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Deutsch ist, wer guter Nazi war

aus DER SPIEGEL 52/1989

Es ist jeden Tag dasselbe traurige Spiel: Da sitzen uns reihenweise Antragsteller aus Polen gegenüber, die so tun, als ob sie Deutsche wären. Und wir müssen so tun, als ob wir ihnen das glauben.

Die Dienstanweisungen, oft nicht mal schriftlich, sondern nur telefonisch von der vorgesetzten Behörde erteilt, sind es, die jeweils die Marschrichtung bei der Anerkennung festlegen, nicht etwa die Gesetze. Ginge das hier alles streng nach Recht und Gesetz, dann würden wir etwa 80 Prozent aller Antragsteller aus Polen ablehnen.

Die Frage, wer als Deutscher anzuerkennen ist, bestimmt sich nach Grundsätzen, die mit der Realität und der deutschen Geschichte nichts mehr zu tun haben. Oft genug ist man zu geradezu zynischer Argumentation gezwungen.

Da sind zum Beispiel die Antragsteller, die aus den sogenannten Volkslisten-Gebieten kommen - zur Zeit bis zu 80 Prozent der täglich weit über tausend Ankömmlinge aus Polen. Diese Gebiete - etwa Westpreußen, Ostoberschlesien, Wartheland - haben nicht zum Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 gehört. Die Menschen, die dort wohnten, sind damals von den deutschen Eroberern, den Nazis, in sogenannten Volkslisten sortiert worden. Wer polnischer Volkszugehöriger mit wenig oder * Der Autor möchte anonym bleiben. Er ist der Redaktion bekannt. gar keinem deutschen Blut war - und das waren sehr viele -, kam auf die sogenannte Volksliste 3 und bekam einen grünen Ausweis.

Nun kann man wirklich streiten, ob diese Nazi-Einteilung für uns verbindlich ist. Eigentlich waren es ja Polen, die NS-Behörden aber machten sie zu »Deutschen auf Widerruf«.

Jedenfalls mußten sie deutsche Soldaten werden. Und darauf kommt es in unserer täglichen Praxis oft an. Weil nämlich kaum einer noch den Volkslisten-Ausweis hat, fragen wir bei der »Wehrmachts-Auskunftsstelle« in Berlin an, ob der Vater oder Großvater zur Hitler-Wehrmacht gehörte. Wenn aus Berlin ein Telefax kommt: »Wehrmacht positiv«, dann ist die Anerkennung als Deutscher gesichert.

Das ist doch ein Hohn: Da wird einer in Ehren als Deutscher aufgenommen und bekommt erhebliche finanzielle Vorteile, wenn er beweisen kann, daß sein Vater oder Großvater Nazi-Soldat gewesen ist. Denn dies, so die Logik der Dienstvorschriften, ist ein »Bekenntnis zum Deutschtum«, von dem die Anerkennung letztlich abhängig gemacht wird.

Deutscher ist, wer - freiwillig oder unfreiwillig - guter Nazi war. Zu solchen Konsequenzen sieht man sich gezwungen: Soldaten, die sich damals aus Auflehnung gegen die Hitler-Besatzer der Widerstandsarmee der Alliierten unter dem polnischen General Wladyslaw Anders angeschlossen haben - und das sind einige -, haben nach dieser Denkweise ein »Negativ-Bekenntnis« zum Deutschtum abgelegt. Ihre Kinder und Urenkel, die nun bei uns um Anerkennung nachsuchen, sind, wie wir sagen, »Anders-positiv«, sie werden abgelehnt. Diese Beispiele zeigen schon, wie absurd die von uns täglich vorzunehmende Prüfung des »Bekenntnisses« zum Deutschtum ist.

Die Antragsteller geben als Grund für ihre Ausreise aus Polen ganz offen wirtschaftliche Gründe an. Sie kommen mit ihrer niedrigen Rente daheim nicht aus, die Arbeiter verdienen zuwenig, selbst gutverdienende Grubenarbeiter können sich für ihr Geld mangels Angebot nichts kaufen. Andere finanzieren mit dem hier verdienten Geld ihr Haus oder ihren eigenen Betrieb in Polen.

Es gibt auch Rentner, die sich nach Erledigung der Formalitäten einen Proforma-Wohnsitz in der Bundesrepublik suchen und sich ihre westdeutsche Rente nach Polen weiterschicken lassen. Sie haben dann bis zu 100mal mehr Geld zur Verfügung, als wenn sie Rente in Polen beziehen. Ein Pole, der das nicht versucht, ist selber schuld.

Wenn man diese Realitäten kennt, verwundert es auch nicht, daß es viele Leute gibt, die für eine deutsche Abstammung alles tun würden. Für denjenigen, der sich keine Fälschung besorgen möchte oder auch kann, gibt es einen viel einfacheren Weg. Er kann in polnischen Zeitungen ganz einfach Heiratsanzeigen aufgeben. Inhalt: Frau oder Mann mit deutscher Abstammung gesucht. Eine solche Ehe, durch die man deutsch wird, kostet 5000 Mark West.

Es sind uns Fälle bekannt, wo sich glücklich verheiratete Paare scheiden lassen und einen deutschen Partner sozusagen auf Widerruf heiraten, anschließend ins Bundesgebiet einreisen, sich als Deutsche aufnehmen lassen, sich erneut scheiden lassen, um dann den alten Ehegatten wieder zu heiraten.

Man macht es den Aussiedlern hier viel zu einfach. Schon allein die Tatsache, daß sie ihre polnische Staatsangehörigkeit beibehalten dürfen, führt dazu, daß viele sich hier registrieren lassen, hier arbeiten oder Sozialhilfe beziehen und ständig nach Polen pendeln.

Insbesondere Jüngere bekennen sich heute eindeutig zum polnischen Volkstum und wollen auch so leben. Es liegt auch völlig außerhalb der Realität, wenn man heute noch annimmt, die deutschen Minderheiten in Polen würden unterdrückt. Das ist geradezu eine Beleidigung des polnischen Staates.

Durcheinander gibt es außerdem in vielen Fällen, weil die örtlichen Ausgleichs- und Vertriebenenämter, die für die Erteilung der Vertriebenen-Ausweise zuständig sind, oft keine Ahnung haben, worüber sie da überhaupt entscheiden. Es gibt Ämter, die ohne weiteres als Deutschen anerkennen, wer mit dem Angelschein vom Nachbarn ankommt.

Es ist erschreckend, welches Unwissen bei den Behörden herrscht, die so weitreichend über menschliche Schicksale und erhebliche finanzielle Zuwendungen zu entscheiden haben. Verantwortlich dafür sind Politiker und Ministerialbürokraten, die offenbar die Realitäten nicht zur Kenntnis nehmen wollen.

Die Großzügigkeit bei der Anerkennung könnte unliebsame Folgen haben. Wenn die Republikaner nämlich das Thema entdecken, könnten sie sehr schnell zeigen, daß ein großer Teil der anerkannten Aussiedler nach den Kriterien des Grundgesetzes und des Vertriebenengesetzes gar nicht als deutsch betrachtet werden muß.

Da würde ein neues Feld für Ausländerhaß entstehen. Die könnten zeigen, daß nach der Rechtslage, wie sie jetzt gehandhabt wird, sogar Neger mit Wohnsitz in Polen ihre Anerkennung als deutsche Vertriebene bekommen können.

Täglich frage ich mich, warum man mit soviel Verdrehungen und in solcher Hast Polen zu Deutschen machen muß. Dennoch bemühe ich mich täglich neu, nett zu den Leuten zu sein, die da zu Tausenden kommen. Ich finde nämlich, wir sollten sie gut behandeln - nicht weil sie Deutsche, sondern Polen sind.

Schließlich sind wir denen etwas schuldig.

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