»Des ist, wia wenn's d' Mauer dabeihätten«
Jetzt ist es soweit«, jubelte der Sprecher des Ost-Berliner Fernsehens, als der Weltergewichtsboxer Manfred Wolke die Fahne der DDR ins Olympiastadion trug. »Hier sehen wir ihn und unsere Mannschaft. Der Sport der DDR bezwang alle Hindernisse, die besonders von diesem Land aufgetürmt wurden, mehr als 20 Jahre lang, in dem nun diese souveräne Mannschaft der Deutschen Demokratischen Republik startet.«
Es war wirklich soweit. »Von diesem Land« Bundesrepublik, das 20 Jahre lang einziges Deutschland hatte sein wollen und dem nur mühsam die Anpassung an die politischen Realitäten gelang, war auch sportlich keine Behinderung mehr zu erwarten. Die DDR-Mannschaft war kein gesamtdeutsches Phänomen mehr, und an die tausend DDR-Bürger jubelten ihr im Stadion zu -- auch das ein Novum.
»Sieben, acht neun, zehn -- Klasse!« skandierten die DDR-Grüppchen von den Rängen unisono »und scho a bisserl einfallslos« (eine Münchner Zuschauerin beim Frauen-Turnen), wann immer dann im Verlauf der ersten Olympia-Woche ihrer Karin Janz ein freies Rad am Schwebebalken oder ihrem Peter Ducke eine Flanke auf dem Fußballfeld gelang.
Aber der »Klasse«-Chor, sportlich gemeint, war auch politisch deutbar. Janz wie Ducke wie die andern aus dem Aufgebot der 324 DDR-Athleten schlugen Rad und Haken getreu ihrem »Klassenauftrag«, den der frühere DDR-Weltmeister im Kanuslalom Wulf Reinicke so zitiert: »Wir haben die vorletzte Stelle einzunehmen, wenn die Bundesrepublik die letzte Stelle einnimmt.«
Der Staatsauftrag wurde derart übererfüllt, wie es dem ersten Arbeiter-, Bauern- und nun auch Sportlerstaat auf deutschem Boden gehörig erscheint: Wo »GER« ferner lief, da schwamm, sprang, paddelte »GDR« nicht nur um einen Platz, sondern um Längen vorweg. Das »Goldene Zeitalter des DDR-Sports«, das die Londoner »Times« schon vor München hatte heraufziehen sehen, brach vergangene Woche am Augsburger Eiskanal wie in der Sport- und der Schwimmhalle des Olympia-Parks unübersehbar an.
In Gold, Silber und Bronze zahlte die DDR den Westdeutschen allen Wohlstandsstolz und alle Überheblichkeit heim. Die Erfolge halfen ihr, jahrelang aufgestaute Neidgefühle gegen die reichen Bonner Vettern abzubauen -- mit der Nebenwirkung freilich, daß nun verkrampfter Selbstbestätigungswille erkennbar wurde.
Er äußerte sich in schwülstigem Pathos, als der Erfurter Rückenschwimmer Roland Matthes Gold gewann und der DDR-Fernsehkommentator sprach: »Die Erregung des geballten Augenblicks verklingt hier in der Halle wie der Ton einer Harfe.« Und manchmal zeigte er sich in Verlegenheit, Unsicherheit wie bei jenen DDR-Touristen, denen nur Floskeln entschlüpften wie: »Ja, ja, die Verpflegung hier ist wirklich gut.«
Als Bundeskanzler Willy Brandt sich in der Mensa des Olympischen Dorfes mit Olympia-Offiziellen zu Tisch setzte, unterbrachen am Nebentisch DDR-Sportler ihre Mahlzeit und zogen mit ihren Tabletts in die Ecke des Saales. Bundespräsident Gustav Heinemann bekam keine Antwort außer einem hilflosen Nicken, als er, ebenfalls in der Mensa, DDR-Sportlerinnen im Vorübergehen ansprach und sich erkundigte, ob denn das Essen gut sei. »Komplexe, die wir ihnen eingeredet haben«.
Als Fußball-Nationalspieler Günter Netzer, zu Besuch im Olympischen Dorf, für ein Photo posieren sollte, wählte er in der Schallplattenbar einen Platz zwischen zwei DDR-Sportlern. Doch von wo aus der Photograph auch knipste, die Gäste aus dem Osten drehten sich entweder um oder verbargen ihr Gesicht.
»Ich habe erst gedacht«, erläuterte die westdeutsche Leichtathletin Heidi Schüller dem Bundeskanzler im Gespräch, »das sei nur so, wenn Funktionäre dabei sind, aber ich habe sie nun auch schon oft genug alleine getroffen, und da war es auch nicht leichter.« Es sei für die DDR-Sportler »ja auch nicht einfach, sie wissen gar nicht, wie sie sich verhalten sollen«.
Die Gesprächsbereitschaft von DDR-Athleten schien letzte Woche abgestuft: mit Sportlern aus dem Ostblock und aus der Dritten Welt uneingeschränkt, mit nicht-deutschen Ausländern aus kapitalistischen Ländern unter Umständen, mit Bundesdeutschen nur, wenn es sich nicht vermeiden läßt. »Es sind die Komplexe, die wir ihnen 20 Jahre lang eingeredet haben«, meinte ein westdeutscher Sportwissenschaftler.
Sie abzureagieren, bot sich freilich in den Sportstätten beste Gelegenheit. Jahrelang hatten die Westdeutschen ihre heiteren Spiele in München vorbereitet. Länger noch und verbissener aber hatte man sich in Ost-Berlin auf ein olympisches Ziel präpariert, das politisch und tiefernst gemeint war: der Welt und -- auf dessen eigenem Platz -- dem deutschen Kontrahenten nun mal zu zeigen, was ein Hammer und ein Zirkel ist.
Was fast überall sonst zur schönsten Nebensache der Welt deklariert wird, galt von DDR-Anfängen an als Hebel, den zweiten deutschen Staat ins Weltbewußtsein zu liften und auf Weltniveau zu bringen. »Sport«, so formulierte Erich Honecker schon 1948, »ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck«. Das Mittel ist auch in der Verfassung der DDR enthalten -- als »Recht auf Körperkultur und Sport« für jedermann.
»Jeder Mann an jedem Ort, jede Woche einmal Sport«, appellierte Walter Ulbricht 1959, und aus dem Verfassungsrecht wurde Alltagspflicht: Das Volk stand auf und turnte -- in Schulen, Wohnbezirken und Betrieben. Schüler mit einer »Fünf« im Sport wurden nicht mehr versetzt, Studenten zum Examen erst zugelassen, wenn sie athletische Tests bestanden oder sich wenigstens »regelmäßig« sportlich betätigt hatten. »Bei uns«, so schrieb der DDR-Journalist Dieter Wales, »ist stets Olympiade.«
Olympia beginnt schon im Kindergarten, spätestens bei den Abc-Schützen: »Die Sichtung«, so eine interne Anweisung an die Sportfunktionäre, »soll früh angesetzt werden«, und sie ist, seit so gut wie sämtliche Jugendliche an den in olympischem Stil veranstalteten »Spartakiaden« teilnehmen, auch allumfassend: 3,3 Millionen DDR-Jugendliche waren dieses Jahr dabei.
Schon Achtjährige können überdies um Titel kraulen, laufen, radeln, ringen: um die Meisterschaft der Schule, ihres Kreises, des Bezirks und der DDR. Wer sich hervortut, wird in den Trainingszentren der 15 Staatsbezirke überprüft; wer mehr verspricht, wird auf die Kinder- und Jugendsport-Schulen (KJS) abkommandiert; wer schließlich international beachtliche Zeiten und Weiten erreicht, steigt in einen Sportclub auf und muß sich »um nichts mehr kümmern«, so der frühere DDR-Basketballer Helmut Uhlig, denn: »Man wird geleitet von klein auf.«
Spätestens in den KJS lernen die Sporttalente, sich nach einer »Perspektive« zu richten, die ihnen der Trainer eröffnet: Wirft beispielsweise einer mit 14 den Speer 45 Meter weit, dann hat er ihn mit 15 fünf Meter weiter zu werfen; tut er"s nicht, hat er keine Perspektive mehr und muß zurück auf die normale Schule. Die Perspektive brachte Karin Janz die Turnweltmeisterschaft und nun auch zwei Olympiasiege, Joachim Kirst die Favoritenrolle im Münchner Zehnkampf und Roland Matthes nahezu zwanzigmal Weltrekorde und diverse Goldmedaillen.
Kommt einer dahin, stehen ihm alle Annehmlichkeiten offen, die auch die sozialistische DDR-Gesellschaft für ihre Prominenz verfügbar hält: Waschmaschinen und Wagen, Südfrüchte und Studienplätze, Verdienstorden mit Zusatzrente, Sonderprämien in bar oder als Sachwert wie eine Villa oder Kader (K)-Stellung in einem Betrieb.
Augsburger Eiskanal in Zwickau nachgebaut
Da geht man, wie der Radrennfahrer Hartmut Scholz beim »VEB 7. Oktober«, in vier Jahren nur insgesamt zwei Wochen auf Arbeit -- alles Anerkennung dafür, daß, so der Ost-Berliner Sportführer Arno Mücke, durch »hohe sportliche Leistungen die Erfüllung des Klassenauftrags erleichtert« werden konnte, nämlich »die Überlegenheit über den Gegner sichern«, und der DDR-Gegner steht links, auf der Landkarte.
Zur Perfektion von Auslese und Förderung fügt sich beispielhafte wissenschaftliche Hilfestellung. Seit 22 Jahren schon arbeiten im Forschungszentrum der »Deutschen Hochschule für Körperkultur« (DHfK) in Leipzig Sportmediziner, Pädagogen, Biochemiker und sogar Hochfrequenztechniker daran, ihr Expertenwissen der sportlichen Praxis nutzbar zu machen.
Die halbe Welt hat davon profitiert -sofern die Forschungsresultate veröffentlicht wurden, was keineswegs immer geschieht. »Die Sportmedizin in der DDR unterliegt der gleichen Geheimhaltungsstufe wie militärisches oder atomares- Wissen«, bekundete der Kölner Sportmediziner Wildor Hollmann. »Bei Tagungen sind oft Teile von Forschungsberichten unkenntlich gemacht.«
Daß sämtliche Leistungssportler ärztlich kontrolliert werden -- permanent und so streng, als wären es Kosmonauten -, versteht sich in der DDR längst von selbst. Spezialisten messen Veränderungen des spezifischen Gewichts der Schwimmer und photographieren die schnellsten Athleten stückweise von Kopf bis Fuß, um die idealen Hebelverhältnisse festzustellen. Am Verhältnis des Umfangs eines Oberarms zu seiner Länge ermittelten sie, wie ein Hammerwerfer gebaut sein sollte. »Spontaneität und Zufälligkeit«, so eine DDR-Weisheit, »haben bei der Entwicklung von Körperkultur und Sport unter sozialistischen Verhältnissen keinen Platz.«
So überließen die DDR-Sportplaner denn auch bei der Vorbereitung für Münchens Olympia nichts dem Zufall. Es war nicht nur Prahlerei, als Ost-Berlins TV-Kommentator Karl Eduard von Schnitzler verkündete: »Der Kapellmeister soll in München gut unsere Hymne einstudieren, er wird sie oft spielen müssen.« Musterbeispiel dafür, wie perfekt die DDR-Olympioniken sich präparierten, war die Organisation des Kanu-Slaloms im Augsburger Eiskanal.
Wie die Wildwasserstrecke angelegt und mit welchen Handikaps sie ausgestattet wurde, fiel wesentlich in die Zuständigkeit des Vorsitzenden der sogenannten Olympia-Strecken-Kommission: Rudolf Landgraf aus Zwickau kannte den Parcours eher als alle anderen und ließ ihn in seiner sächsischen Heimatstadt naturgetreu nachbauen. Dort trainierte die DDR ihren Slalom-Kader, bis die Piste in Augsburg sieben Wochen vor Olympia freigegeben wurde.
Der Kanal war bald derart voll von ausländischen und vor allem DDR-Kanuten, daß die Westdeutschen zeitweilig nach Meran ausweichen mußten. Derweil hielten DDR-Experten den Slalom ihrer Leute mit Video-Recordern fest: Kaum heraus aus dem Wasser, konnte jeder Fahrer seine Fehler besichtigen. Der Erfolg stellte sich letzte Woche ein: viermal Gold, einmal Bronze für die DDR in Augsburg. Und der DDR-Mannschaftsleiter sprach: »Wir verdanken alles unserem Staat.«
Dem Staat verdanken sie auch die Einsicht in die Vorzüge ökonomischen Verhaltens: Zum Münchner Box-Turnier etwa entsandten die Ost-Funktionäre nicht mehr als acht Boxer, doch mindestens sechs von ihnen mit der Chance, eine Medaille zu gewinnen. Die Bundesrepublik dagegen bot neun Kämpfer auf, allenfalls zwei mit Erfolgsaussichten.
So lief es denn auch: »Die anderen siegen«, verkündete die Münchner »Abendzeitung« in Schlagzeilen, »wir bleiben heiter.« Und die anderen waren immer wieder die DDR-Athleten, die in einer Woche Olympia nur ein einziges Mal aus dem Tritt kamen -- beim Einzug zur Eröffnungsfeier, als ihnen Kurt Edelhagen die Melodie »An der Elbe« präsentierte.
Von langer Hand wie ihre Athleten hatte die DDR auch die Kulisse für München vorbereitet -- mit sechzig verdienten, von der FDJ ausgesiebten Jugendlichen im Olympia-Jugendlager, einer Präsentation des DDR-Leistungssports zum internationalen wissenschaftlichen Kongreß »Sport in unserer Welt«, präzisem Timing bei der Flaggenhissung im olympischen Dorf: »Unzählige Journalisten sehen auf die Uhr. Aber: spielt die Minute eine Rolle, nachdem es harte Jahre gedauert hat, bis dieser Augenblick Wirklichkeit wurde?« (SED-Zentralorgan »Neues Deutschland«).
Mindestens so harte Jahre hatte es gedauert, bis die DDR sich entschloß, rund 2000 ihrer Bürger eine Reise in den Westen zu gestatten -- Olympia-Fans und Schlachtenbummler als eingeplantes Dekor für Ränge und Tribünen.
Vor zwölf Monaten schon entschied sich das Nationale Olympische Komitee der DDR für die Luftkurorte Oberaudorf und Kiefersfelden, 100 Kilometer weit von München, als Quartier der Staatstouristen -- dort, so erinnerte man sich wohl, waren im Winter 1953 die ersten gesamtdeutschen Skimeisterschaften geplant und Quartier schon gemacht gewesen, ehe alles abgesagt wurde.
Wo zwischen Wendelstein und Kaisergebirge an der Kufsteiner Grenze bis zu seinem Tod am Dienstag vergangener Woche Magnus Freiherr von Braun, 94, Vater des Raketenbauers Wernher, seinen Alterssitz hatte, Mirja Sachs, Ehefrau von Playboy Gunter, mitunter zur Erholung kommt und das Verkehrsamt mit einem 18-Strophen-Gedicht (»Der wilde Kaiser prägt die Szene«) wirbt, da erschienen die Quartiermacher vergangenen Sommer erneut, prüften Bett und Bad, Speis und Preis (Pension mit Frühstück 4,70 Mark bis 14,50 Mark) und schlossen den Kontrakt. An den Wirtshaustischen feixten die Krachledernen, »ob wir wohl einen Dolmetscher brauchen«. Ausgewählt wurde »na eben nach besonderen Verdiensten«.
Zur selben Zeit begann die Sichtung der Interessenten, die sich bei den staatlichen DDR-Reisebüros zur Westfahrt gemeldet hatten. Auserwählt wurden Arbeiter, Bauern, Vertreter der Intelligenz nach bestimmten Kriterien, »na eben nach besonderen Verdiensten« wie einer von ihnen später erzählte.
Auserwählt wurde etwa, wer sich im Betrieb verdient gemacht hatte -- einer durch Erfüllung von Übersoll, einer durch Jugendarbeit in der Betriebssportgruppe, zuverlässige DDR-Bürger. Was darüber hinaus die Selektion bestimmt haben mag, ließ sich erst am Zielort an der Zusammensetzung der Gruppe und nur ungefähr ausmachen: zumeist Betriebssport-Funktionäre« »meist Männer in mittleren Jahren« (»Hamburger Abendblatt«), die »einen weltanschaulich gefestigten Eindruck« (»Mittelbayerische Zeitung«) machten, ohne Ehefrau.
Ein diplomierter Thüringer Stahlbauschlosser, der mitkam, hatte schon Feindberührung: Auf Einladung der DFU war er mit Referaten über die Lage der DDR-Frau mehrmals in der Bundesrepublik unterwegs gewesen. Und ein Bauführer aus Teltow hatte sich einfach ums Vaterland verdient gemacht: »Ick habe unsern Staat mit uffjebaut.« Mancher wußte selber nicht recht, wie er zu der Ehre gekommen war. Ein Dresdner Maschinenschlosser: »Meine Kumpels haben gesagt, Mensch, hast du Schwein gehabt.«
SED-Mitgliedschaft war nicht Bedingung: Ein parteiloser Dreher kam mit, weil er bei der Bezirksmeisterschaft in der Leichtathletik gewonnen hatte. »Guck mich an«, sagt er, »seh' ich wie ein Bonze aus?«
Wie sie auch aussehen, was sie auch sind-die 1093 »Ostzonler« (so die unter Oberaudorflern übliche Vokabel), die vergangene Woche kamen, und die nochmal 1000, die sie diese Woche ablösen« sind die ersten DDR-Touristen, die jemals in die Bundesrepublik fahren durften.
Touristischen Verkehr von der Ost- in die West-Republik gab es vor der Mauer nicht und nicht danach. Wer im SED-Staat wohnt, darf gen Westen -- und Westen ist alles außer Osten -- nur reisen, wenn es dem Staat auch nutzt, und so reisen Professoren in die USA, Tenöre nach Bayreuth, Techniker und Kaufleute nach Rom und Riem, Kapstadt und Cannstatt.
Ferien jenseits der Grenzen aber sind nur im Ostblock oder im Rentenalter erlaubt. Nur für kurze Zeit vor 1962 gab es Touristik nach Ägypten, Schweden und Finnland, und auch die Fahrten des DDR-Dampfers »Völkerfreundschaft« in westliches Wasser wurden eingestellt; die Ausstiegsquote unterwegs wurde zu hoch.
So muß, wer frei reisen will, bis ins Alter warten. Dann darf er mit zehn Westmark in der Tasche zu den Verwandten ins andere Land -- rund eine Million je Jahr. Innerdeutsche Sensation also, wenn nicht ein Opa aus dem Interzonenzug steigt, sondern gleich eintausend unter 65 in zwei Sonderzügen von drüben kommen.
In Oberaudorf -- Gemeinde mit eigenem Wasserfall -- bliesen am Donnerstag vorletzter Woche Seppls »Treu zur Fahne«, gingen aber, als der Sonderzug mit den Reichsbahn-Waggons hinter der Diesel-Lok 140 149-6 der Bundesbahn einrollte, doch zu den »Holzhackerbuam« über, und in Kiefersfelden -- Sehenswürdigkeiten der Saison: »Die fünf Karnickel« auf der Heimatbühne -- gab es, wie sonst Pfefferminz von der Inneren Mission, Enzian gleich vor dem Bahnhof.
Aus München waren Genossen von der DKP und SDAJ in zwei Bussen gekommen und ließen die DDR hochleben. Die im Zug verstauten noch schnell ihre Flaschen Radeberger Pils, sammelten ihre Mitropa-Marschverpflegung (Sandwiches, Instant-Kaffee, Studentenfutter, Pfefferminz) ein und zögerten dann doch, den fremden Boden zu betreten. »Willi«, riet ein Erfurter Olympiagast seinem Kollegen, »warte mal zu, bis wir »ne Anweisung kriegen.«
Franz Larcher, parteiloser Bürgermeister von Kiefersfelden, pries seinen Enzian: »Dies ist ein Gruß aus unserer Heimat. Wir hoffen, daß Sie sich bei uns sehr wohl fühlen werden.« Trotz Schnaps blieb die Antwort nüchtern: »Unser Besuch gilt den sportlichen Interessen, wir wollen unsere Olympia-Sportler anfeuern.«
Mancher der Gäste hatte sich wegen des dünnen bayrischen »Rundfunkbiers« (ein DDR-Tourist: »Das, nicht wahr, meldet sich zu jeder Pause«) selber etwas zum Prosten mitgebracht -- so ein Zwickauer diverse Spirituosen in einem Pappkarton der »VEB Weinbrennerei Meerane«. Aufdruck: »Rückgabepflicht! Karton mit Fächerteilen sofort zurück.«
Da standen sie nun, Sandalen an den Füßen, Schillerkragen über dem Jackett, Hammer und Zirkel nebst den olympischen Ringen als Anstecknadel am Revers, zwei Coupons über je 5,50 DM (West) pro Tag in der Tasche und sprachen fortan mit Westlern nur noch, wenn sie gefragt wurden.
»Des san Deitsche wie mir sölber« hatte ein Oberaudorfer Gemeindevater vor Ankunft der Fremdlinge prophezeit. Ein Landwirt aus demselben Ort, Quartiergeber für sechs Mann, wußte dagegen, »daß die aus der Ostzone ja von der DDR san«, und er kam der Wahrheit schon näher.
Denn nicht daß die einen Bayern, die anderen Sachsen, Thüringer und Märker waren, trennte Einheimische und Ankömmlinge -- in alten Zeiten hatte »Kraft durch Freude« auch schon Scharen von solchen Mitteldeutschen in das Inntal verfrachtet. Auch daß die einen Strauß, die anderen Honecker wählten, machte den Unterschied nicht aus. Was die Distanz trotz Obstler im Biergarten so schwer überbrückbar machte, definierte ein eingesessener Bayer so: »Des ist, wia wenn's d'Mauer dabeihätten.«
»Die Befangenheit legt sich spätestens nach einer Stunde«, hatte sich Bürgermeister Larcher über die Kühle des Empfangs in Kiefersfelden getröstet. Aber noch nach einer Woche war die Temperatur nicht eben hoch: Eine freilich unbedarfte Frage eines West-Urlaubers (»Dürfen Sie jetzt mit mir reden?«) empfand Ost-Gast Dr. Peter Held, Wirtschafts-Professor aus Leipzig, als Aggression. »als wenn wir im Käfig lebten«.
In Dreiergruppen zum Bier
Verärgert reagierten sie vor allem auf Fragen der vielen Journalisten. von denen manche sich als Urlauber und mit falscher Berufsangabe getarnt in Kiefersfelden und Oberaudorf eingemietet hatten:
»Ich gehe hin, wo ich will -- auf die Berge, durch die Leopoldstraße oder ins Schwimmbad« (ein Gießereifacharbeiter).
»Sie fragen immer, warum wir nicht weg können. Fragen Sie doch, warum wir nicht weg wollen« (ein LPG-Vorsitzender).
»Natürlich habt ihr zur Zeit die besseren Textilien, aber es wird sich zeigen, wer die besseren Menschen hat« (ein Bauingenieur).
»Wir sind doch hier bei Sportwettkämpfen, warum fragen Sie politisch?« (ein Stahlbauschlosser).
Ein bißchen mehr wußten sie beim Obstier im Quartier ihren Gastgebern oder beim zweiten Frühstück auf der Waldbank dem Oberaudorfer Postboten oder schließlich im Laden des Bürgermeisters zu erzählen, wo sie Feinstrumpfhosen erstanden -, aber auch dann blieb es auf wenige Themen beschränkt: kleine Kinder, schöne Gegend, Ort und Sport. »Über Sport«, so eine Quartierswirtin, »unterhalten wir uns schon, nicht über Medaillen, über Sport allgemein.
Nicht einfach Urlauber, Kurgäste, so schien es, waren gekommen, sondern Abgesandte, die der neuen Umgebung zutiefst mißtrauten. Die Zimmerliste der »Alpenrose« in Oberaudorf etwa wies die Gäste nicht wie üblich namentlich, sondern anonym als »DDR« aus, und um den Vornamen gebeten, verweigerten die meisten die Aussage.
Steif und schweigend, als hielten sie vor Fremden Freude und Rührung für Schwäche, verharrten die Arbeiter und Bauern auch noch, als über den Fernseher im Garten der »Alpenrose« zum erstenmal die DDR-Hymne zur Siegerehrung ertönte. Schon simpelsten Service mochten sie nicht akzeptieren, bauten bei Maurer Baumgartner die Betten selber und verzichteten auf Bedienung beim Frühstück.
Wo sie sich im Gasthof ein Bier genehmigten, erschienen sie nicht allein. sondern mindestens in Dreiergruppen und plazierten sich abseits an leere Tische. Stießen noch drei dazu, dann mieden auch sie die Runde der Einheimischen und holten sich höflich zusätzliche Stühle an den volkseigenen Stammtisch.
»Man kann gar nicht so schnell kotzen ...«
Isoliert im eigenen Coupé fuhren sie auch täglich von Oberaudorf nach München zu den Spielen; nur wenn es gar nicht anders ging, nahmen sie Tuchfühlung mit Westdeutschen in Kauf. Als in einem solchen Abteil ein Reisender seinem DDR-Nachbarn die Morgenzeitung offerierte, lehnte der knapp ab und wartete, bis ein Genosse das gleiche Blatt ausgelesen hatte.
»Ach ja«, sprach man da in Kiefersfelden, »i mein, es san ja auch Deitsche, net, oder? Es san überall nette Leut.« Aber die netten Leute schienen dann doch aus einer anderen Welt zu Besuch, nahmen Abstand vom Chiemgauer Volkstheater (»Auf der Alm, da gibt's koa Sünd«) und ärgerten sich lieber -- bei der Lektüre der von ihnen bevorzugten »Bild« und »Welt«. Ein DDR-Historiker in der Kiefersfeldener »Post«: »Man kann gar nicht so schnell kotzen, wie die schreiben möchten.«
Auch deutsch, gewiß. Aber doch so Schnitzler ähnlich, daß es oft wie programmiert erschien -- ohne die Aufgeschlossenheit, die alleinreisende Männer sonst so oft zeigen, ohne ersichtlichen Antrieb, mal auszubrechen und außerhalb des Stundenplans etwas auf die Beine zu stellen. Wagte einer spät nachts den Vorschlag: »Komm, einen trinken wir noch«, dann war bestimmt ein anderer da, dem das Gewissen schlug: »Nee, laß man lieber, das gibt bloß Schwierigkeiten« -- so Anfang voriger Woche vor dem Tanzcafé Waller in Oberaudorf.
So freudlos wirkten die meisten, daß sich fragen ließ, weshalb sie überhaupt gekommen waren. Sogar wenn sie ihre Freizeit nutzten und auf Berge kraxelten, kraxelten sie kollektiv und vergaßen bei der Heimkehr nicht zu erwähnen, daß man in der Sächsischen Schweiz auch ganz schöne steile Felsen habe -- als hätten die bayerischen Alpen einen Alleinvertretungsanspruch. Und nur zwei oder drei fanden schließlich zu sich selber und brannten nachts heimlich nach Schwabing durch.
Tagsüber in München aber waren wieder alle im Takt: Immer zehn Mann aufgereiht in der Sporthalle beim Turnen, immer im Knäuel zu dreißig auf der Schwimmtribüne schwenkten sie ihre Fähnchen wie aufgezogen, und mitunter war zu sehen, wie alle erst guckten, bis einer winkte -- dann winkten alle. Ruckartig, wie auf Kommando, hörten sie damit auch wieder auf und verharrten schweigend bis zur nächsten Claque.
Als sie in der Schwimmhalle gerade wieder beim Jubeln waren, setzte ihr Beifall abrupt aus, als Willy Brandt eintraf. Am nächsten Tag kamen sie ohne Fähnchen wieder, so sehr waren sie von umsitzenden Zuschauern verspottet worden. Karten, so erwies sich, hatten sie -- langfristig geplant wie alles nur für die Auftritte ihrer DDR-Favoriten bestellt.
Einmal funktionierte die Fernlenkung nicht: Als am Dienstag vergangener Woche in der Boxhalle drei DDR-Fighter in den Ring stiegen und siegten, rührte sich kein Emblem. Alle schwenkten nebenan in der Sporthalle, wo die Turnriege der Republik gerade eine Bronzemedaille gewann.
Mit ihrer Eigenart hoben sich nicht nur die Touristen aus der DDR vom Rest der Welt in den Stadien ab, wo sonst keiner Zuschauerreihe auf den ersten Blick anzusehen war, ob Schweden oder Schweizer, Polen oder Portugiesen sie besetzt hatten. Der Gruppenzwang, den sie -- aus Stolz, aus Mißtrauen, aus Angst? -- übten, isolierte im Olympischen Jugendlager auch die Jugendlichen und beim Wissenschaftlichen Kongreß die Wissenschaftler, die Ost-Berlin nach München entsandt hatte.
Im Blockhaus Nr. 44 des Jugendlagers waren die 60 verdienten Jugendsportler, Lehrlinge, Schüler und Studenten, die FDJ daheim ausgesucht hatte und die von FDJ in München angeführt wurden, vom Morgenappell an -- dem einzigen im Lager -- so stramm auf Vordermann gehalten, daß niemand mit ihnen so recht etwas anfangen konnte. Verständnislos beklagte sich ein FDJ-Führer, daß »unsere Erwartungen in bezug auf Kommunikation bis jetzt nicht erfüllt worden sind«. Aber als die Sowjets beim Nationen-Abend im Lager die Preisfrage stellten: »Wer kennt die UdSSR am besten?« -- da waren gleich vier DDR-Deutsche auf den ersten Plätzen.
Auch im Kongreßsaal des Deutschen Museums, wo sich eine Woche lang vor Beginn der Spiele 2000 Wissenschaftler über den »Sport in unserer Welt« ergingen, waren die DDR-Delegierten kaum zu bremsen. Hochleistungssport im »spätbürgerlichen Sportbetrieb« unterliege, »wie alle menschlichen Lebensbereiche, den Profitgesetzen«. Hochleistungssport in der DDR dagegen war für sie alles Gute: »Bestandteil des Bildungsprozesses«, »harmonische Entfaltung«, »zutiefst humanistisch«.
Westdeutsche Gesprächspartner, die den gesellschaftspolitischen Ansatz des DDR-Sportkonzepts gar nicht einmal ablehnten, verzweifelten schließlich an der Enge ihrer ostdeutschen Kollegen. So der Tübinger Jura-Doktorand Franz Nitsch: »Auf Widersprüchlichkeiten gingen die überhaupt nicht ein. Die haben uns einfach in die Scheiße gehaun.«
Im Lager wie im Museum versuchte man sich einen Reim auf solch wunderliches Verhalten zu machen. Linke westdeutsche Studenten, die im Jugendlager kampierten, vermuteten bei den anderen Deutschen »ein furchtbar gestörtes Selbstbewußtsein«. Die »Süddeutsche Zeitung« entdeckte unter den Wissenschaftlern des Sportkongresses »verkrampften Selbstbestätigungszwang« und »Versessenheit auf internationales Renommee«.
Die offenbar in der Tat nur psychologisch zu deutenden Symptome waren nicht nur auf Rängen und Kathedern wahrzunehmen. Auch bei denen, die durch aufsehenerregende Leistungen noch am ehesten intaktes Selbstbewußtsein hätten vorweisen können, war offenkundig nicht alles ganz im Lot: bei den Klasse-Athleten aus der DDR.
Selbst den Gold-Gewinnern vom Kanu-Slalom, die sich -- nach sechs Olympia-Tagen als erste DDR-Sportler -- vom Westdeutschen Fernsehen interviewen ließen, war die Übervorsicht anzumerken. Unbefangen antworteten sie nur, wenn es um »die Strecke« oder die »Oberkörper-Muskulatur« bei den Damen ging. Aber schon die Antwort auf die Frage, ob sie sich im Olympischen Dorf wohl fühlten, begann mit einem verlegenen »also ...«
»Gespräche nur in Grenzbereichen, vielleicht in der Sauna«
Dann waren sie wieder in Papierform: »Wir haben mit dem Olympischen Dorf die Möglichkeit erhalten, uns in aller Ruhe sorgfältig auf unsere Wettkämpfe vorzubereiten.« Gefragt, ob es im Kanuten-Sonderzug München-Augsburg zu Kontakten mit westdeutschen Sportlern gekommen sei, wichen sie aus: »Dort waren wir so dicht und so bunt gemischt zwischen allen Nationen miteinander.« Der westdeutsche Silber-Kanute Reinhold Kauder hingegen: »Die lassen sich auf kein Gespräch ein.«
Richard Möll, vom Westdeutschen Bundesausschuß für Leistungssport, fand »Gespräche nur in Grenzbereichen, vielleicht in der Sauna« möglich. In den Olympischen Dörfern von München und Kiel wirkten die DDR-Quartiere auf Passanten wie unbewohnt. Wann immer ostdeutsche Sportler den Mund aufmachten (»Geht"s gut?« -- »Ja, ja, ganz gut« -- »Und sonst?« -- »Keine Zeit, muß weiter«), da verloren sie -- zumindest in der ersten Olympia-Woche -- selten ein Wort, das eine Unterhaltung hätte ergeben können. Auch schlichte Fachsimpelei war vorerst kaum möglich und wurde abgebrochen, wenn ein Mannschaftskollege auftauchte: »Da kommt mein Kamerad, auf den ich warte« -- soll heißen: Das Gespräch ist beendet.
Auf dem offiziellen Fragebogen, der an die Olympiateilnehmer in Kiel ausgegeben wurde, verweigerten elf der fünfzehn aktiven DDR-Segler jegliche Auskunft über ihre Hobbys, neun wollten noch nicht einmal ihren Beruf preisgeben. Herbert Weichert, Steuermann des DDR-Star-Boots, hielt sogar den Namen seines Klubs (SC Empor Rostock) geheim.
Bei den Boxern in München wäre es aus DDR-Eigensinn fast zur Krise gekommen, als der DDR-Kampfrichter Joachim Wolf im amtlichen Olympia-Handbuch einen Druckfehler fand: im englischen Text stand hinter seinem Namen »GER« statt »GDR«, Deutschland (für: Bundesrepublik) statt DDR.
Wolf sammelte die Handbücher aller Boxer, Richter und Funktionäre ein, strich Germany mit Tinte durch und kritzelte GDR hin. Nur der westdeutsche Kampfrichter Siegfried Hahn rückte sein Buch nicht heraus: »Det kommt so in mein Boxalbum.« Wolf erregte sich über die »Unsportlichkeit«: »Ich werde den Fall untersuchen lassen und auch in Ihrem Hetzbuch die Löschung erzwingen.« »Wir kämpfen um das letzte Korn.«
Es war, als sollte auch von den DDR-Sportlern in München der Parteiauftrag erfüllt werden, ungeachtet aller Ost-West-Entspannung die DDR »auf allen Gebieten von der imperialistischen BRD abzugrenzen«.
»Ihr seid Klasse«, telegraphierte denn auch die »Sportgemeinschaft Dynamo Luckenwalde« nach München, und die Depesche wurde in der Conollystraße 20-24 des Olympischen Dorfs nebst anderen ans Schwarze Brett des DDR-Quartiers geheftet. Kontakte nach Haus -- da schienen sie ihrer Sache sicher, und vor den eigenen Fernsehkameras grüßten sie auch Onkel und Tante.
Die Heimat dankte vielmals: »Die Bäuerinnen und Bauern der kooperativen Abteilung Pflanzenproduktion Heiligengrabe, Kreis Wittstock, wissen, daß ihr alles für unsere Republik gebt. Wir werden keine Stunde ungenutzt lassen, um das Korn für unseren Staat, die sozialistische Deutsche Demokratische Republik, so verlustarm wie möglich zu bergen. So kämpfen wir gemeinsam um höchste Ergebnisse, ihr um olympische Ehren, wir um das letzte Korn.«
So gut verstand man sich vor Ort, im olympischen Westen, nur einmal: im Touristen-Quartier Kiefersfelden am Mittwochabend letzter Woche, als die DKP Bayern-Süd zum »Internationalen Freundschaftstreffen« in den Gasthof »Bergwirt« geladen hatte. Die sozialistischen Brüder und Schwestern aus Polen, der CSSR, aus Kuba und der Sowjet-Union, aus Rumänien und der Volksrepublik Korea lachten und weinten mit den DDR-Genossen aus Wiedersehensfreude, riefen »Freundschaft, Freundschaft«, und alle zusammen küßten sich und schlugen sich auf Schultern, sangen die alten Lieder (»Bandiera Rossa«) und hörten die vertrauten Reden.
Nach deftigem Zwiegesang zwischen Bühne und Saal -- Frage: »Was hat in der Vergangenheit die CSU vollbracht«, Antwort-Chor hundertstimmig: »Scheiße« -, nach viel Balalaika und einer Menge Blasmusik war die Fremde vergessen. Ein Reporter der »Süddeutschen Zeitung« notierte, wie »rotbackig vor Stimmung« ein älterer DDR-Gast wiederholt aufsprang und seinen Freunden zurief: »Wat sachste nu, wat sachste nu?«