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DEUS, PATRIA UND HUMANITAS

aus DER SPIEGEL 30/1964

Die Bombe, die Leutnant von Schlabrendorff und Oberst von Tresckow noch der Katastrophe von Stalingrad 1943 in Hitlers Flugzeug unterbrachten, blieb unentdeckt - aber sie ging auch nicht los. Als über ein Jahr später Stauffenbergs Bombe explodierte, wurde auch Schlabrendorff verhaftet, vom Volksgerichtshof zwar freigesprochen, doch gleich wieder festgesetzt. In seinem Buch »Offiziere gegen Hitler« hat er seine Widerstandserfahrungen beschrieben. Fabian von Schlabrendorff, heute als Anwalt tätig, wurde vor Jahren für den Posten des Wehrbeauftragten und, später, für das Amt des Generalbundesanwalts vorgeschlagen.

Wenn ich heute versuche, mich um zwanzig Jahre zurückzuversetzen, so bin ich mir bewußt, daß das Ergebnis nicht mehr als ein Stückwerk sein kann. Viel Zeit ist vergangen, die manches hat vergessen lassen, vieles ist geschehen, das noch frischere Spuren aufweist als jener Sommer 1944. Das ist zwar ein natürlicher Vorgang, aber doch auch eine Gefahr.

Die Männer und Frauen, die heute erwachsen werden, haben nicht eine Spur eigener Erinnerung an diese Zeit. Können wir es verantworten, ihnen jenes blasse Bild zu zeigen, das in uns wohnt? Nein, damit werden wir weder der heranwachsenden Generation noch jener Zeit gerecht.

Die Frage lautet nicht nur: Was war damals?, sondern vor allem: Wie konnte dies geschehen und warum haben die Menschen damals so und nicht anders reagiert? Die Erforschung und Darstellung der Tatsachen ist notwendig und bleibt wertvoll. Wir sollten uns aber nicht scheuen, echtes Leben wiederzugeben und gerade diese akuten »Warum-Fragen« vordringlich zu beantworten. Sonst bleibt manches vergeblich getan, gedacht, geschrieben und gelitten.

Was wollten die Männer des 20. Juli? Sie wollten nicht Rache, nicht Revolution, nicht Reaktion und nicht Putsch. Mit diesen Begriffen kann man immer höchstens einen Teil dessen erfassen, was, gemeint ist. Es war - positiv ausgedrückt - ein »Widerstandskampf, getrieben von der Unruhe des Gewissens«. Dieses unruhige Gewissen lebte in vielen Menschen, die zwar gänzlich verschiedener Provenienz waren, aber trotzdem in vielem übereinstimmten. Deus, patria und humanitas sind die Lebensinhalte, in denen sich die verschiedensten Menschen verschieden stark vereinigten. Allen gemeinsam war, wo nicht die Herkunft aus dem Christentum, so doch die aus der prophetischen und christlichen Welt erwachsene Ablehnung des Regimes.

Ganz deutlich ist das gesagt in den Worten, die uns von Ewald von Kleist -Schmenzin überliefert sind: »Uns trennt und muß immer trennen vom Nationalsozialismus die Einstellung zur Religion.« Für ihn war Hitler der große Antichrist. Ein Gleiches gilt für die

vielen Gleichgesinnten, vorzüglich für den Kreisauer Kreis. Aber die Männer des 20. Juli handelten zugleich aus einer tiefen Vaterlandsliebe heraus. Sie alle sahen, wie in der Zeit des Nazismus Deutschland immer mehr mit Schande beladen wurde, wie deutsche Menschen für wahnsinnige Ideen starben und wie deutsche Menschen andere für die gleichen wahnsinnigen Ideen töteten.

Sollte Deutschland nicht dem Verdammungsurteil der ganzen Welt anheimfallen, so mußte man dem Nationalsozialismus in den Arm fallen. Es galt Zeugnis dafür abzulegen, daß Hitler nicht gleich Deutschland war. In den damals vorbereiteten Aufrufen an das deutsche Volk und an die Wehrmacht kommt dieser Gedanke deutlich zum Ausdruck. Stauffenberg starb am 20. Juli mit den Worten: »Es lebe unser heiliges Deutschland!«

Der Münchner Hochschullehrer Kurt Huber, der Lehrer der Geschwister Scholl, sagte zu seiner Verteidigung vor dem Volksgericht: »Jeder sittlich Verantwortliche würde mit uns seine Stimme erheben gegen die drohende Herrschaft der bloßen Macht, der bloßen Willkür über den Willen des sittlich Guten.«

Wenn nun ein Senat des Bundesgerichtshofs es auf die Möglichkeit des Erfolges im Widerstand abstellt, so zeigt er nur, daß er von dem Geist des Widerstandes keinen Hauch verspürt. Aber hier scheiden sich eben die Geister. Die einen wollten die Stimmen erheben, die anderen die Hand. Bei letzterem dachten wiederum einige an die Tat schlechthin, andere an die Gewalttat. Während Moltke nach seiner Verurteilung sagen konnte: »Wir sind aus jedem praktischen Handeln 'raus, wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben«, ist uns die Haltung Tresckows in den Worten überliefert: »Das Attentat auf Hitler muß erfolgen, um jeden Preis.«

Unter Bonhoeffers Gebeten befindet sich eines, dessen eine Zeile diese Polarität schlaglichtartig zum Ausdruck bringt: »Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.« Ja, im Leiden war man wieder vereinigt.

Einig war man aber auch, was die Ziele des Widerstandes anging. Betrachten wir die Programme solcher Gegenpole wie Moltke und Goerdeler. Immer ist die Wiederherstellung von Recht, Wahrheit und Freiheit das Hauptziel: »Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts« (Regierungserklärung). »Das zertretene Recht muß wieder aufgerichtet und zur Herrschaft über alle Ordnungen des menschlichen Lebens gebracht werden« (Kreisauer Entwurf). »Der Lüge sagen wir Kampf an« (Regierungserklärung).

»Für die Überwindung von Haß und Lüge« kämpfte der Kreisauer Kreis. »Die zerbrochene Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung wird wiederhergestellt« (Regierungserklärung). .Die Glaubens- und Gewissensfreiheit wird gewährleistet« (Kreisauer Entwurf).

Das alles ist zwanzig Jahre her. Eine große Menge ist darüber gesprochen und geschrieben worden. Papier ist geduldig. Von dem etwaigen Leser jedoch erwartet man nicht nur Geduld, sondern auch Verständnis. Von dieser Forderung kann man nicht lassen, wenn nicht die Deutschen auf eine Zukunft verzichten wollen, die ihrerseits voraussetzt, daß sie sich ihrer Vergangenheit bewußt sind. Deshalb ist es nötig, diese Dinge wachzuhalten und die Erinnerung daran zu wecken.

Den Versuch dazu unternimmt das bereits durch seine Veröffentlichungen über Goebbels und Göring hinreichend bekannte Schriftstellerteam Fraenkel/ Manvell in dem Band »Der 20. Juli«. Für die deutsche Ausgabe ist ein Vorwort von Wolf Graf von Baudissin vorausgestellt. Die Verfasser haben sich keine kleine Aufgabe vorgenommen. Anhand neuen Beweismaterials wollen sie viele Widersprüche, die die bisherige Forschung über den geschichtlichen Ablauf bestehen lassen mußte, aufklären.

Sie verbinden damit ein weites Ziel: die Darstellung der menschlichen Tragödie. Sie haben sich bemüht, in der Geschichte der Verschwörung die Menschen und ihre Beweggründe lebendig werden zu lassen. Die Verfasser haben dazu eine neue Form gewählt, die sowohl Züge einer wissenschaftlichen Arbeit als auch die eines Romans oder besser eines Dramas aufweist. Wer ahnte nicht, welche Gefahren sich damit auftun. Der erste Teil (1. Akt), »Die Verschwörer«, berichtet von der ständig wachsenden Opposition.

Die englischen Verfasser gehen dabei von Bonhoeffer und seinen Missionen in Richtung England aus. So wird vielleicht unabsichtlich das nicht wegzudenkende christliche Motiv in alle Widerstandskreise untrennbar eingewoben. In fünf weiteren kurzen Abschnitten wird der Leser mit den einzelnen Verschwörungen bekannt. Er erfährt von ihren Beweggründen und Zielen. Er erfährt auch von einer Reihe fehlgeschlagener Unternehmungen. Leider ist nur wenig von den Gewerkschaftlern und den Sozialdemokraten und anderen linken Kräften die Rede. Alles ist bereits auf den zweiten Teil (2. Akt), den dramatischen Höhepunkt »Der 20. Juli«, zugeschnitten.

In diesem Teil sind die Ereignisse jenes Tages in unerhört gestraffter Form beschrieben. Der schnelle Wechsel der Szenen von Rastenburg nach Berlin, von Berlin nach Paris führt hin bis zu der höchsten Steigerung, der Krisis, im Augenblick der Hitlerrede in der Nacht vom 20. zum 21. Juli - jener Rede, die auch die letzten Hoffnungen vernichtete und das mühsam entfachte Feuer wieder verlöschen ließ. Jener Rede, die die erste Sprachregelung von einer »ganz kleinen Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere« brachte. Jener Rede, die besagte: »Diesmal wird nun so abgerechnet, wie wir das als Nationalsozialisten gewohnt sind«, und die versprach, dadurch »nun endlich aber auch im Rücken der Heimat die Atmosphäre (zu) schaffen, die die Kämpfer an der Front brauchen«.

Welche Atmosphäre damit gemeint ist, schildert der dritte Teil (3. Akt),

»Blutige Vergeltung«, in dem wir von Flucht und Verfolgung, von Verhör und Folter, von Prozeß und Mord hören. Der Text schließt mit dem Bericht vom Ende des Mannes, mit dessen Widerstandsgeschichte die Verfasser begonnen hatten, der Ermordung Bonhoeffers. Es folgen einigermaßen ergiebige Anmerkungen und ein Anhang mit dem Versuch, den fraglichen Anruf General Fellgiebels zu klären, mit einem Bericht Otto Johns über die Bendlerstraße und mit einem Bericht über die Arbeit Goerdelers während der Haftzeit. Eine kleine Bibliographie bildet den Schluß.

Das alles sei hier nur erwähnt, um auf die Schwierigkeit einer in die Form eines Dramas gebrachten wissenschaftlichen Arbeit hinzuweisen. Das Buch will keine erschöpfende Auskunft geben. Man geht fehl, das von ihm zu erwarten oder zu verlangen. Das Buch ist mit Faszination geschrieben. Es geht unter die Haut. Es wird nichts beschönigt. An einigen Punkten werden etwas zu voreilige Schlüsse gezogen, so zum Beispiel bei der Frage nach dem Grund des Mißlingens am 20. Juli selber. Auch von dem, was das Buch als Klärung historischer Fragen bezeichnet, gewinnt man häufig den Eindruck, als ginge diese Klärung zu gewalttätig vor. Hier mußte die Wissenschaftlichkeit der dramatischen Wirksamkeit weichen.

Leider sind auch einige wenige sachliche Fehler unterlaufen. Dinge wie Dienstgrade, Namen und Daten müssen in einer wissenschaftlichen Arbeit korrekt sein. Wir sehen, wie leicht die Schwierigkeit, ein Drama wissenschaftlich abzuhandeln, fragwürdig wird.

Aber das Buch hat überwiegend große Vorteile. Die Tatsache, daß wir viele Ereignisse und Gestalten mit den Augen eines Ausländers und hier mit den Augen der Menschen jener Tage sehen, ist ein Gewinn. Die Sprache des Buches ist gestrafft. Sie ist im höchsten Maße eindringlich und zeichnet sich aus durch Schärfe und Flüssigkeit.

Es ist ein Teil unserer deutschen Geschichte. Wer die Deutschen kennt, mag bezweifeln, daß die Diskussion hierüber je zur Ruhe kommt.

von Schlabrendorff

Verlag

Ullstein

Frankfurt

240 Seiten

14,80 Mark

Manvell

Fraenkel

Hinrichtungsraum der Juli-Verschwörer in Berlin-Plötzensee

Fabian von Schlabrendorff

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