, erbitterten Debatten kam der Lohnstabilisierungsrat (dem Vertreter der Regierung, der Gewerkschaften und der Industrie angehören) zu dem Schluß, daß die Stahlarbeiter »unfair« behandelt worden seien und empfahl, ihnen Lohn- und Vergütungserhöhungen von insgesamt 26 Cents pro Stunde zu gewähren.

Der mächtige barsche Ben Fairless, Chef der US-Steel Corporation (Jahreskapazität 36 Millionen Tonnen) behauptete, die Industrie könne solche Erhöhungen nur durch einen um 12 Dollar pro Tonne höheren Stahlpreis auffangen (der augenblickliche offizielle Stahlpreis beträgt 110 Dollar pro Tonne). Wilson stimmte Fairless zu. Beide erklärten, daß angesichts dieser Tatsache weder Löhne noch Preise erhöht werden dürften, weil sonst eine neue Inflationflut einsetze, die das gesamte amerikanische Preisgefüge überschwemmen würde.

Verbissen verteidigte Lohnstabilisator Nathan Feinsinger seine Auffassung, daß die von ihm empfohlene und von der Gewerkschaft akzeptierte Lohnerhöhung von der Industrie mit den Profiten der Industrie aufgefangen werden könne. Seit Beginn des Korea-Krieges sind die Brutto-Profite um 100 Prozent gestiegen. Dann erlitt Feinsinger einen Nervenzusammenbruch.

Wilson flog zu Truman nach Key West. Während zermürbend weiterverhandelt wurde, kehrte der Präsident nach Washington zurück und stellte sich auf die Seite Feinsingers. Er wollte unbedingt einen lähmenden Streik vermeiden - aus Verantwortungsbewußtsein und seiner alten Sympathie für die Gewerkschaften wegen.

Jetzt hat Charlie Wilson genug. Sein Posten hatte ihn ohnehin bereits so aufgerieben, daß der normalerweise gute Golfspieler Wilson die unmöglichsten Bälle zu schlagen begann.

Er setzte seinen Kündigungsbrief an Truman auf und schrieb: »Ihre Haltung verletzt meinen Gerechtigkeitssinn und vernachlässigt das Gleichheitsprinzip, auf das meiner Auffassung nach das ganze Kontrollsystem gegründet wurde.«

Truman antwortete: »My dear Charlie ... ich halte die Forderungen (der Gewerkschaften) keineswegs für unvernünftig ... solange die Stahl-Profite derartig hoch liegen.«

Führerlos trieb die US-Wirtschaft dem Streiktermin entgegen. »Die Hölle ist los«, sagte Preisstabilisator Arnall letzte Woche. Der 8. April war der endgültige Streiktermin der 650 000 Stahlarbeiter: In einem chaotischen Kompetenzenwirbel stritten sich die Washingtoner Beamten um Vollmachten und Maßnahmen, die eine Katastrophe verhindern sollten.

Zwei Möglichkeiten standen dem Präsidenten offen, einen Streik zu verhindern. Er konnte das Taft-Hartley-Gesetz anrufen, demgemäß er eine 80tägige einstweilige Verfügung gegen die Gewerkschaft auf Aussetzung des Streiks bis zum Abschluß einer Untersuchung der Regierung erwirken kann. Dieser Schritt jedoch würde voraussetzen, daß die Gewerkschaft plötzlich und ungerechtfertigt in den Ausstand tritt. Hier aber sind die Forderungen der Arbeiter vom Präsidenten selbst ausdrücklich anerkannt worden.

Also entschloß sich Harry Truman zu einem Schlag gegen die renitenten Unternehmer. Zu Zeiten eines »Nationalen Notstandes«, den Truman im Dezember 1950 proklamiert hat, besitzt er Sondervollmachten, die ihm »zum Wohl des Landes« gestatten, scharfe und wirtschaftlich politische Maßnahmen zu ergreifen.

Harry Truman ordnete entschlossen - 90 Minuten vor Streik-Termin in der Dienstagnacht - die Beschlagnahme der amerikanischen Stahlindustrie an. Er überstellte seinem Handelsminister, Charles Sawyer, die Verfügungsgewalt über die Werke. Die Arbeit wird unter Regierungsaufsicht normal weitergeführt. Die

technische Produktionsleitung verbleibt in den Händen der bisherigen Direktoren. Doch die Arbeits- und Geschäftsbedingungen werden staatlich bestimmt.

Die Stahlarbeiter wurden durch die Uebernahme theoretisch Staatsangestellte, denen das Streikrecht nicht zusteht. Auf Anweisung Trumans rief Phil Murray seine Leute wieder an die Arbeit. Truman versprach ihm, daß der Bevollmächtigte Sawyer die geforderten Lohnerhöhungen von sich aus gewähren wird, falls die Industriellen hart bleiben.

Empört versuchte die Industrie ihrerseits noch in der gleichen Nacht eine einstweilige gerichtliche Verfügung gegen die Beschlagnahme-Verordnung der Regierung zu erzwingen, weil die verfassungsmäßig niedergelegte Vollmacht des Präsidenten zu vage formuliert sei, um Truman zu ermächtigen, eine ganze Industrie zu konfiszieren. In der US-Verfassung ist tatsächlich nur gesagt, daß der Präsident bei einer offensichtlichen Gefährdung der »nationalen Sicherheit außergewöhnliche Schritte« ergreifen darf.

Mehr als ein Krieg vor dem Gericht ist zwischen dem Präsidenten und der US-Industrie ausgebrochen. Er wird Truman und seine Demokraten bei der Masse der Wählerschaft populär machen, aber wer in Amerika ein Rüstungsprogramm durchführen will, muß mit der selbständigen, mächtigen Industrie auskommen.

Noch gibt es keine Anzeichen, wie die Kraftprobe zwischen US-Industrie und Regierung ausgehen wird. Verlierer ist in jedem Fall das US-Rüstungsprogramm.

Nach den Verwirrungen und Enttäuschungen des letzten Jahres ist jetzt klar, daß der Riese Amerika - ganz gleich, wie laut die Leute in Washington schreien - sich ähnlich wie ein Cowboy-Held noch keineswegs aus der Ruhe bringen läßt, wenn der russische Riese mit zwei geladenen Colts an der Hüfte in die Bar der Weltpolitik geschoben kommt. Er wird traditionsgemäß erst dann mit voller Wut und Wucht reagieren, wenn der andere seine Waffe zieht. Und wie jeder Wildwest-Film beweist, ist es für den Mann, der für Recht und Ordnung eintritt, dann immer noch nicht zu spät.

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