GEHLEN Des Kanzlers lieber General
Schon daß hier sein Name lautbar ward, widerspricht vollkommen seiner Art.
(Nach Morgenstern.)
Kalanag, der abendfüllende Bühnenmagier, absolvierte - es war Oktober 1953 - ein Gastspiel in Münchens Deutschem Theater. Die vollbesetzte Sonnabend-Vorstellung war auf dem Höhepunkt angekommen: Aus einer vor den Augen des Publikums mit Wasser gefüllten Kanne schenkte Kalanag Flüssigkeiten in den Farben zugerufener Getränke aus.
»Kaffee!« verlangte das Publikum mit Dritterklasse-Phantasie. »Kaffee mit Milch«, »Tee«, »Kakao«, »Rotwein«.
Dann schlug der Publikumserfolg des Magiers im roten Smoking für einen Augenblick um in den Lacherfolg eines pfiffigen Primaners, der aus der vierten Parkettreihe zur Bühne hinaufrief, Kalanag möge »die Milch der frommen Denkart« ausschenken (1).
Kalanag überging den Zwischenruf und goß gelben Pernod in ein Glas. Vater, Mutter und die ältere Schwester belachten den Primaner amüsiert, zwei kleine Schwestern lachten zur Gesellschaft mit.
Wer etwa in der Nähe der vierten Parkettreihe des Deutschen Theaters saß und aus Starnberg stammte, mag das Familienidyll als die in einem Landhaus bei Starnberg ansässige Familie Gehlen identifiziert haben. Der Familienvater, ein eher zierlicher als drahtiger Herr mittlerer Größe, hatte zeitweilig dem Elternbeirat des Starnberger Realgymnasiums angehört. Auf die Bitte des Oberstudiendirektors Dr. Jobst, jedes Beiratsmitglied möge doch einige Worte über sich selbst verlieren, hatte sich der Vater des Primaners Christoph Gehlen als Kaufmann bezeichnet und mitgeteilt, er habe mit Patenten zu tun und arbeite auch im Interesse der Bundesregierung.
Der Name Gehlen erinnerte Dr. Jobst an einen Disput, den er einige Zeit vorher an einer Münchener Höheren Handelsschule mit der Schülerin Katharina Gehlen gehabt hatte:
Dr. Jobst hatte sich im Verlaufe historischer Ausführungen kritisch über die preußischen Offiziere geäußert, worauf sich jene Katharina Gehlen zu einem sehr bestimmt vorgebrachten Protest erhob. Dem Dr. Jobst kam unvermittelt eine Assoziation: »Haben Sie vielleicht etwas mit dem geheimnisvollen General Gehlen zu tun?«
Die Schülerin wich unbestimmt aus: das sei ein entfernter Verwandter von ihr. Vater Gehlen, der an der Familientafel mit dem Zwischenfall befaßt wurde, muß jedoch anders entschieden haben. Nach der nächsten Stunde teilte Katharina dem Dr. Jobst vertraulich mit, sie sei die Tochter des Generals.
In der Tat, der Vater am Starnberger Familientisch, der Elternbeirat und Kalanag-Besucher war jener General Reinhard Gehlen, über den noch in den letzten Wochen geschrieben wurde, es gäbe nur zehn Männer, die von sich behaupten könnten, ihn zu kennen und mit ihm zu sprechen.
Der Mann, den die sowjetische und sowjetdeutsche Presse täglich als entarteten amerikanischen Oberspion beschimpft, den Sefton Delmer als Boß der ehemaligen Gestapo-boys beschrieben hat und den Frankreichs offiziöser »Monde« vor vier Wochen den »allmächtigen Chef aller Geheimdienste der Bundesrepublik von morgen« nannte, ist seiner Herkunft nach nichts anderes als einer jener anonymen Träger des karmesinroten Generalstabs-Streifens, die in keinem Wehrmachtbericht genannt, in keinem Kriegsverbrecherprozeß protokolliert und in der Kriegsliteratur nicht einmal im Appendix verzeichnet sind. Er war 22 Jahre Berufssoldat, ehe er zum erstenmal mit Geheimnachrichten zu schaffen hatte. Die größte Truppeneinheit, die er je kommandierte, war eine Feldhaubitz-Batterie. Sein Geheimnachrichtendienst entstand aus einem bitteren Zweikampf der Wehrmacht mit der SS.
Gehlen stammt - und hier schon ist die Standard-Legende falsch, die sich gebildet hat, seit er in den letzten zwei Jahren als Leiter eines deutsch-amerikanischen Geheimdienstes genannt wird - nicht aus der alten Armee und nicht aus dem Kadettenkorps. Er spricht nicht Russisch und ist niemals Agent oder Spion gewesen.
Reinhard Gehlen war 1920 einer der ersten Fahnenjunker der neuen vorläufigen Reichswehr, deren Reduzierung auf 100 000 Mann noch bevorstand. Als achtzehnjähriger Abiturient trat er in die 1. Batterie des Schweidnitzer Artillerieregiments 6 ein.
Sein Vater war Verlagsdirektor beim Breslauer Ferdinand-Hirt-Verlag. Nur die Tatsache, daß der Vater bis zu einem früh genommenen Abschied aktiver Offizier der alten Armee gewesen war, macht den Entschluß des Primaners ein wenig verständlicher, sich in ein Heer einstellen zu lassen, das seinen Offizieren nichts zu bieten hatte als Papp-Waffen und eine chancenlose Karriere bei schlechter Bezahlung, in ein Heer zudem, in dem er voraussichtlich während seiner ganzen Laufbahn im Schatten kaum rangdienstälterer Kameraden stehen würde, die sich mit abgelegten Feuerproben rühmen und im Schmucke von Kriegsorden zeigen konnten.
Die Ranglisten der deutschen Reichswehr verzeichnen Gehlen als Leutnant mit Offizierspatent vom 1. Dezember 1923 in der 2. Batterie des Schweidnitzer Artillerieregiments 3, das aus dem Artillerieregiment 6 hervorgegangen war. Mit Batteriedienst im Stall und in der Kaserne vergehen drei weitere Dienstjahre, deren jedes nur drei matte Markierungspunkte aufweist: die Winterabschluß-Besichtigung im Frühjahr, die herbstlichen Jagdritte nach den Manövern und das Kasinofest am Tage der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Artillerie.
Der kleine Gehlen ist einer der brillantesten Reiter im Regiment und wird 1926 auf zwei Jahre zur Kavallerieschule Hannover kommandiert. Zwei Jahre, eine Zeitspanne, in der heutzutage ein veritabler Düsenpilot fix und fertig ausgebildet wird, ließ man sich bei der Reichswehr Zeit, um Offiziere berittener und bespannter Truppen »in umfassender Ausbildung des Soldatenpferdes und seines Reiters« zu schulen. Bei der heimischen Batterie oder Schwadron erwartete die Offiziere ohnehin vor dem zehnten Dienstjahre nichts als ein in allen Armeen der Welt beispielloser Routinedienst.
Das Reitschulkommando war begehrt, denn Hannover, wenn es auch die Stadt der Welfen war, bot doch noch einiges mehr als Schweidnitz, Arys oder Lüneburg, und mochten es nur die Reiter-Frühstücksrunden im Restaurant Schnurre gegenüber der Kavallerieschule oder die Abende in Kastens Hotel sein, wo die Bespornten im Milieu der Garnison-Offiziere und der nachinflationären Bürgerlichkeit dominierten.
Während des Reitschulkommandos wurde Reinhard Gehlen 1928 nach acht Dienstjahren Oberleutnant, was nicht etwa hieß, daß eine Batteriechef-Ernennung auf ihn wartete, als er in seine Schweidnitzer Batterie zurückkehrte.
Von 1929 bis 1932 erscheint er in den Ranglisten als Abteilungsadjutant. Er hat nun zwölf Dienstjahre und ist mit der Tochter eines alten Husaren-Offiziers, einer geborenen von Seydlitz, verheiratet. Die Entscheidung drüber rückt heran, ob er im Truppendienst verbleibt oder Generalstabsausbildung erhält.
Allerdings, das Wort Generalstab existiert in jenen Reichswehrzeiten offiziell nicht. Im Versailler Vertrag ist dem deutschen Heer ein »Großer Generalstab« und die Ausbildung von Generalstabsoffizieren auf einer Kriegsakademie als quasi kriegsverbrecherisch verboten worden. Der »Große Generalstab«, dessen Chef unmittelbar dem Kaiser vorgetragen hatte, sollte nie wieder erstehen.
Das Schema von Versailles duldete nur ein »Truppenamt« in der Heeresleitung des Reichswehrministeriums, dessen Chef durch zwei Instanzen, den Chef der Heeresleitung und den Reichswehrminister, vom Staatsoberhaupt getrennt war. Die Versailler Terminologie kannte auch keine Generalstabsoffiziere, sondern nur »Führergehilfen« und »Führerstabsoffiziere«, eine Tatsache, die sich zehn Jahre später als makabrer Wortwitz erweisen sollte.
Während sich in der alten Armee die Aspiranten für den Generalstabsnachwuchs freiwillig zur Prüfung meldeten, hatte Generaloberst von Seeckt für alle Reichswehroffiziere Pflichtprüfungen eingeführt, die im mittleren Oberleutnants-Alter beim Wehrkreiskommando abzulegen waren. Wer sich durch gute schriftliche Arbeiten, die nicht unter dem Namen, sondern unter Kennummern abgegeben wurden, in der sogenannten »Wehrkreisprüfung« qualifizierte, wurde zur »Führergehilfen-Ausbildung« beim Wehrkreiskommando abkommandiert. Eine zentrale Kriegsakademie gab es nicht.
Mehr als durchschnittlich zehn Offiziere in jedem der sieben Wehrkreise wurden nur selten zur Ausbildung zugelassen. Im Jahre 1933 zählte zu den Bevorzugten des Wehrkreises III, Berlin, der Oberleutnant Gehlen vom AR 3.
1934 gingen die Wehrkreislehrgänge an die wiedergegründete Berliner Kriegsakademie über. Reinhard Gehlen gehörte zum ersten Jahrgang, der 1935 die Schlußreise der Kriegsakademie absolvierte.
Durchschnittlich die Hälfte der Absolventen wurde in der Regel zur Truppe zurückversetzt, wo sie, wenn nicht als Truppenoffiziere, dann als Taktiklehrer oder in Stäben Dienst taten. Die roten Streifen, das Zeichen der Berufung in den von Hitler nun wieder so benannten »Generalstab«, waren der verbleibenden Hälfte vorbehalten - denjenigen, bei denen die ausbildenden Kriegswissenschaftler und Truppenkommandeure den Feldherrnblick erkannt hatten.
Denn mochten auch Waffentechnik und Wirtschaftsgeographie, Geschichte und Sport, Staatsbürgerkunde und technische Führungsprobleme im Lehrplan der Kriegsakademie stehen: das Kriterium der Qualifikation zum Dienst im deutschen Generalstab war seit den Tagen Moltkes und Schlieffens der »Coup d''oeil«, das blitzartige Erfassen der taktischen oder strategischen Lage, der schnelle und schnell begründete Operationsentschluß.
Unter den schätzungsweise fünfzig Offizieren des deutschen Heeres, die 1935 in den Generalstab kommandiert wurden, war der Schweidnitzer Artillerist Gehlen, der 1934 in seinem vierzehnten Dienstjahr Hauptmann geworden war. Nach einem Probejahr wurde er endgültig in den Generalstab versetzt und durfte die roten Hosenstreifen anlegen, das Abzeichen jener mysteriösen Soldatenkaste, deren Scherenfernrohr die Hornbrille, deren Waffe der Kohlestift, deren Ruhm die Ruhmlosigkeit und deren Kriegsdekorationen oft nur das Verdienstkreuz war.
Für jeden jungen Generalstäbler gab es zwei wichtige Entscheidungen: Wurde er zum Dienst im »Generalstab des Heeres« herangezogen oder zu Generalkommandos und Divisionsstäben abgestellt? Und: Bekam er Zugang zu den erstrebten operativen Abteilungen, die im Frieden die Aufmarschpläne ausarbeiteten und im Krieg die Operationen großer Heereskörper leiteten, oder mußte er sich mit Versorgung und Transport, mit Ausbildung und Organisation, mit Vorschriftenwesen, Kriegsgeschichte oder Feindlage beschäftigen?
Eine generalstäblerische Faustregel gebot, sich nicht mit Sprachkenntnissen hervorzutun, weil die Folge war, daß man in die wenig erstrebten Stellungen des Ic-Offiziers, des Sachbearbeiters der Feindlage, kommandiert wurde. Reinhard Gehlen beherzigte diese Faustregel bewußt und mit Erfolg. Seine erste Generalstabsstellung war die des Adjutanten beim Oberquartiermeister I im Generalstab des Heeres, der Vertreter des Generalstabschefs war und dem auch die 1. Abteilung, die Operationsabteilung, unterstand.
Mit den Abteilungen 3 (Fremde Heere West) und 12 (Fremde Heere Ost) bekam der Hauptmann i. G. Gehlen keine Verbindung, denn sie unterstanden dem Oberquartiermeister IV. Gehlen wurde nach einem Jahr Adjutantendienst in die Operationsabteilung übernommen, die der General von Manstein leitete, und nach einem weiteren Jahr in die aus der 1. Abteilung gebildete Abteilung Landesbefestigung versetzt.
Mittlerweile stand der Hauptmann Gehlen in seinem achtzehnten Dienstjahr, ohne je eine selbständige Einheit geführt zu haben. Das übliche Truppendienst-Kommando stand bevor, und es traf sich wie ein Zufall, daß General von Manstein am 1. April 1938 eben jene 18. Infanterie-Division als Kommandeur übernahm, deren Artillerie-Regiment 18 aus dem AR 3, der Stammeinheit Gehlens, hervorgegangen war. Als Chef der 8. Batterie des AR 18 in Liegnitz sah Manstein seinen Generalstabs-Hauptmann wieder.
Diese Batterie sollte, so wollte es Gehlens Soldatenschicksal, die größte Truppeneinheit sein, die er jemals kommandierte, obwohl ihm der Aufstieg zum General vorbestimmt war.
Zwischen den Batteriechef-Kameraden mit sehr frischen Leutnants- und Oberleutnantspatenten der neuen Wehrmacht nahm sich der in seinem 37. Lebensjahr stehende Hauptmann Gehlen wie ein Museumsstück aus Reichswehrzeiten aus.
In den Polenkrieg marschierte Gehlen als Major und Erster Generalstabsoffizier (Ia) einer Division, die schon an ihrer verdächtig hohen Hausnummer (213) zu erkennen gab, daß sich in ihr nicht die aktive Elite, sondern die Landwehr versammelte. Der ganze Divisionsstab zählte nicht mehr als drei aktive Offiziere.
Die Kriegsgeschichte des Polenfeldzuges vermerkt keine Ruhmestaten des Divisions-Ia Major Gehlen, doch im Generalstab des Heeres hatten ihn seine Freunde und Förderer nicht vergessen. Er wurde zurückgerufen und fungierte zunächst als Verbindungsoffizier zu verschiedenen Armeen, so zur 16. des Generals Busch, wo ein so schwieriger Mann wie der General Model Generalstabschef war, ferner zu den Panzergruppen Hoth und Guderian.
Das diplomatische Talent, das Gehlen als Verbindungsoffizier bewies, bewog den Chef des Generalstabes, Generaloberst Halder, ihn zu seinem Adjutanten zu machen. Und wiederum glückte es Gehlen, nach der Adjutantenzeit in die Operationsabteilung berufen zu werden, deren Leitung der damalige Oberst Heusinger übernahm, der heute im Amt Blank der oberste Soldat der Bundesrepublik ist.
Gehlen wird Leiter der Ostgruppe in der Operationsabteilung. Es ist die Zeit des Panzersturms im Osten. Die Heeresgruppe von Leeb bricht in drei Kriegsmonaten bis zum Ladoga-See durch, die Heeresgruppe von Bock schlägt die Kesselschlachten von Bialystok-Minsk, Smolensk und Wjasma, von Rundstedt erreicht den Mius und die Halbinsel Kertsch.
Es ist keine Zeit, in der nach der Lage auf der Feindseite viel gefragt wird. Im Führerhauptquartier gilt das klassische Führerwort, »daß dieser Feind bereits am Boden liegt und nie sich mehr erheben wird«. Es ist eine Zeit, in der der Generalstabs-Abteilung »Fremde Heere Ost« generalstäblerische Prominenz nicht beschieden ist.
Diese Abteilung wertete im Frieden das Geheim-Material aus, das der Admiral Canaris durch sein Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht über Heeresrüstung, -stärke, -gliederung und -stationierung der östlichen auswärtigen Mächte beschaffen ließ. Sie koordinierte Beobachtungen der Attachés, Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften, geographische Unterlagen, Wirtschaftsstatistiken und Dokumentar-Berichte über die auswärtigen Mächte, um der Führung ein Bild vom Rüstungsstand und der militärischen Lage in den Ländern östlich der Reichsgrenze zu geben. Die Aufgabe der Abteilung »Fremde Heere Ost« im OKH war die generalstäblerische Analyse - nicht die Spionage.
Im Kriege liefen bei der Abteilung »Fremde Heere Ost« auch die Mitteilungen über die Lage auf der Feindseite zusammen, die die Ic-Offiziere (die Feindlagen-Sachbearbeiter bei den Divisions-, Korps-, Armee- und Heeresgruppenstäben) auf Grund durchgeführter Erkundungs-Operationen der Truppe und durch Vernehmung von Gefangenen zusammengetragen hatten.
Im führerlosen Heer - Hitler hatte den Feldmarschall von Brauchitsch abgesetzt und sich selbst nominell zum Oberbefehlshaber des Heeres gemacht - konnte sich die Abteilung »Fremde Heere Ost« nur selten Gehör verschaffen. In Hitlers feldherrlichen Intuitionen spielte die Feindlage nur eine untergeordnete Rolle. Der Abteilungschef, ein Oberst Kinzel, war im Führerhauptquartier kaum dem Namen nach bekannt.
In der Beurteilung des Wertes der generalstäblerischen Feindlagen-Analyse trat erst ein gewisser Wandel ein, als sich im Winter 1941 auf 1942 die Front bei Leningrad festhakte und die Guderianschen Panzerspitzen bei Tula zusammenbrachen. Dem Wandel der sachlichen Beurteilung hielt die Person des Obersten Kinzel nicht stand. Er wurde ersetzt durch Oberst Gehlen aus der Operationsabteilung, der nun - inzwischen vierzig geworden - zum erstenmal im Leben mit einer schlichten Abart geheimdienstlicher Funktionen in Berührung kam.
Nicht ohne Erstaunen vernahm er aus dem Munde seines Vorgängers, daß mit den Akten, die die Herren seiner Abteilung im Laufe der Jahre zusammengesammelt hätten, für die operative Planung nichts Rechtes anzufangen sei.
Der Oberst Gehlen, der in seinen 22 Dienstjahren außer Reiten und Batteriedienst nichts anderes getan hatte, als operative Generalstabsprobleme zu bearbeiten, war nicht willens, seine neue Aufgabe anders als im operativen Sinne anzupacken.
Die Vorbedingungen dazu bestanden insofern bereits, als sich das OKW-Amt Ausland/Abwehr des Admirals Canaris, dessen Aufgabe die geheimdienstliche Nachrichtenbeschaffung war, in einer doppelten Bedrängnis befand. Die im Frieden aufgebauten Agentennetze des Amtes waren, zumal im Territorium des eigentlichen Gegners, infolge der Kriegsverhältnisse mehr und mehr zusammengeschrumpft. Gerade die hauptsächlich gefragten Nachrichten über die operativen Bewegungen und Planungen des Feindes konnte es nur noch in unzulänglichem Umfange liefern.
Andererseits bedrängte Himmlers Reichssicherheitshauptamt mit dem Sicherheitsdienst (SD) des SS-Obergruppenführers Heydrich und dem Amt Ausland/Abwehr des SS-Brigadeführers Schellenberg - dem geheimen politischen Auslandsnachrichtendienst der SS - die Kompetenzen des Admirals Canaris und schnitt ihm in den besetzten Gebieten und der Heimatzone die Verbindungen und Basen für eine operative geheimdienstliche Arbeit ab.
Der politische Kampf zwischen Canaris einerseits und Himmler, Heydrich und Schellenberg andererseits verschärfte den organisatorischen Wirrwarr, der im deutschen Geheimdienst ohnehin herrschte: Das Canaris-Amt im OKW gab das erarbeitete Nachrichtenmaterial unbewertet und im wesentlichen kommentarlos an die zuständigen Generalstabsabteilungen der drei Wehrmachtsteile ab, denen die alleinige Beurteilung oblag, wie die Nachrichten zu bewerten waren und welches Gewicht ihnen bei militärischen Entscheidungen beizumessen war. Eine Dachorganisation des politisch-militärischen Nachrichtendienstes gab es in Deutschland nicht. Der organisatorischen Zersplitterung entsprach die Effektivität der Dienste insgesamt.
Aus dem OKW-Amt Ausland/Abwehr selbst war daher kurz vor der Berufung Gehlens die Anregung gekommen, einen Teil der geheimdienstlichen Tätigkeit von der Abwehr auf die Ic-Abteilungen der hohen Stäbe zu verlagern. Der nachrichtendienstliche Einsatz und die Auswertung der Ergebnisse sollten in den Abteilungen »Fremde Heere Ost« und »Fremde Heere West« des OKH koordiniert werden.
Der Ic-Dienst, das Feindlagen-Referat, war schon infolge der deutschen Offiziers-Mentalität stets der schwächste Punkt der Stäbe gewesen. Im Frieden existierte der Dienst praktisch überhaupt nicht, im Kriege galt oft Sprachkunde oder studienrätliche Auslandskennerschaft als Qualifikation für den Ic-Posten, der in Wahrheit hohe generalstäblerische Qualitäten verlangte.
Es galt also zunächst, befähigte Offiziere in die Ic-Stellen der höheren Stäbe einzusetzen, es galt weiter, diesen Offizieren ein Instrument für die ihnen neu zugedachte Tätigkeit in die Hand zu geben.
Vom Oberst Gehlen wurde eine Entwicklung in diesem Sinne bei den Heeresgruppen der Ostfront so stark forciert, daß bereits ein Jahr, nachdem er seine Tätigkeit aufgenommen hatte, die Ic-Offiziere der Heeresgruppen-Oberkommandos über sogenannte »Frontaufklärungstruppen« in Regimentsstärke verfügten.
Die Tatsache, daß auf die Ic-Offiziere Kompetenzen übergingen, die in normalen Zeiten der Abwehr zugestanden hatten, spiegelt sich schon in der äußeren Gliederung der Frontaufklärungsverbände: In der Abwehr bearbeitete die Abteilung I die Geheimnachrichten-Beschaffung. Die Aufgabe der Abteilung II war die Zersetzung des Feindes und die Sabotage. Die Abteilung III, die durch ihre »Abwehr«-Tätigkeit dem gesamten Dienst seinen harmlosen Namen gab, hatte fremde Geheimdienste abzuwehren und unschädlich zu machen und ihrerseits durch eigene Vertrauensleute (V-Leute) in die feindlichen Dienste einzudringen.
Diesem Schema entsprechend, waren die Frontaufklärungsverbände in I-, II- und III-Kommandos eingeteilt, die Gruppe Rü (Rüstungsaufklärung) wurde neu erfunden.
Je verhängnisvoller die Abwehr des Admirals Canaris zerfiel, desto mehr rundete sich der eigene Geheimdienst Gehlens. Als im Mai 1944 Himmler und Schellenberg erreichten, daß Admiral Canaris abgesetzt und die Spitze des militärischen Geheimdienstes vom OKW in Schellenbergs Amt VI des Reichssicherheitshauptamtes verlegt wurde, hatte Gehlen im Osten einen eigenen Heeres-Nachrichtendienst stehen, der unter dem Tarnmantel des Generalstabs und des Ic-Dienstes der hohen Stäbe relativ ungestört weiterarbeiten konnte. Gehlen, der nach dem klassischen Inhalt seiner Generalstabsfunktion Feindlagen-Referent der Ostfront hätte sein sollen, war in der Praxis Abwehrchef des östlichen Kriegsschauplatzes geworden.
Vor allem war es Gehlen gelungen, das Prinzip zu durchbrechen, nach dem feldverwendungsfähige Offiziere unter 40 Jahren in Abwehrfunktionen nicht verwendet werden sollten. Die Frontaufklärungsverbände wurden als Einsatzeinheiten anerkannt.
Auch für ihren Dienst galt die Formel, die der Chef des amerikanischen Geheimdienstes im zweiten Weltkrieg, General Donovan, geprägt hat: »Achtzig Prozent des Nachrichtendienstes sind harte Arbeit, und die übrigen zwanzig Prozent mögen auf den Sektor fallen, den Roman und Film zeigen.«
Die Ic-Offiziere der Armee- und Heeresgruppenstäbe fügten in mühsamer Kleinarbeit Ergebnisse von Gefangenen-Aussagen, Erkundungsergebnisse eigener Verbände, Erkenntnisse über gegnerische Einheiten, wie sie zum Beispiel die Truppenzugehörigkeit der Gefangenen ergab, Abhörergebnisse des Funkhorchdienstes, Seriennummern und Herkunftskennzeichen von erbeuteten Waffen und Geräten und tausenderlei andere Mosaiksteinchen zu einem Bild der strategischen, moralischen und rüstungstechnischen Situation beim Gegner zusammen.
Allerdings, die Aufklärungsarbeit entbehrte auch nicht filmischer Romantik und Gefahr. Noch im Jahre 1944 beispielsweise gelang es, aus der deutschen Front, die im Raum Witebsk verlief, einen Agenten zur Erkundung militärischer Geheimnisse nach Gorki - 400 Kilometer hinter Moskau, 900 Kilometer hinter der deutschen Front - zu dirigieren.
Für solche Aufträge wurden nicht deutsche Soldaten, sondern russische Freiwillige aus der Wlassow-Armee oder Russen aus den besetzten Gebieten eingesetzt.
Den Russen, der 1944 nach Gorki geschickt wurde, geleiteten deutsche Frontaufklärer zur Nachtzeit vor die eigenen Linien. In russischer Uniform ging er zur gegnerischen Stellung über und meldete sich mit entsprechenden Papieren bei dem zuständigen russischen Frontstab als Pioniermajor mit dem Auftrag, die russischen Minenfelder zu überprüfen.
Beim nächsthöheren gegnerischen Stab hatte er bereits die Rangabzeichen gewechselt, um als hoher Polit-Offizier mit schriftlich bestätigtem besonderen Kontrollauftrag aufzutreten.
In seiner Meldetasche trug er ein mit sowjetischen Siegeln stilgerecht verschlossenes Kuvert, das als Geheime Kommando-Sache nur von einer darauf bezeichneten hohen Dienststelle der Roten Armee geöffnet werden durfte. In diesem Kuvert befand sich nichts anderes als weitere versiegelte Kuverts mit dokumentarischem Material zu den »Legenden« - Herkunft, Ziel. Auftrag, persönliche Lebensgeschichte - , die der Agent annehmen mußte, um von der sowjetischen Front über Moskau nach Gorki in jeweils glaubhaftem Auftrag zu reisen und die entsprechenden Personal- und Reisepapiere, Quartier- und Verpflegungsscheine bei sich zu haben.
Die besondere Schwierigkeit lag bei dem Gorki-Kurier darin, daß ihm neben seinem Rang auch hohe Auszeichnungen angedichtet werden mußten, damit er sich gegen untergeordnete Instanzen der Armee und der Sicherheitsdienste durchsetzen konnte. Zur hohen Auszeichnung gehörten jedoch in der Regel im Frontdienst davongetragene Verwundungen. Mit den entsprechenden Narben konnte der Agent nicht aufwarten. Doch gelang es, jede der sechs Legenden, die der Agent im Laufe der Hin- und Rückreise anwenden mußte, selbst in diesem heiklen Punkte glaubwürdig zu machen. -
Die Tätigkeit der Frontaufklärungsverbände, die Intensivierung der Ic-Arbeit bei den Truppengeneralstäben und der Ausbau der eigenen Abteilung im OKH versetzten den General Gehlen in die Lage, Feindlagen-Ergebnisse zu liefern, wie sie im deutschen Heeresgeneralstab früher nicht erreicht worden waren. Die Absichten des Feindes, seine Formierung und seine Bewaffnung wurden mit solcher Präzision analysiert, daß die Feindlagenkarte des Generals Gehlen sich für gewöhnlich als eine Art Abziehbild der gegnerischen Operationskarte erwies.
In den Händen einer verantwortungsvollen Führung hätten diese Karten nicht nur schlachtenentscheidende, sie hätten staatspolitische Bedeutung gehabt. Im führerlosen Heer allerdings, dessen Generalstabschefs Zeitzler und Guderian nach dem Abgang Halders hilflos dem Kohlestift-Furioso ausgeliefert waren, das Hitler auf seinen Operationskarten veranstaltete, hatten die Vorlagen der Abteilung Gehlen kaum höheren Wert als den des Selbstzwecks. Gehlen - 1944 im 43. Lebensjahr jung zum Generalmajor befördert-konnte zwar den Operationschef Heusinger und die Generalstabschefs beeindrucken, deren skeptische bis deprimierte Lagebeurteilung aber brüllte Hitler hinweg.
Angesichts der Hitlerschen Mentalität nimmt es nicht wunder, daß den OKW-Offizieren nichts unerwünschter war als ein Lagevortrag des Chefs der Abteilung »Fremde Heere Ost«. Nur dreimal hat Gehlen selbst in der sogenannten »Führer-Lage« vorgetragen, im übrigen referierte der Generalstabschef oder Heusinger als Chef der Operationsabteilung, wenn überhaupt auf die Feindlage eingegangen wurde.
Guderian, der letzte Generalstabschef des Heeres, hat in seinen »Erinnerungen eines Soldaten« zwei Szenen niedergelegt, die gleichzeitig die bisher einzigen Erwähnungen Gehlens in der offiziellen Kriegsliteratur darstellen. Am Heiligen Abend 1944 hielt er Lagevortrag im Führerhauptquartier in Ziegenberg (Hessen): »Mein Vortrag schilderte die feindlichen Gliederungs- und Stärkeverhältnisse ... Die Arbeit meiner Abteilung ''Fremde Heere Ost'' war mustergültig und absolut zuverlässig. Ich kannte ihren Chef, den General Gehlen, lange genug, um ihn und seine Mitarbeiter, seine Methoden und Ergebnisse beurteilen zu können. Die Voraussagen Gehlens haben sich bewahrheitet. Das ist eine geschichtliche Tatsache. Hitler sah die Dinge anders. Er erklärte die Angaben der Abteilung ''Fremde Heere Ost'' für Bluff ... ''Das ist der größte Bluff seit Dschingis Khan'', rief er aus, ''wer hat diesen Blödsinn ausgegraben?''«
Am 9. Januar 1945 hielt Guderian wiederum Lagevortrag im Führerhauptquartier: »Gehlen hatte sehr sorgfältig die Unterlagen über die Feindlage ausgearbeitet, einige Karten und Schaubilder, welche die Kräfteverhältnisse veranschaulichten. Hitler geriet in großen Zorn, als ich diese Ausarbeitungen vorlegte, erklärte sie für ''völlig idiotisch'' und verlangte, daß ich den Bearbeiter sofort in ein Irrenhaus sperren sollte. Da erfaßte mich der Zorn, und ich erklärte Hitler: ''Die Ausarbeitungen stammen von dem General Gehlen, einem meiner tüchtigsten Generalstabsoffiziere. Ich hätte sie Ihnen nicht vorgetragen, wenn ich sie mir selbst nicht zu eigen gemacht hätte. Wenn Sie verlangen, daß der General Gehlen in ein Irrenhaus kommt, dann sperren Sie auch mich gleich dazu!'' Das Verlangen Hitlers, den General Gehlen abzulösen, lehnte ich schroff ab. Daraufhin hatte der Orkan ausgerast.«
Die Abteilung »Fremde Heere Ost« hatte nun nicht nur Unterlagen für die operative Führung der eigenen Heeresgruppen gesammelt, sie trieb in ihrer Abteilung II auch Spezialstudien über Gliederung, Stärke und Bewaffnung der feindlichen Streitkräfte, über die Wirtschaftsstruktur und das Menschenpotential der Sowjet-Union, über die rüstungs- und wirtschaftsgeographische Verkehrslage und -planung und über tausenderlei mehr Fachfragen, die für eine Beurteilung der Stärke des Gegners und seiner Möglichkeiten von anhaltender Bedeutung waren. Die Karteien und Akten der Abteilung Fremde Heere Ost waren mehr als das Rüstzeug einer der Strategie dienenden Generalstabsabteilung: Sie waren ein komplettes, geheimdienstliches Archiv von höchster Bedeutung.
Gehlen, der die kommende Katastrophe, aber auch die internationalen Verwicklungen nach dem Zusammenbruch Deutschlands an Hand seines Materials besser beurteilen konnte als die deutsche Führung und die meisten Mitglieder der politischen Führung der Alliierten, machte sich sehr früh Gedanken darüber, wie dieses Material zu retten sei. Er konnte die damalige Schwäche des amerikanischen Geheimdienstes bei der Bearbeitung der Sowjet-Union präzis beurteilen, und daß die amerikanisch-sowjetische Verbrüderung beim Zusammentreffen der von Ost und West vorrückenden Panzerspitzen trügerisch sein würde, war schließlich zu jener Zeit Gegenstand von Erörterungen auf der Mannschaftslatrine.
So entschloß sich Gehlen, das strukturkundliche Material seiner Karteien und Archive über die Sowjet-Union in dreifacher Ausfertigung an verschiedenen sicheren Plätzen zu lagern, um nach Kriegsende damit die Lücken im Material des amerikanischen Geheimdienstes zu füllen.
In der letzten Phase des Rückzuges der deutschen Führungsstäbe in das Alpen-Reduit teilte er die Offiziere und eingeweihten Sonderführer und Mannschaften seines Stabes in drei Gruppen auf und gab Befehl, nach der Gefangennahme keine präzisen Aussagen zu machen, es sei denn auf schriftliche Anordnung von ihm selbst oder seinen Gruppenchefs.
Der General saß, als die amerikanischen Panzer durch Bayern auf Prag vorstießen, auf der Elendsalm oberhalb des Schliersees.
Jeden Morgen vor Sonnenaufgang kletterte er mit den bei ihm verbliebenen Offizieren in die Berge, in der richtigen Voraussicht, daß die Amerikaner das Gebirge nicht weiter durchforschen würden, als es mit Jeeps befahrbar war.
In der ebenfalls richtigen Voraussicht, daß die Jeep-Partien bei Tage stattfinden würden, kehrte er nachts in die Hütte auf der Elendsalm zurück.
Als jedoch eines Tages die auf der Alm verbliebenen Stabshelferinnen unter Maschinenpistolenfeuer genommen wurden und als kurz darauf eine vollzählige Kompanie auf der Alm auftauchte, schien es dem General an der Zeit, die Tagesausflüge einzustellen und sich der nächsten amerikanischen Streife gefangenzugeben.
Er zeigte von vornherein sein echtes Soldbuch und gab sich als Chef der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres zu erkennen. Zu seiner Enttäuschung bekundeten jedoch die amerikanischen Vernehmungsoffiziere in den Offizierslagern während der Routinevernehmungen nicht das geringste Interesse an den Kenntnissen über die Sowjet-Union, die möglicherweise aus dem Sowjet-Spezialisten hätten herausgeholt werden können, der in ihre Hände gefallen war. Nach Monaten erst stieß Gehlen in Wiesbaden auf einen amerikanischen General, der die Abwehr fremder Geheimdienste bearbeitete und einen Nutzen darin fand, für seine eigene Arbeit die Kenntnisse des deutschen Generals über den sowjetischen Geheimdienst auszuwerten.
Da andererseits Gehlen in dem Amerikaner nach ausführlichen Gesprächen den Mann sah, der den sowjetischen Kriegsverbündeten mit einer Realistik beurteilte, die sich wirkungsvoll abhob von der schläfrigen Routine der Vernehmer des Counter-Intelligence-Corps (CIC), eines Abwehrdienstes, der zu jener Zeit in Deutschland nur nach Nazis und Kriegsverbrechern fahndete, offenbarte er seine Geheimnisse, den Verbleib seiner Mitarbeiter und die Verstecke seiner ausgelagerten Archive.
Einige Wochen später, im Sommer 1945, wird Reinhard Gehlen mit einer Handvoll seiner Offiziere und seinen gehobenen Aktenschätzen nach Washington geflogen. Erst nachdem er im Pentagon ausführlich vernommen worden ist und seine Kenntnisse aktenmäßig niedergelegt hat, wird er nach Deutschland zurücktransportiert.
Dem Abwehr-General, dem er sich zuerst offenbart hatte und der ihn nun weiter betreut, läßt es in der Folgezeit keine Ruhe, daß in Gehlen ein Mann hinter Stacheldraht sitzt, der vorgemacht hat, wie die Geheimnisse der Sowjet-Union zu erforschen sind, während andererseits der amerikanischen Abwehr über die Sowjets zunächst nicht viel mehr vorliegt, als fragmentarische Attaché-Berichte. Vorerst aus eigenem Entschluß bildet der Abwehr-General einen deutschen Fachstab zur Bearbeitung von Material über die Sowjet-Union und ihren Machtbereich.
Mit Gehlen an der Spitze domiziliert dieser Stab in einer amerikanischen Sperrzone bei Frankfurt. Finanziert mit dem fetten Dollarfonds der amerikanischen Abwehr, feierte die Abteilung Fremde Heere Ost des deutschen Generalstabes hinter amerikanischem Stacheldraht Auferstehung.
Als Washington diese Gründung später sanktionierte, stellte Gehlen seine Forderungen für die weitere Zusammenarbeit:
◆ Sein Stab solle unter seiner ausschließlichen Leitung mit festem Jahresetat als rein deutsche Organisation arbeiten.
◆ Kein Angehöriger dürfe gegen deutsche Interessen zu handeln haben.
◆ Bis zur Errichtung einer deutschen Regierung werde er, Gehlen, sich als ihr
Interessenwahrer in Sachen des Geheimdienstes, nach ihrem Entstehen sich ihr verantwortlich fühlen.
Die Amerikaner akzeptierten, die Organisation Gehlen war gegründet.
Zur geheimdienstlichen Bearbeitung der sowjetischen Zone Deutschlands benötigten sie ohnehin ein deutsches Instrument, und in der nachrichtendienstlichen Methodik bei der Bearbeitung der Sowjet-Union selbst und der Satelliten war ihnen der Gehlen-Stab an Erfahrungen überlegen.
Die Gehlen-Offiziere zogen später mitsamt ihren Familien von Frankfurt hinter amerikanischen Stacheldraht am Isarufer in Pullach bei München, nahe der Großhesseloher Todes-Brücke.
Der Pullacher Compound umfaßt an die 20 Ein- und Zwei-Familien-Häuser eines einst unter dem Namen »Rudolf-Heß-Siedlung« gegründeten Reservats für Kinderreiche und eine Anzahl von Vorratsbarakken aus der Kriegszeit, die gegen Feindeinsicht sorgfältig unter Bäumen getarnt liegen. Es herrscht der Genius loci eines Stabsquartiers.
Die Kinder des deutschen Personals, darunter die vier Kinder Reinhard Gehlens, gingen am Anfang in eine improvisierte Lagerschule. Die Familien wurden von der Außenwelt so gut wie vollständig isoliert.
Selbst gegenüber den amerikanischen Besatzungsbehörden wurde das Pullacher Geheimnis lange mit aller Strenge gewahrt.
Mittlerweile allerdings leben die Familien längst außerhalb des Compounds, denn seit dem Jahre 1950 wissen eingeweihte Deutsche, länger bereits wahrscheinlich die Gegner, daß in Pullach der Spitzenstab einer selbständigen deutschen Geheimdienst-Organisation arbeitet, die gegen den Ostraum aufklärt. Zudem ist der Stab so weit ausgebaut worden, daß in den Siedlungshäusern und Baracken längst kein Platz für Wohnungen, Lagerschulen und Gemeinschaftsräume mehr ist.
Das Lager wird bewacht von einer deutschen Wachmannschaft, deren grüngraue Uniform dem Dienstanzug der bayerischen Landpolizei angeglichen ist. Neben den »Stars and Stripes« hat Reinhard Gehlen die schwarzrotgoldenen Bundesfarben aufgezogen. Seit Illustrierten-Reporter sich an das Lagertor herangeschlichen haben, um es zu photographieren, prangt am Tor ein Schild mit der Aufschrift »Betteln und Hausieren verboten«. Ein anderes Schild gebietet: »Scheinwerfer abschalten. Licht im Wagen einschalten.«
Das Lagertor zu passieren, ist noch niemandem gelungen, der nicht zum Stabe Gehlen oder zum amerikanischen Verbindungsstab gehört (2). Selbst die Spitzen des Außendienstes der Organisation Gehlen, die »Generalvertreter«, haben ihre Treffs mit dem »Doktor« (Gehlen) und den Auswertern des Stabes außerhalb des Compounds, denn Leitprinzip ist in der Organisation Gehlen, wie in jedem Geheimnachrichtendienst, daß möglichst wenige Mitglieder einander kennen.
Der innerdienstliche Decknamen-Code bedient sich der Terminologie eines wirtschaftlichen Unternehmens. Der Pullacher Hauptstab ist die »Generaldirektion«. Der Außendienst gliedert sich in »Generalvertretungen«, »Bezirksvertretungen«, »Untervertretungen« und »Filialen«. Die Filiale ist die unterste im eigenen Gebiet arbeitende Organisationszelle. In der geheimdienstlichen Fachsprache ist der Filialleiter ein »Haupt-V-Mann-Führer«, denn er unterhält die Nachrichtenlinien zu den V-Leuten (Vertrauensleuten, Agenten), die ihren Standort im Gebiet des Gegners haben.
Die populäre Vorstellung des »Agentennetzes« im feindlichen Gebiet ist für fast alle Geheimdienste der Welt, zumal aber für die Organisation Gehlen, unzutreffend. Es gibt in dem aufzuklärenden Territorium selbst keine Zirkel oder Netze, kein V-Mann kennt den anderen, kein V-Mann auch kennt seinen zuständigen Filialleiter (V-Mann-Führer) jenseits der Territorialgrenze. Jeder V-Mann hat nur seine Nachrichtenlinie zum V-Mann-Führer, die individuell, bzw. nach Art des zu übermittelnden Materials wechselnd, in einer Postverbindung, einem »toten Briefkasten«, einem »lebenden Briefkasten« oder auch in einer Kurier- oder Funkverbindung besteht. Das einzige Mitglied der Organisation, das der V-Mann kennt, ist evtl. der Kurier oder der »lebende Briefkasten«, welch letzterer allerdings niemals im aufzuklärenden Territorium selbst liegt.
Über die innere Organisation des Gehlen-Dienstes, seine Arbeitsmethode und seine V-Mann-Werbung liegen offizielle Unterlagen des Gehlen-Stabes naturgemäß nicht vor. Dokumentarmaterial aus der Ostzone - darunter eine Schrift des entführten ehemaligen Majors und V-Mann-Führers Höher - enthält neben offenkundig wahren Angaben verhafteter Gehlen-Leute einen Wust von Fälschungen und Phantastereien. Doch läßt sich ein ungefähres Strukturbild der Organisation mit einiger Sicherheit gewinnen.
Die V-Leute unterscheiden sich nach
◆ P-Quellen (Penetrierungsquellen): V-Leute, die in wichtigen Stellen der Parteien, der staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltung, in Polizei- und Militärdienststellen usw. sitzen. Mit ihrer Hilfe soll der gegnerische Machtapparat durchdrungen werden.
◆ Ü-Quellen (Überprüfungs-Quellen): Der V-Mann wohnt in der Nähe wichtiger Objekte oder hat zu ihnen Zugang (Kasernen, Rüstungsbetriebe, Bahn- und Straßenknotenpunkte, Übungsplätze). Er berichtet fortlaufend, was sich in dem von ihm überwachten Objekt ereignet.
◆ R-Quellen (Reisequellen): Der V-Mann hat auf (beruflichen) Reisen Gelegenheit, Informationen zu sammeln und zu liefern.
◆ III-Quellen (Abwehr-Quellen): Der V-Mann steht innerhalb der gegnerischen Spionage- oder Abwehr-Organisationen. Mit seiner Hilfe dringt der eigene Dienst in den gegnerischen Dienst ein (sogenannter III-F-Fall), um die Absichten des Gegners, seine Kenntnisse über den eigenen Dienst usw. zu erfahren und ihn durch falsches Material ("Spielmaterial") irrezuführen.
Wie wird man V-Mann der Organisation Gehlen? Der General hat, zumal in der Sowjet-Union und in den Satelliten-Staaten, die Verbindung zu einer Reihe früherer V-Leute der Abteilung »Fremde Heere Ost« im Generalstab des Heeres wieder herstellen können.
Bei der Werbung neuer Agenten ist Ausgangspunkt der - bewußt oder unbewußt gegebene - »Tip": Durch politische Flüchtlinge, durch Mitglieder von Kampfbünden und -organisationen, durch Bekannte und ehemalige Kameraden von Gehlen-Leuten, die ihrerseits Bekannte und ehemalige Kameraden im Ostgebiet haben, und durch hunderterlei andere Quellen, die weder zur Organisation Gehlen gehören noch eine ständige Verbindung zu ihren V-Männern unterhalten, gelangt der Tip an ein Mitglied der Organisation. Der Tip besagt, daß dieser oder jener Bewohner der Sowjet-Zone, Satelliten-Diplomat, sowjetische Beamte usw. aus ideologischen oder persönlichen Gründen für die Mitarbeit im V-Mann-Netz der Organisation in Frage komme. Oft hören die Gehlen-Leute auch aus Gesprächen einen Tip heraus, ohne daß ihn der Gesprächspartner bewußt gibt.
Der Tip wird vom Gehlen-Dienst weiter bearbeitet, für den Tipper ist die Aktion beendet. Er hört nicht, ob sein Tip aufgegriffen oder verworfen wurde und was sich daraus ergeben hat.
Ein »Forscher« versucht nun die Frage zu klären, ob die getippte Person über Kenntnisse und Einblicke verfügt bzw. eine politische oder administrative Funktion ausübt, die eine Gewinnung als V-Mann lohnend erscheinen läßt, und ob Aussicht besteht, daß sie zur Mitarbeit bereit ist.
Ist beispielsweise ein in Dresden wohnender Oberingenieur getippt worden, der Einblick in die Brückenbauprojekte in Sachsen hat, so wird vielleicht eines Tages ein ehemaliger Kamerad aus dem Pionierbataillon, dem er im Kriege angehört hat, bei ihm erscheinen, um alte Beziehungen zu erneuern; oder er wird in den Ferien auf Rügen ein nettes Ehepaar kennenlernen, das die Bekanntschaft auch nach den Ferien weiterpflegt; oder einer seiner Mitarbeiter wird von seinem Vetter aus Westdeutschland einen Brief mit der Bitte erhalten, einem Bekannten dieses Vetters, der demnächst in Dresden zu tun hat, in irgendeiner nebensächlichen Angelegenheit weiterzuhelfen.
Der Bekannte des Vetters, das nette Ehepaar aus Rügen oder der ehemalige Pionierkamerad waren »Forscher« der Gehlen-Organisation, die nichts anderes zu tun hatten, als die Einstellung des Oberingenieurs zum Pankower Sozialismus, seine Tätigkeit, seine persönlichen Lebensverhältnisse und seine charakterlichen Eigenarten festzustellen.
Hat die »Forschung« ergeben, daß etwa der Dresdener Oberingenieur ein eingefleischter Gegner des politischen Systems der Ostzone ist und tatsächlich Einblicke in Brückenbau-Konstruktionen hat, die beispielsweise die Beurteilung ermöglichen, welche Arten von Panzern im Falle eines Aufmarsches diese Brücke passieren könnten und welche nicht, so gibt der Forschungsbearbeiter den Tip mit positiver Beurteilung an die »Werbeabteilung« ab. Damit ist auch für den Forscher der Fall erledigt. Er erfährt niemals, ob, wann und wie eine Anwerbung des Oberingenieurs versucht wird.
Denkbar ist, daß Interesse an der Verkehrsplanung in der Sowjet-Zone zur Zeit des Tips nicht besteht, dann wird die Werbung verschoben, oder sie unterbleibt ganz.
Besteht Interesse an dem erforschten Tip, so wird die erste Werbung vielleicht in der Form einer Einladung zu einem Kongreß in Westdeutschland, einer Anregung zur Mitarbeit an einer Fachzeitschrift oder der Aufforderung bestehen, eine alte Bekanntschaft zu erneuern. Schließlich allerdings muß der Werber, wie es in der Agentensprache heißt, »die Hosen herunterlassen« und der getippten Person die klare Frage stellen, ob sie zur nachrichtendienstlichen Mitarbeit bereit sei. Die Fälle, in denen jemand durch Briefwechsel oder Gespräche lange Zeit als V-Mann arbeitet, ohne es selbst zu merken, sind seltener.
In dem Augenblick, in dem der Werber seine ungeschminkte Frage stellt, zeigt es sich, ob die Forscher gut gearbeitet haben oder nicht. Wird die getippte Person dem Werber den SSD auf den Hals schicken? Wird sie wenigstens den Werber nicht verraten, wenn sie schon eine Mitarbeit ablehnt?
Oder ist sie gar zur Mitarbeit bereit? Nach Möglichkeit wird der Werber für seinen Antrag eine Situation schaffen, in der die getippte Person nicht gerade nur nach dem Portier zu rufen braucht, um ihn dingfest zu machen.
Geht der Getippte auf den Antrag ein - tatsächlich oder auch nur zum Schein, um die erfolgte Werbung des SSD zu verraten - , so erhält er Angaben über Nachrichtenverbindungen zu seinem Haupt-V-Mann und einen Notplan für den Fall, daß er in Gefahr ist. Damit ist seine Verbindung mit dem Werber beendet. Er wird ihn nie wiedersehen.
Die Nachrichtenverbindung - im Beispiel des Oberingenieurs etwa - wird vielleicht ein »toter Briefkasten« sein. Auf Grund einer Aussage der in Ostberlin verhafteten Gehlen-Agentin Käthe Dorn, einer Kontoristin aus einem volkseigenen Betrieb, kann man sich eine Vorstellung davon machen, wie so ein »toter Briefkasten« etwa aussieht: Unter dem Stein eines alten Grabes auf dem Friedhof Wilhelmshagen bei Berlin war ein Versteck angebracht, in dem Käthe Dorn die von ihr gesammelten Nachrichten ablegte. An zwei Bäumen in der Nähe des Friedhofes brachte sie in Kniehöhe Nägel an, deren Stellung dem abholenden Kurier verriet, ob Nachrichten abgelegt worden waren oder nicht, so daß ihm das auf die Dauer verdächtige Erscheinen am Grabe erspart wurde, wenn Nachrichten nicht vorlagen.
Die alleinige oder zusätzliche Nachrichtenverbindung des Oberingenieurs könnte jedoch auch in einer Postanschrift in Westberlin oder Westdeutschland bestehen, an die er seine Nachrichten verschlüsselt, mit Geheimtinte geschrieben, mikrophotographiert oder in harmlose Privattexte eingestreut versendet.
Hat er die Möglichkeit, häufiger nach Westberlin zu fahren, ohne sich verdächtig zu machen, so wird er einen »lebenden Briefkasten«, eine bestimmte Anschrift in Westberlin, erhalten, wo er seine Mitteilungen abgibt - ohne allerdings zu wissen, welche Rolle der Empfänger im Gehlen-Dienst spielt. Den Filialleiter selber, seinen eigentlichen V-Mann-Führer, wird er bei solchen Gelegenheiten schwerlich kennenlernen.
Scheiden alle diese Nachrichtenverbindungen aus, so wird ihn in bestimmten Zeiträumen und nach bestimmten Treffplänen ein Kurier anlaufen, um Material in Empfang zu nehmen. Seine Aufträge und seine Entlohnung wird er in der Regel auf einem ähnlichen Wege erhalten, auf dem er seine Nachrichten übermittelt.
Funkverbindung wird nur in Ausnahmefällen hergestellt werden.
Erkennt der V-Mann-Führer oder eine höhere Stelle des Gehlen-Dienstes auf Grund eingehender Unterlagen, daß der V-Mann in Gefahr ist, so wird er das vereinbarte Alarmzeichen, ein bestimmtes Telegramm oder einen bestimmten Anruf, erhalten und darauf versuchen, die ihm zugeteilte Notadresse in Westberlin oder Westdeutschland zu erreichen.
Obwohl die Filialen, die V-Mann-Führerstellen, nicht im Aufklärungsgebiet liegen, soll doch eine Filiale nur höchstens drei bis fünf V-Leute führen. Die Vorsichtsmaßregel, auch dem Mann im eigenen Führungsapparat nur höchst fragmentarische Kenntnisse von den V-Mann-Linien zugänglich zu machen, hat sich bei verschiedenen Pannen in der Organisation Gehlen bewährt:
In einem Falle beteiligte sich ein Westberliner V-Mann-Führer aus antisowjetischer Begeisterung an einer Flugblattaktion in Ostberlin, die eine außerhalb des Gehlen-Apparates stehende Organisation durchführte(3).
Prompt wurde der V-Mann-Führer vom SSD verhaftet, und es bestand Gefahr, daß er als Mitglied der Gehlen-Organisation erkannt und zur Preisgabe seiner Kenntnisse gepreßt würde. Der Kreis der Gefährdeten beschränkte sich auf fünf V-Leute und ihre Angehörigen, insgesamt 22 Personen. Sie alle wurden durch telephonische Anrufe, Telegramme und Kuriere aus Ostberlin in den Westen dirigiert.
Ein anderer Fall, der Fall Geyer, ist von der östlichen Propaganda weidlich traktiert und daher in der Öffentlichkeit bekannter geworden. Geyer hatte 1952 in der Sowjet-Zone Verbindung mit Gehlen-Leuten bekommen und war verschiedentlich als »Forscher« tätig gewesen.
1953 wurde er, wie die meisten Forscher und Werber nach einer gewissen Dauer der Tätigkeit, aus der Zone abgezogen und auf Innendienst umgeschult. Man setzte ihn als Büromitarbeiter in einer Westberliner »Filiale« ein. Diese Filiale allerdings führte, entgegen allen geheiligten Grundsätzen des Gehlen-Apparates, nahezu 30 V-Leute, die Geyer zum größten Teil aus den Akten bekannt wurden. Zu spät stellte sich heraus, daß Geyer schon vor seinem Übertritt nach Westberlin vom SSD »umgedreht« und als Konterspion in den Gehlen-Apparat eingeschleust worden war.
Zwar konnte in der Tat eine Reihe von V-Leuten, die er aus den Unterlagen der Berliner Filiale kannte, nicht mehr gerettet werden, als Geyer eines Tages aus Furcht, er sei als Konterspion entlarvt worden, in den Osten floh; in der ostzonalen Presse häufig veröffentlichte Berichte, »Hunderte von Gehlen-Agenten« seien aufgeflogen, können jedoch unmöglich wahr sein, denn selbst die gegen jede geltende Sicherheitsregel aufgeblähte Filiale 9592, in die der Konterspion Geyer eindrang, führte zwar 30, aber immer noch nicht »Hunderte« von V-Leuten.
Falsch war auch die sowjetzonale Darstellung des Falles Haase, ebenfalls eine Panne der Organisation Gehlen. Die östliche Propaganda behauptete, Haase sei auf ostberliner Gebiet gestellt worden. In Wirklichkeit hatte sich die Geschichte so zugetragen:
Werner Haase, ein hochdekorierter Major des letzten Krieges, leitete unter dem Decknamen Heister die Gehlen-Filiale 120a in Westberlin. Kurz nach dem Fall Geyer, der durch den Ausfall einer Reihe von V-Leuten und durch die unter den Mitarbeitern um sich greifende Unruhe die Arbeit in der Sowjet-Zone erschwert hatte, plante Haase zur Erleichterung der Arbeit die Verlegung eines Telephonkabels vom Westsektor in den Ostsektor Berlins. Eine sogenannte »Drahtschleuse«, eine direkte Kabelverbindung für den Verkehr mit einem V-Mann in Ostberlin, sollte die gefährliche Kurierverbindung ersetzen
Der V-Mann, der die leerstehende Laube bezeichnet hatte, in der auf ostsektoralem Gebiet der Draht enden sollte, und der zur Entgegennahme des Drahtes an die Sektorengrenze kommen wollte, war durch den Verrat Geyers vom SSD erkannt und umgedreht worden.
Die Sektorengrenze verläuft längs des mitten durch das Laubengelände führenden »Heidkampgrabens«. In einer Generalprobe zur Kabelverlegung hatte Haase das Kabel-Ende an ein mechanisches Spielzeugboot geknüpft und das Boot über den Heidkampgraben schwimmen lassen, an dessen ostsektoralem Ufer der V-Mann das Kabel entgegennehmen sollte.
Als Haase das echte Kabel verlegen wollte, war der V-Mann verabredungsgemäß am anderen Ufer zur Stelle. Doch just als Haase am Abend des 13. November 1953 sein Schiffchen über den Heidkampgraben starten lassen wollte, kam ein Rollkommando des Staatssicherheitsdienstes, das sich auf der westlichen Seite des Grabens verborgen hatte, hinter den Büschen hervor und entführte Haase in den Ostsektor. Er wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.
Immer wieder überschwemmt Wollweber die Presse mit Berichten über solche Fälle, die im Agenten-Alltag unvermeidlich sind. Nicht nur der östlichen Abwehr aber, sondern beiden Seiten gelingt immer wieder ein sogenanntes III-F-Manöver. der Einbruch eines eigenen Konterspiones in den gegnerischen Dienst, mit dem Unterschied nur, daß in der Ostpresse richtige, die Glaubhaftigkeit untermauernde Daten kleiner Fälle mit einem Wust von Schwindel und Phantasie verrührt und propagandistisch ausgeschlachtet werden, während beispielsweise in der Bundesrepublik kaum jemand erfahren hat, daß die Lahmlegung tschechisch-polnischer V-Mann-Linien in Westdeutschland im Jahre 1953 auf ein erfolgreiches III-F-Manöver der Organisation Gehlen zurückging.
Die Organisation Gehlen lehnt es auch ab, eigene Erkenntnisse über den Umfang der Tätigkeit des SSD, des sowjetischen Geheimdienstes und der Satelliten-Dienste in der Bundesrepublik zu veröffentlichen. Sie ist erst ein einziges Mal mit einer offiziellen Verlautbarung an die Öffentlichkeit getreten, als sie in jüngster Zeit die vom ostzonalen Staatssicherheitsdienst behauptete Enttarnung von 300 Gehlen-Agenten dementierte. Den Fall »Brutus« dagegen, einen seiner größten Erfolge, hat der Gehlen-Dienst nie mit einem offiziellen Wort erwähnt:
Eines der lohnendsten Ziele aller in Mitteleuropa arbeitenden Geheimmeldedienste dürfte es sein, einen V-Mann in der Umgebung des legendären SSD-Chefs der Ostzone und Schiffssabotage-Spezialisten Ernst Wollweber zu placieren, »ihm einen Bonbon ans Hemd zu kleben«, wie der Agenten-Fachausdruck lauten würde. Der Organisation Gehlen ist dieses Kunststück gelungen. Ein V-Mann Gehlens mit dem Tarnnamen »Brutus«, der Ministerialrat Walter Gramsch, saß - zuletzt als Leiter der Abteilung »Flotteneinsatz und Häfen« - im Staatssekretariat für Schifffahrt, das Wollweber leitete, bis er als Nachfolger Zaissers das Sicherheitssekretariat übernahm.
Gramsch hatte als Verkehrsfachmann bereits im Jahre 1946 engen Kontakt mit Wollweber bekommen. Er hatte auch ständig Einblick in Wollwebers Tätigkeit als Chef eines internationalen Spionageund Sabotage-Apparates. der sogenannten Wollweber-Organisation Von 1947 bis 1953 hat Gramsch, der sich als ehemaliges SPD-Mitglied in die SED hatte einschleusen lassen, aus politisch-ideologischen Motiven (20.-Juli-Mann) für die Gehlen-Organisation gearbeitet und Verkehrs-Unterlagen über den Ostblock, vor allem aber auch III-F-Material über Wollwebers Geheimdienst-Tätigkeit geliefert.
Am 28. März 1953 noch erhielt er von Wollweber ein Dankschreiben für seine Mitarbeit in der Zentralen Transportkommission der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik.
Zur Sicherung gegen eventuelle Folgen des Falles Geyer wurde er mit seiner Familie am 8. November 1953 nach Westberlin beordert und in Sicherheit gebracht.
Beinahe noch abenteuerlicher als der Fall »Brutus« ist der Fall »Klaus«, von dem die deutsche Öffentlichkeit ebenfalls keine Kenntnis hat, zumal der sowjetische MWD das meiste Interesse haben muß, diesen typischen III-F-Fall zu vertuschen:
Es gelang der Abwehrgruppe Gehlens, den Reviergeologen Klaus Vogel, der von der damaligen sowjetischen MWD-Bezirksleitung Aue (Goerdelerstraße 17) zur Strafe für angebliche innerbetriebliche Verfehlungen zum Spionagedienst gepreßt worden war, nach allen Regeln der Kunst »umzudrehen«. »Klaus« gab sich seinen sowjetischen Auftraggebern gegenüber als erfolgreicher Sowjetspion, arbeitete aber in Wirklichkeit für den Gehlen-Dienst.
»Klaus« kostete die Gunst aus, die ihm die schöne sowjetische Chef-Geologin Tatjana Petschenina gewährte; Oberstleutnant Iwan Sergewitsch und Major Suchjumkin mit seiner hübschen Dolmetscherin Rita Wolodina hüteten »Klaus« wie ein Kleinod und fütterten ihn mit Krim-Sekt und Kaviar. Denn diesem Jungen, so stand es in den Protokollen des MWD, war es gelungen, seinen Onkel in Westberlin, einen ehemaligen Abwehr-Obersten und »Chef« in der Gehlen-Organisation, anzuzapfen.
Der angebliche Onkel mit Namen Hans Strahsow war aber weder Oberst noch alter Abwehrmann und Ritterkreuzträger, sondern ein braver Pionierhauptmann. Die »geheimen Gespräche«, die »Klaus« angeblich bei ihm belauschte, und die »geheimen Papiere«, die er ihm angeblich entwendete, waren von den Gehlen-Leuten sorgfältig präpariertes »Spiel-Material«, das »Klaus« seinen Russen als echt andrehte. Sergewitsch und Suchjumkin sahen ein, daß »Klaus« dem »Onkel« zur Motivierung seiner zahlreichen Besuche auch etwas bieten mußte: »Klaus« brachte Uran-Proben aus Aue und wichtige Unterlagen aus dem Uran-Gebiet - diesmal allerdings echte.
Es kommt im Geheimdienst-Milieu alle zehn Jahre einmal vor, daß ein sogenanntes »Gegenspiel« mit einem umgedrehten Agenten vom Schlage des »Klaus« sich über Jahre hinzieht. Der Fall »Klaus« lief zwei volle Jahre.
Als sich die Karlshorster Zentrale Mitte 1953 mit den Erfolgen ihrer MWD-Filiale in Aue intensiver zu befassen begann, witterten die Karlshorster Experten eine ganz persönliche Chance. Oberst Sorokin und der Entführungs-Spezialist Oberst Petrow (der später den Gehlen-Filialleiter Höher aus Westberlin entführen ließ) zogen den Fall »Klaus« an sich, nicht ohne Sergewitsch und Suchjumkin scharf zu kritisieren, weil es noch immer nicht gelungen war, mit Hilfe von »Klaus« Gehlen-Leute in der Sowjet-Zone auszuheben und Onkel Strahsow in gewünschter Form unter Druck zu setzen.
Die Karlshorster MWD-Offiziere gingen energischer an den Fall heran. Sie trafen mit »Klaus« Entführungsvorbereitungen, deren Raffinesse nichts zu wünschen übrig ließ. Onkel Strahsow sollte einmal nach Wien, ein andermal samt Familie in den Berliner Ostsektor entführt werden. »Klaus« spielte immer brav mit und berichtete anschließend den Gehlen-Leuten.
Als die Entführungsversuche fehlgeschlagen waren, wurde »Klaus« veranlaßt, seinen Onkel auf niedrige Weise zu erpressen. In dieser Situation brachen die Gehlen-Leute das Gegenspiel ab. »Klaus« kehrte nicht mehr nach Karlshorst zurück. Das war der erste Schlag, der den erfolggewohnten Oberst Petrow traf. Der zweite saß nicht schlechter: Durch ein abenteuerliches Verwirrungsmanöver gelang es, Frau und Tochter Klaus Vogels aus dem sowjetischen Machtbereich herauszuschleusen, wobei die Volkspolizei im Wahne frommer Täuschungen noch eine Art Ehreneskorte stellte.
Den erfolgreichen III-F-Fällen der Gehlen-Organisation steht natürlich die Tatsache gegenüber, daß durch entführte Gehlen-Leute, wie Haase oder den V-Mann-Führer Wolfgang Höher, der bei einem Agenten-Treff von einem V-Mann Petrows mit präpariertem Rotwein betäubt und in die Sowjetzone verschleppt wurde, einiges über das Organisations-Schema Gehlens bekannt geworden ist, das heute von Gehlens Mitarbeitern nicht mehr abgestritten werden kann.
So ist zum Beispiel sicher, daß die Firma »Süddeutsche Industrieverwertungs GmbH.«, München, Emil-Geis-Straße 50, die auf Seite 340 des Amtlichen Fernsprechbuches für den Bezirk der Oberpostdirektion München von 1954 unter der Nummer 7 12 61 harmlos zwischen der »Süddeutschen Holzwirtschaftsbank AG« und den »Süddeutschen Kabelwerken« steht, eine getarnte, mittlerweile allerdings stillgelegte Dienststelle des Gehlen-Apparates war. Sämtliche Generalvertretungen, Bezirks- und Untervertretungen des Außendienstes der Gehlen-Organisation benutzen Firmenmäntel; die nachrichtendienstliche Korrespondenz wird als Geschäftskorrespondenz geführt.
Die Scheinfirmen, durchweg tatsächlich handelsgerichtlich eingetragene Gesellschaften oder Einzelkaufmannsfirmen, müssen nicht nur zur Tarnung unterhalten werden, sondern auch deshalb, weil bei den zivilrechtlichen Geschäften des Gehlen-Apparates ein unauffälliger und doch rechtsfähiger Kontrahent auftreten muß; Kraftfahrzeuge müssen zur Zulassung angemeldet, Büroräume und Wohnungen für geheime Treffs gemietet, Sozialversicherungsbeiträge für Sekretärinnen, Kraftfahrer und Laboranten abgeführt werden.
Alle Scheinfirmen verfügen über einen kompetenten Fachmann der angegebenen Branche, der auftauchende Besucher und potentielle Geschäftsfreunde fachgerecht abfertigt.
Die Generalvertretungen und ihre Unterorganisationen sind nicht nach fachlicher Zuständigkeit oder nach regionalen Bereichen des aufzuklärenden Gebietes gegliedert. Alle Generalvertretungen und fast alle Bezirksvertretungen unterhalten Untervertretungen oder Filialen - zum Teil mehrere - in Westberlin, deren Mitarbeiter die parallel geschalteten Organisationen nicht kennen.
Der Untervertreter in Westberlin, der vielleicht nach unten mit zwei Filialen in Westberlin und nach oben mit einer Bezirksvertretung in Hannover in Verbindung steht, weiß nicht, zu welcher Generalvertretung er gehört.
Der Bezirksvertreter in Hannover weiß nicht, daß sich weitere Bezirksvertretungen seiner Generalvertretung vielleicht in Uelzen und Pinneberg befinden und daß jede dieser Bezirksvertretungen unter anderem auch eine Untervertretung in Westberlin unterhält.
Jedes Mitglied der Organisation kennt nur den Verbindungsmann zur nächst niederen und nächst höheren Instanz, so daß selbst ein entlaufener oder entführter Bezirksvertreter über die Organisation des Gehlen-Dienstes nicht viel mehr verraten könnte als die Firmenadressen seiner Untervertreter und seines Generalvertreters. Die V-Leute und Filialen, deren Material über seine Firma nach oben läuft, kennt er nur unter ihrem Tarnnamen.
Es ist denkbar, daß von zwei V-Leuten, die im gleichen volkseigenen Betrieb in Magdeburg sitzen - natürlich ohne von einander zu wissen - , der eine per Kurierverbindung an eine Filiale in Westberlin angeschlossen wird, von wo sein Material über eine Untervertretung in Westberlin, eine Bezirksvertretung in Hannover und die Generalvertretung in Münster an die Generaldirektion nach Pullach gelangt, während der andere Magdeburger durch Postverbindung an eine Filiale in Wolfenbüttel angeschlossen wird, von wo seine Nachrichten über eine Untervertretung in Göttingen, eine Bezirksvertretung in Kassel und die Generalvertretung in Frankfurt nach oben laufen. Das Entscheidende des Prinzips ist, daß die nachrichtendienstliche Führung ein rein schematischer Organisationsprozeß ist, der mit der Werbung des V-Mannes oder der Beurteilung und Auswertung des Materials in keinem Zusammenhang steht.
Eine bestimmte Filiale wird auch nicht etwa nur V-Leute aus der sächsischen Schwerindustrie führen, sondern möglicherweise einen Reise-V-Mann aus Thüringen, der von seinen Geschäftsreisen wirtschaftliche und militärische Nachrichten aller Art mitbringt, einen SSD-Beamten aus Brandenburg, der III-F-Material aus dem Staatssicherheitsdienst liefert, und einen Hütteningenieur aus »Stalinstadt« (Fürstenberg/Oder), der die Stahlproduktionsquote aus seinem Betriebsbereich fortlaufend berichtet.
In der Tätigkeit der gesamten Organisation stellt allerdings die Ausforschung der Sowjet-Zone durch V-Leute nur einen verhältnismäßig geringfügigen Sektor dar. Sehr viel schwieriger und aufwendiger ist die sogenannte Tiefenforschung, das Eindringen in die Sowjet-Union und in die Satellitenstaaten auf V-Mann-Basis.
Gewisse Ansatzpunkte ergeben sich an Hand der Tatsache, daß noch immer klassische geheimdienstliche Wege in die Tschechoslowakei und nach Ungarn führen.
Auch der offizielle Verwaltungs- und Wirtschafts-Verkehr der Ostblock-Staaten untereinander ergibt Ansatzpunkte, um durch V-Leute im Führungsapparat einzelner Mächte in andere »befreundete Volksrepubliken« vorzudringen und auch dort Gegner des Systems zur V-Mann-Arbeit zu gewinnen. V-Leute in der sowjetischen Armee und geworbene sowjetische Beamte, die in die Sowjet-Union zurückversetzt werden, schaffen dort Ansatzpunkte für den Aufbau von V-Mann-Linien.
Die populäre Vorstellung jedenfalls von einem reisenden Spion, der sich mit wechselnden Aufträgen - die Geheimkamera unter dem Rockaufschlag, unsichtbare Tinte im Füllfederhalter - in das aufzuklärende Gebiet oder Objekt einschleicht und nach Durchführung seines Auftrages zur Entgegennahme eines neuen in die Zentrale zurückreist, trifft auf die Organisation Gehlen ebensowenig zu wie auf irgendeinen anderen modernen Geheimdienst. Derartige Einzelvorstöße werden nur in seltenen Ausnahmefällen durchgeführt.
Den Schwierigkeiten der Tiefenforschung - der Aufklärung in der Sowjet-Union selbst - steht die Tatsache gegenüber, daß Detailnachrichten, wie sie im grenznahen Gebiet von Bedeutung sind, aus der Tiefe des gegnerischen Raumes nicht mehr interessieren. Von Belang ist das große Bild der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Situation der Sowjet-Union und ihrer Veränderungen. Dieses Bild ist im allgemeinen durch intensiven Vergleich von Schriften und Statistiken, geographischen Unterlagen und Archivmaterial, diplomatischen Berichten und offiziellen Quellenwerken viel sicherer zu gewinnen als durch einzelne V-Mann-Meldungen.
So ist denn auch in der Pullacher Zentrale des Gehlen-Dienstes der größte Teil der schätzungsweise 400 Spezialisten nicht mit der Bearbeitung von V-Mann-Material, sondern mit wissenschaftlichen Analysen beschäftigt. Zu dem ursprünglichen Gehlen-Team, das im wesentlichen aus den Offizieren, Sonderführern und Beamten seiner OKH-Abteilung bestand, sind inzwischen Fachleute der Wirtschaft und der Technik, der Naturwissenschaft und der politischen Wissenschaften gestoßen. Daneben allerdings auch reine Techniker, die sich mit Problemen des Funkwesens, mit der Verwendung und Erkennung von Geheimtinten, falschen Papieren und Dokumenten und anderen Details der nachrichtendienstlichen Methodik beschäftigen.
In diesen technischen Zweigen speziell ist Gehlen selbst ein einfallsreicher Spezialist und Tüftler. Die Faszination, die alles Technische auf ihn ausübt, reicht bis zu halsbrecherischer Autoraserei im Mercedes, durch die er allerdings vielleicht auch seine unbefriedigte reiterliche Passion abreagiert.
Das Reiten turnierreifer Springpferde hat er auf Bitten seiner Mitarbeiter und der Amerikaner eingestellt, die ihren 52jährigen Chef und Star nicht mit gebrochenem Rückgrat im Rollstuhl sehen möchten. Und auf einem frommen Pferd spazierenzutraben, verbietet ihm der reiterliche Stolz.
Fast allwöchentlich ist Gehlen in seinem Mercedes mit wechselnder Zulassungsnummer unterwegs nach Bonn, mit wechselnden Personalpapieren(4) in der Brieftasche. In der Hosentasche trägt er eine sechsschüssige Pistole, sein Sicherheitsschutz besteht gewöhnlich aus zwei Scharfschützen. Die obligate blaue Brille allerdings trägt er nur, wenn er gegen die Sonne fährt.
Wenn wichtige nachrichtendienstliche Erkenntnisse über Ostdeutschland oder die Sowjet-Union vorzutragen sind, wird Gehlen vom Bundeskanzler empfangen, andernfalls konferiert er im Bundeskanzleramt mit Staatssekretär Globke. Aber auch mit Kurt Schumacher und dessen Nachfolger Erich Ollenhauer hat er stets persönlichen Kontakt gepflegt. Sie alle kennen ihn als einen kaum mittelgroßen, schmalen Mann, den der »Monde«-Korrespondent Georges Penchenier nicht sehr liebenswürdig, aber auch nicht unzutreffend beschrieb, als er sagte: »Schmale Lippen, sehr tiefliegende Augen unter einer hohen, kahlen Stirn, sehr abstehende Ohren, so ist Reinhard Gehlen...«.
Die sprungbereite, erdrückende Energie, die aus seinem Gesicht spricht, wird nach dem übereinstimmenden Eindruck aller, die ihn kennen, gemildert durch den rustikalen Charme der frischen Rötung seiner Wangen und einen etwas altväterlichen, sehr kurz gestutzten Schnurrbart, der das wesentlichste Unterscheidungsmerkmal zwischen der heutigen Physiognomie des Generals und den schätzungsweise zehn Jahre alten Bildern darstellt, die als einzige von ihm existieren.
Die Heftigkeit des physiognomischen Eindrucks mildert sich, sobald Gehlen in seiner lebhaften, kontaktsicheren und stark mimischen Art spricht, zumal die idiomatische Gemütlichkeit seines Geburtsortes Erfurt mit »hartem und weichem B« noch leicht durchklingt.
Das Haar, an den Seiten 1/10 Millimeter, ist über der Schädeldecke licht, aber noch blond, die Attitüde bescheiden, die Aufmachung eher schlicht als elegant und nicht ohne kleine Stilbrüche: Krawattenspange aus Chrom und hellbraune Slippers mit Gummisohlen.
Die Nachbarn am Starnberger See, die die Grundstücke rund um Gehlens zweigeschossiges braunes Holzhaus bewohnen, behaupten, den General noch nie zu Gesicht bekommen zu haben. Der Gehlensche Hund ist das gefürchtetste Lebewesen im weiten Umkreis. Die Requisiten der Familie sind nicht auffälliger, als es in den Landsitzen am Seeufer üblich ist: ein altes Hausmädchen, ein Gärtner-Chauffeur, ein blauer Volkswagen zur ausschließlichen Benutzung der Familienmitglieder und ein BMW-Motorrad, mit dem der 17jährige Sohn Christoph, ein angehender Student, die Spaziergänger verscheucht.
Bis zur Flucht Otto Johns galt dem benachbarten Grundstück der Filmschönheit Ruth Leuwerik ("Königliche Hoheit") ungleich größeres Interesse.
Seit allerdings im Zusammenhang mit dem Fall John die Frage ins Gespräch gekommen ist, welche Rolle Reinhard Gehlen in der Bundesrepublik spielen soll, wenn seine Organisation einmal Legalität als deutsche Behörde genießt, ist am See das Gerücht wieder aufgelebt, Gehlen mache von Zeit zu Zeit mit vorgebundener Maske bei seinen Nachbarn Besuch.
Das behauptete kühle Verhältnis zwischen dem ehemaligen Verfassungsschutz-Präsidenten John und Reinhard Gehlen entbehrt in der Tat schon vom Äußerlichen her nicht einer gewissen Motivierung: Gehlen ist ein Schüler und Bewunderer Mansteins ("Einer der wenigen mit dem göttlichen Funken"), Otto John diente den Anklägern, die Manstein nach dem Kriege wegen angeblicher Kriegsverbrechen den Prozeß machten.
Als unrichtig kann jedoch gelten, daß Gehlen eigene Ambitionen auf den Präsidentenstuhl im Kölner Verfassungsschutzamt kultiviere. Der Verfassungsschutz ist eine Institution zur Gewährleistung innerer Sicherheit, Gehlen ist ein Mann des Auslands-Nachrichtendienstes. Auch die Gehlen nachgesagte Konzeption, er suche seinen Dienst in das Bundeskanzleramt einzugliedern und ihm als Staatssekretär vorzustehen, hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Es entspricht nicht der Denkweise eines in der staatspolitischen Konzeption der Reichswehr großgewordenen Offiziers, Institutionen der inneren und äußeren Sicherheit den Zufällen der Parteipolitik auszusetzen; gerade das Bundeskanzleramt aber wird stets der auffälligste Träger der jeweils vorherrschenden Partei-Couleur sein.
Wer den offiziell nirgendwo bekanntgegebenen Zukunftsplänen Gehlens durch Analogieschluß und Analyse beizukommen sucht, wird außer von der parteipolitischen Neutralität des Reichswehroffiziers und Generalstäblers von der Tatsache ausgehen müssen, daß Gehlen in der fachlichen Abwehrarbeit keine tiefgreifenden Vorbehalte gegen die amerikanische Konzeption haben kann, da er in ihrem Rahmen seit Jahren mitarbeitet.
Die USA aber haben seit 1947 in der Central Intelligence Agency (CIA) eine Zentralbehörde für den gesamten geheimen Auslands-Nachrichtendienst, die die Belange sowohl der amerikanischen Wehrmacht als auch des Außenministeriums wahrnimmt. Von beiden Seiten wird Personal der CIA unterstellt, deren Chef Allen Dulles, der Bruder des Außenministers, nur dem Präsidenten verantwortlich ist.
Daß Reinhard Gehlen für die Bundesrepublik einen derartigen autonomen Auslands-Nachrichtendienst unter seiner Leitung anstrebt, kann als ausgemacht gelten. Der Verfassungsschutz hätte notwendigerweise außerhalb dieser Behörde zu stehen.
Die Frage, wann die Legalisierung des Gehlen-Dienstes vollzogen, wann des Kanzlers lieber General als deutscher Beamter Vortrag halten kann, hat eine haushaltstechnische und eine politische Seite: Die Behauptung, daß der Gehlen-Apparat mit jährlich 26 Millionen Mark dotiert sei, ist niemals dementiert worden. woraus fachkundigen Beobachtern hervorzugehen scheint, daß der Etat mindestens doppelt so hoch sein wird. Ein solcher Betrag erscheint auch nicht exorbitant, wenn man ihn beispielsweise am Polizei-Etat der Hansestadt Hamburg mißt, die jährlich 66,5 Millionen Mark verbraucht, obwohl ihr Aktionsbereich nur bis Poppenbüttel und nicht bis Alma Ata reicht. Im Bundeshaushalt immerhin wären 50 Millionen Mark ein Etatposten, der oppositionellen Abgeordneten willkommenen Anlaß geben könnte, sich daran festzubeißen.
Zum anderen, und hier liegt die politische Seite der Entscheidung über Gehlen, macht nicht nur das östliche, sondern auch das westliche Ausland Anstalten zu einem Taifun im Wasserglas. Der britische Intelligence Service, der Uradel aller westlichen Geheimdienste, kann kein auffälliges Interesse daran haben, einen starken Auslands-Nachrichtendienst in Deutschland entstehen zu sehen.
Den Franzosen ist jede deutsche Behörde mit auswärtigen Belangen von vornherein ein Greuel, und den Russen ist die bloße Existenz westlicher Geheimdienste ein willkommener Vorwand, ihre Zone vom friedlichen Verkehr mit Westdeutschland abzuschneiden, obwohl ihre eigenen Geheimdienste Westdeutschland noch weit solider durchdringen als der Gehlen-Dienst die Sowjet-Zone.
Mit der sowjetisch gesteuerten Presse haben sich ins Gewicht fallende französische und britische Blätter gemeinsam in der Formel gefunden, Gehlen sei ein SD-Boß, ein neuer Chef der alten Gestapo-Boys.
Für diesen Punkt der Kontroverse allerdings sind Gehlen und der Kanzler präpariert: Gehlens Organisation verdankt ihren Ursprung den Kämpfen zwischen dem Heer und der SS. Gehlens Generalstäbler haben sich in endlosen Kompetenz-Streitigkeiten im Heimatkriegsgebiet und auf den Kriegsschauplätzen des Ostens an den anmaßenden Chargen Heydrichs und Schellenbergs gerieben. Selbst wenn sie der politischen Vergangenheit der SS-Offiziere tolerant oder uninteressiert gegenüberstehen, sind sie doch in der fachlichen Bewertung derer, die den Reichsadler auf dem Ärmel trugen, so unversöhnlich wie ein Alter Herr der Bonner Borussen gegenüber der Sängerschaft »Bardia«.
Als V-Leute und Forscher stehen zwar ehemalige SD- und Gestapo-Beamte hier und da in Gehlens Diensten, da sie bei ehemaligen Kameraden auf der Gegenseite eine gute Ansprache haben und in einer Reihe von Fällen erfolgreich in den gegnerischen Dienst eingedrungen sind. Eines aber wird Konrad Adenauer auf sein Wort nehmen können, wenn er der Organisation Gehlen die politische Reife bescheinigt: In Gehlens Stab gibt es nicht einen ehemaligen SD- oder Gestapo-Mann.
Die in diesem Artikel gebotene Darstellung rund um den Aufbau einer Sabotage-Organisation in der DDR Anfang der 50er Jahre durch Ernst Wollweber ist mittlerweile durch neuere Forschungsergebnisse überholt.
Zur Erläuterung hierzu Auszüge aus :
"Geheimdienstkrieg in Deutschland. Die Konfrontation von DDR-Staatssicherheit und Organisation Gehlen 1953. (Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968, Bd. 3)" von Ronny Heidenreich, Daniela Münkel und Elke Stadelmann-Wenz. Erschienen im Ch. Links Verlag, Berlin 2016 (S. 355-385, hier S. 366f.)
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Wollweber selbst gelang die Flucht nach Schweden, wo er inhaftiert und im November 1944 in die Sowjetunion ausgewiesen wurde. Seine Rückkehr nach Deutschland erfolgte erst Anfang 1946. Im Gegensatz zur Vorkriegszeit übernahm er keine herausgehobenen Parteiämter mehr, sondern bekleidete nachgeordnete Funktionen im Staatsapparat. Dass weder Moskau noch die SED den renommierten ehemaligen »Sabotagespezialisten« mit anderen Aufgaben betrauten, leistete Gerüchten Vorschub, seine offiziellen Funktionen seien kaum mehr als eine schlechte Tarnung.
Mutmaßungen über Wollwebers geheime Tätigkeiten tauchten in der westlichen Presse ab Frühjahr 1950 verstärkt auf. Unter Verweis auf die Anschläge in der Zwischenkriegszeit deuteten unter anderem »Die Welt« und die »Basler Nachrichten« an, der in die DDR zurückgekehrte ehemalige »Sabotage-Spezialist« Wollweber führe seine in den 1930er-Jahren entstandene Sabotageorganisation weiter. »Die Zeit« verkündete im November desselben Jahres, die »Wollweber-Organisation« sei »wieder auferstanden«. Die »Rhein-Neckar-Zeitung« brachte den »Leiter einer internationalen Spionage-Organisation« ein halbes Jahr später mit angeblichen Waffentransporten aus der DDR nach China in Verbindung. »Der Spiegel« (36/1951, 5.9.1951) sekundierte mit Verweis auf Erkenntnisse »westlicher Abwehr- und Kripospezialisten«, die Existenz der »Wollweber-Organisation« sei unstrittig, einzig an ihrer »Aktionsfähigkeit« bestünden in »informierten Kreisen« Zweifel.
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Anmerkungen:
Bislang konnte kein Nachweis erbracht werden, dass Wollweber nach 1945 mit Sabotage- bzw. Diversionsaufgaben befasst war. Michael Kubina verweist unter Berufung auf einen Informanten des Ostbüros der SPD darauf, dass Wollweber vermutlich bis 1947 mit Spionage im norddeutschen Raum befasst gewesen sein könnte, jedoch seien diese Unternehmungen wenig erfolgreich gewesen und deshalb eingestellt worden.
Michael Kubina: Zum Aufbau des zentralen Westapparates der KPD/SED 1945-1946; in: Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, hg. von Manfred Wilke, Berlin 1998, S. 49-118;
Michael Kubina: »In einer solchen Form, die nicht erkennen läßt, worum es sich handelt«. Zu den Anfängen der parteieigenen Geheim- und Sicherheitsapparate der KPD/SED nach dem Zweiten Weltkrieg, Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 32 (1996) 3, S. 340-374.
Der norwegische Militärhistoriker Lars Borgersrud weist nach, dass Wollweber in den Nachkriegsjahren auch in Skandinavien nicht mehr aktiv war.
Lars Borgersrud: Wollweber-organisasjonen i Norge, Oslo 1995 (dt. Die Wollweberorganisation und Norwegen, Berlin 2001);
Lars Borgersrud: Fiendbilde Wollweber. Svart propganada i kald krig, Oslo 2001.
In den Unterlagen des MfS fanden sich bislang keine Hinweise, die Anhaltspunkte für eine nachrichtendienstliche oder Diversionstätigkeit geben könnten.
Engelmann, Wollweber; Kowalczuk, Stasi konkret, S. 372, Fn 17.
(1) »In gärend Drachengift hast du die Milch der frommen Denkart mir verwandelt« (Schiller, Wilhelm Tell). (2) Haben Handwerker oder andere Außenstehende im Compound zu tun, so werden sie zunächst photographiert und müssen Erkennungsmarken mit ihrem eigenen Lichtbild, wie sie aus den amerikanischen Atomzentren bekannt sind, stets sichtbar tragen. (3) Ideologische Zersetzung und Aufstandsvorbereitungen, die klassische Tätigkeit des Zweiges II der deutschen Abwehr, werden von der Organisation Gehlen selbst nicht betrieben. Sie beschränkt sich auf den reinen Nachrichtendienst und die Abwehr gegnerischer Nachrichtendienste. (4) Innerhalb des Gehlen-Apparates heißt er »Herr Doktor« bzw. »der Doktor«.