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SÜDTIROL / VOLKSTUM Deutsch san mir

aus DER SPIEGEL 46/1966

Ein italienischer Polizist - blaue Uniform, Schnauzbart - winkte den weißen Porsche an den Straßenrand. »La patente, prego«, bat er den Fahrer, Rechtsanwalt Dr. Hugo Gamper, 33, aus Bozen.

Gamper, der in der Innenstadt von Bozen mit Abblendlicht statt mit Standlicht gefahren war, zum SPIEGEL: »Jetzt will ich Ihnen einmal zeigen, was Südtirolern passiert, wenn sie in Südtirol Deutsch sprechen.«

Und zum Polizisten: »Wie bitte? Würden Sie es bitte auf deutsch sagen?«

Das Gesicht über dem Schnauzbart verfärbte sich. »La patente! Die Fahrkarte!« Das war ein Befehl.

»Ich fahre Auto, ich habe keine Fahrkarte. Meinen Sie vielleicht den Führerschein?« - Ja, Führerschein!«

Sorgfältig studierte der Blaue die Fahrlizenz, schnaubte »Strafe!«, stelzte betont langsam um den weißen Wagen, zog umständlich Block und Kugelschreiber aus der Tasche, notierte Namen und Kennzeichen.

Dann, nach beinahe zehn Minuten, reichte er einen vorgedruckten grünen Zettel mit italienischem. Text durchs Fenster - das Protokoll für »Drhugo« (statt Dr. Hugo) Gamper. Strafe: 3000 Lire, etwa 20 Mark.

Gamper ("Bei denen heiße ich grundsätzlich ,Drhugo'") bat um eine Erklärung für die ungewöhnlich harte Bestrafung ("normal sind 1000 Lire") und um ein deutschsprachiges Protokoll. Hochrot vor Wut fauchte der Italiener ihn an: »Kommissariat.«

»Drhugo« resignierte, ging nicht mit aufs Kommissariat: »Hätte ich ihn gleich auf italienisch angesprochen und mich fürs Abblendlicht entschuldigt, er hätte an seine Mütze getippt und uns weiterfahren lassen. Aber, bittschön, auf italienisch! Man begreift, warum unsere Bauern oben im Pustertal, im Passeiertal oder im Vinschgau, die kein Wort Italienisch können, die Italiener so gern haben.«

Gampers provoziertes Sprach-Malheur ist nur ein Symptom für den Abgrund an Mißtrauen, der sich zwischen den 232 000 deutschsprachigen Südtirolern und den 130 000 Romanen in der nördlichsten Provinz Italiens auftut.

Ungefähr zur gleichen Zeit schossen Alpini-Soldaten fern jeder vor Südtiroler Terroristen zu schützenden Anlage den 18jährigen Peter Wieland aus Olang nieder, der den Weg von einer Musikprobe ins Wirtshaus nicht auf der Straße zurückgelegt, sondern über eine Wiese abgekürzt hatte. Aus Angst, die dunkle Wiese zu betreten, stoppten sie - die rauchenden Waffen im Anschlag - einen Autofahrer und zwangen ihn, den Wiesengrund mit seinen Scheinwerfern zu beleuchten. Zwei Stunden dauerte es, bis die Uniformierten den tödlich Verwundeten durchsucht hatten, zwei Stunden und 50 Minuten, bis Peter Wieland tot war. Dem Toten, so erzählen sich die Südtiroler, fehlte die Brieftasche.

In Bozen ließen sich Karabinieri von einem geheimnisvollen Anrufer mitteilen, daß im Hotel »Weißes Kreuz« am Kornplatz Sprengstoff lagere - unter dem Wandschrank im Zimmer 4. Der Sprengstoff war vorhanden, das Zimmer - comme il faut - von einem Österreicher gemietet, das Auftauchen der Italiener so plötzlich und termingerecht, daß Dr. Friedl Volgger, stellvertretender Parteiobmann der Südtiroler Volkspartei (SVP), dem zuständigen italienischen Sicherheitsoffizier, sobald er ihm begegnet, sagen will: »Sie haben hervorragende Arbeit geleistet und alles gefunden, was Sie versteckt haben.«

In Rom trommelte die »Neofaschistische Sozialbewegung« mehr als 6000 Menschen zu einer Kundgebung für die »Italianität« Südtirols auf die Straße. Geschmückt mit Fahnen und Ehrenzeichen aus ihrer faschistischen Vergangenheit, hoben sie die Hände zum faschistisehen Gruß und gelobten die Verteidigung der »heiligen« Brennergrenze. Fürst Valerio Borghese, einst Kommandeur einer bis zuletzt Mussolini-treuen Marine-Einheit, forderte 44 Jahre nach des Duces »Marsch auf Rom« einen »Marsch auf Bozen«.

Ebenfalls in Rom ging ein österreichischer Touristenbus, von rechter Hand entzündet, in Flammen auf. Deutschland und Österreich wurden der rechtsradikalen und revanchistischen Verschwörung gegen Italien bezichtigt. Die Fiat-Zeitung »Stampa« schrieb: »Die (deutschen) Pangermanisten und Neonazisten... haben sich mit dem Südtiroler Terrorismus das große Manöverfeld ausgewählt.« Die italienische Regierung ersuchte Bonn und Wien, dem Terrorismus auf Südtiroler Boden Einhalt zu gebieten.

Nördlich des Brenner aber mahnen seit langem große Plakate - ähnlich denen des Kuratoriums Unteilbares Deutschland - dreisprachig: »Niemals vergessen - ein Tirol«.

Und in Innsbruck nahmen die Abgeordneten des Tiroler Landtags - 46 Jahre nach dem Verlust Südtirols - stehend eine Erklärung ihres Präsidenten Dr. Lugger entgegen: »Der 10. Oktober läßt in besonderem Maße unsere Gedanken nach dem verlorenen Landesteil im Süden hinlenken... Am heutigen Tage geben wir in feierlicher Weise der Hoffnung Ausdruck, daß die im Gang befindlichen Verhandlungen mit Italien dazu beitragen mögen, daß ... das Tiroler Volkstum erhalten bleibe und für die Zukunft die Selbstverwaltung Südtirols gesichert werde.«

Der Kampf des »verlorenen Landesteiles im Süden« um Selbstverwaltung, Erhaltung des »Tiroler Volkstums« und Gleichberechtigung mit dem italienischen Staatsvolk hat die Formen eines Freistil-Ringkampfes angenommen, eines Catch-as-catch-can zwischen den Nato-Partnern Italien und Deutschland, zwischen den Nachbarn Italien und Österreich, zwischen 52 Millionen stolzen, von nationalem Sendungsbewußtsein erfüllten Italienern und fast einer Viertelmillion knorrigen, halsstarrigen und deutschsprachigen Südtirolern - und zwischen den Südtirolern selbst.

Seit zehn Jahren wird in Südtirol geschossen, gesprengt, gefoltert; seit fünf Jahren wird über Südtirol verhandelt. Aber eine endgültige, gerechte und dauerhafte Lösung des alpinen Minderheitenproblems, ein innenpolitischer Frieden für »dieses wundervolle Bergland« (Winston Churchill) ist noch immer nicht in Sicht.

Zwischen Brenner und Salurn, wo ängstliche italienische Ordnungshüter, Carabinieri und Alpini, Finanzieri und Questurini, auch tagsüber nur in Gruppen auftreten, wo eine deutschsprachige Frau im Restaurant »Stroblhof« bei Eppan beim Erscheinen von acht italienischen Gästen verängstigt flüstert: »Oje, jetzt kommen die Italiener«, dort, im Ferienparadies ältlicher deutscher Touristinnen, ist Angst und Mißtrauen zur beherrschenden Charaktereigenschaft geworden.

Dort fühlen sich die Südtiroler seit nunmehr 46 Jahren »verkauft« (so der Londoner »Observer") - verkauft von den Siegern des Ersten Weltkriegs, verkauft von Hitler, verkauft von den Siegern des Zweiten Weltkriegs.

Dort fühlen sich die Italiener seit nunmehr 46 Jahren unverstanden weil sie selbst nicht verstehen, daß in ihrem Staat eine teutonische Volksgruppe besteht, schwerblütig und in zurückgebliebenen Älpler-Traditionen verhaftet, die eine andere Sprache spricht und keine Spaghetti mag.

Dort müssen sie mit anschauen, wie die deutschsprachigen Südtiroler während der Fußballweltmeisterschaft die Niederlage Italiens gegen Nordkorea bejubeln, wie sie die asiatischen Fußballzwerge bis drei Uhr in der Frühe hochleben lassen und erwägen, ihnen ein Wein-Präsent zu übersenden.

»Italien«, so konstatierte der gescheite römische Journalist Indro Montanelli unter dem Wutgeheul seiner Landsleute, »hat in Südtirol zwei Fehler gemacht: den ersten, als es hingegangen, den zweiten, als es geblieben ist.«

Hingegangen sind die Italiener anno 1920. Die Südtiroler mußten den Tribut dafür zahlen, daß Österreich einen Weltkrieg auf der falschen Seite mitentfacht hatte: Das Land an Eisack und Etsch (die seitdem Isarco und Adige heißen) fiel an Italien - wenn auch erst nach einem Advokatentrick.

Vittorio Emmanuele Orlando, der Chef der italienischen Delegation auf der Friedenskonferenz von St. Germain, hatte den genialen Einfall. Mit Hilfe manipulierter Landkarten, auf denen alle Ortsnamen der Provinz Bozen nur in italienisch verzeichnet waren, verhinderte er eine gründliche Beratung, überzeugte die Siegermächte von der »Italianità« Südtirols und luchste ihnen das Land südlich des Brenner ab.

Als Amerikas Präsident Woodrow Wilson von Orlandos Trick erfuhr, war es für eine Änderung zu spät. Wilson tröstete sich: »Die deutschen Tiroler sind ein herzhaftes Volk, und ich hege keinen Zweifel daran, daß sie selbst imstande sein werden, das zu ändern.«

Doch die »herzhaften deutschen Tiroler« hatten vorerst keine Gelegenheit, etwas zu ändern. »Sorgfältig und liebevoll«, wie nach St. Germain versprochen, regelte Rom alle Probleme - indem es immer mehr Italiener in Südtirol ansiedelte und seinerseits den Volkstumskampf predigte.

Mussolinis Faschisten marschierten nicht nur auf Rom, sondern auch zum Brenner. Am 12. Juli 1928 weihten sie in Bozen ihr Siegesdenkmal ein - ausgerechnet an jenem Platz, den die Tiroler für die Ehrung ihrer im Kampf gegen Italien gefallenen Kaiserjäger vorgesehen hatten. »Eine größere Demütigung«, so klagten jetzt die »Südtiroler Nachrichten« des Südtiroler Parlamentsabgeordneten Hans Dietl, »konnte den Südtirolern kaum angetan werden.«

1910 lebten nur 7000 Italiener in Südtirol, 1939 waren es bereits 81 000. Und ihr Anteil an der Bevölkerung wuchs weiter. Denn mit Adolf Hitler vereinbarte Mussolini 1939 ein »Umsiedlungsabkommen«, das den deutschsprachigen Südtirolern die Wahl zwischen »Heimkehr ins Reich« und Verlust ihres Volkstums freistellte. 213 000 Südtiroler (86 Prozent) stimmten für die Auswanderung; bis 1943 hatten rund 70 000 ihre Heimat verlassen.

Im Zweiten Weltkrieg standen die Österreicher zum zweitenmal auf der falschen Seite, und die Südtiroler zahlten 1946 zum zweitenmal Tribut: Ihr Land blieb bei Italien. Vergebens unterschrieben 158 628 Südtiroler eine Denkschrift, die am 22. April 1946 dem Wiener Kanzler Figl verriet: »Es ist unser unerschütterlicher Wunsch und Wille, daß unser Heimatland Südtirol ... mit Nordtirol und Österreich wiedervereinigt werde.«

Immerhin schlossen Wiens Außenminister Gruber und Roms Premier de Gasperi auf britisches Betreiben am 5. September 1946 in Paris ein 50-Zeilen -Abkommen: Die ausgewanderten Südtiroler durften zurückkehren, und den deutschsprachigen Einwohnern wurde »volle Gleichberechtigung mit den italienisch-sprachigen Einwohnern im Rahmen besonderer Maßnahmen zum Schutze des Volkscharakters und der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des deutschsprachigen Bevölkerungsteiles« zugesichert.

Des demokratischen Italiens erste »besondere Maßnahme zum Schutze des Volkscharakters« war kaum geeignet, angeborenes Mißtrauen abzubauen: 1948 vereinigte Rom die Provinzen Bozen und Trient, 232 000 Südtiroler werden heute in der neuen Region »Trentino/ Alto Adige« von mehr als einer halben Million Italiener in allen entscheidenden Fragen majorisiert.

Der Pariser Vertrag verspricht die »Gleichstellung der deutschen und italienischen Sprache in den öffentlichen Ämtern und amtlichen Urkunden«. Aber Italienisch ist die Amtssprache. Wer einen romanischen Polizisten oder Postbeamten auf deutsch anspricht, dem widerfährt ähnliches wie dem Porsche -Fahrer Dr. Gamper. Es sei denn, er kommt als Tourist, mit deutschen Autokennzeichen und mit Devisen.

Die Vernehmungsprotokolle der Polizei werden auf italienisch geschrieben - auch wenn der Vernommene kein Wort versteht. Nicht jeder ist so gewitzt wie ein junger Mann aus Bozen, der vor seinen Namen die Buchstaben »u. V.« (unter Vorbehalt) setzte. Für die Gendarmen sah das aus wie die Abkürzung weiterer Vornamen, für ihn war es die einzige Chance, das unverstandene Protokoll mit Hilfe eines Anwalts anzufechten.

Die Krankenblätter und Krankengeschichten der Hospitäler werden ebenfalls auf italienisch geschrieben - auch wenn der behandelnde Arzt und sein Patient zur deutschen Sprachengruppe gehören. Der italienische Arzt, in dessen Krankenhaus zwar zahlreiche Südtiroler Patienten liegen, in dem aber die Pfleger und 26 von 30 Ärzten nur Italienisch sprechen, verlangt es so. In den Abschlußklassen der Gymnasien, Lyzeen und höheren Lehranstalten sitzen doppelt so viele italienische wie Südtiroler Kinder, obwohl die italienische Jugend nur halb so stark ist wie die deutschsprachige. Vielleicht ist sie begabter - aber im ganzen Eisacktal gibt es für den Südtiroler Nachwuchs keine einzige höhere Lehranstalt, für die italienischen Kinder hingegen wurde in Sterzing ein Gymnasium gebaut - mit zwei Klassen zu je fünf Eleven.

Industriebetriebe dürfen in bestimmten Größenordnungen nur mit Zustimmung der italienischen Regierung errichtet werden - und so fehlen den Südtirolern mittlere Industriebetriebe. Die Italiener dagegen errichteten unrentable Zweigniederlassungen, wie das Lancia -Werk in Bozen, weil sie auf diese Art italienische Arbeiter ins Land bringen und so ihren Bevölkerungsanteil in Bozen auf 80 Prozent steigern konnten,

Und macht ein Südtiroler Bauer auf dem Bahnhof von Brixen seinem geblähten Leibe Luft, so wird er wegen »Beleidigung und Schmähung der italienischen Streitkräfte« ins Gefängnis geschickt, weil zwei Alpini-Soldaten in der Nähe standen und sich angesprochen fühlten.

Die Südtiroler haben sich gegen solche Behandlung gewehrt. Anfangs mit lautstarken. Versammlungen, auf denen, wie 1957 auf Schloß Sigmundskron, mehr als 30 000 Menschen - Bauern und Beamte, Hausfrauen und Händler - die volle Autonomie für ihre Provinz forderten. Und damit, daß sie sich um das Edelweiß-Symbol der SVP scharten, die als Einheitspartei ihre Interessen wahren sollte.

Später mit papiernen Protesten unterstützt von der schwarz-roten Regierung in Wien, oder indem sie - wie der Gastronom Brandtner in Bozen - die italienische Bezeichnung »Albergo« an ihrem Hotel übertunchten (und dafür ins Gefängnis wanderten).

Dann schließlich mit Dynamit und Pistolen. Gottesfürchtig und rauflustig. wie ihre Vorfahren unter Führung des legendären Gastwirts Andreas Hofer gegen Napoleon und die Bayern fochten, sprengten die »Bumser« innerhalb

von vier Jahren 103 Hochgpannungsmasten, verübten 38 Bombenanschläge auf italienische Industrieanlagen. Wohnhäuser und Denkmäler, so auch auf den Aluminium-Duce, ein Reiterstandbild Mussolinis in Waidbruck, und 13 Feuerüberfälle auf Carabinieri und Finanzieri. Auch ihr Held fiel: Das Andreas-Hofer-Denkmal auf dem Berg Isel bei Innsbruck wurde gesprengt - wie sie behaupten, von Italienern.

Denn die sahen in jedem Protest, in jeder Explosion einen Beweis dafür, daß es den Südtirolern gar nicht um die Autonomie gehe, sondern um die Loslösung von Italien.

Die Südtiroler, so schien es ihnen, wollten immer noch »Heim ins Reich«. Und wenn ein deutschsprachiger Mittelschullehrer abends in einem Restaurant der Bozener Altstadt deutsche Journalisten beim Arm packt und sich ereifert: »Deutsch san mir, deutsch, deutsch! Das müssen Sie schreiben!«, dann werden Schlagworte wie Pangermanismus, Neonazismus, Großdeutsches Reich oder Alpenfreistaat beinahe verständlich. Dr. Egmont Jenny freilich, Chef der oppositionellen »Sozialen Fortschrittspartei«, erregt sich: »Wenn man an der Drususbrücke die faschistischen Adler und Hoheitszeichen sieht oder hinter der Talferbrücke: das Siegesdenkmal aus 20 Meter hohen Liktorenbündeln, wenn man dem Faschismus hier selbst Tag für Tag begegnet, dann kommen uns, ehrlich gesagt, Zweifel an der Aufrichtigkeit dieser Vorwürfe, dann wirken sie lächerlich.«

Die Italiener haben zurückgeschossen. Denn für sie ist die Provinz Bozen nicht nur wegen der strategisch unübertrefflichen Brennergrenze so wichtig. Für sie ist Südtirol auch ein wirtschaftlicher Faktor, mit dem sich gut rechnen läßt. Ganze 0,5 Prozent des italienischen Weines bauen die Südtiroler an, ihr Anteil am italienischen Weinexport aber liegt bei 24 Prozent. Millionen fließen jährlich aus dem Südtiroler Fremdenverkehr in die römische Staatsschatulle, und vor allem: Aus den Bergwässern Südtirols kommen zwölf Prozent der gesamten italienischen Energie.

Zwei italienische Divisionen zogen zum Kampf gegen die »Bumser« nach Norden, verbarrikadierten sich mit Sandsäcken und Stacheldraht, lauerten mit entsicherten Gewehren auf verdächtige Bewegungen und Laute, schossen auf Tiere, Schatten und eigene Kameraden. Sie kamen aus Apulien, Kalabrien und Sardinien und wußten nicht, daß Gletscher knacken - bis ihr Kommandeur sie Nacht für Nacht in ihren Unterkünften einsperrte, weil sie nach jedem Gletschergeräusch minutenlang das Sperrfeuer auf die Eismassen eröffnet hatten.

Sie verhaften, wo immer sich ein Verdächtiger regt. Der junge Konrad Auer zum Beispiel, 19 Jahre alt; vom Unterkehrerhof in Kehren bei Pfalzen, war im August zum Wildern ausgezogen, wie es alle tun, die da oben im Pustertal wohnen, wo die Zufahrtstraße plötzlich im Geröll endet, wo nur des Tischlers Haus nicht so verfallen ist, daß er verschüchtert wagt, das Schild mit der Aufschrift »Zimmer« anzubringen - in der vagen Hoffnung, daß sich vielleicht doch einmal ein Tourist ohne Angst um seine Auto-Federn dorthin verirrt.

Konrad wurde mit seiner Wilderer -Büchse erwischt, und bei der Haussuchung entdeckten die Carabinieri drei weitere Büchsen unter dem Fußboden: Jagdgewehre. Sie wurden konfisziert - und mitgenommen wurde auch Konrads Bruder Paul, 23.

Drei Tage blieb Paul im Gefängnis von Bruneck, hörte aus dem Nachbarraum die Schreie seines jüngeren Bruders. Die Carabinieri suchten ihn einzuschüchtern - »Das passiert schon mal, daß plötzlich im Vernehmungsraum ein Wasserrohr platzt« -, er versprach schließlich, auszupacken und ihnen ein geheimes Waffenlager zu zeigen.

Zu Fuß, an einen Carabiniere gefesselt, ging's hinauf in die Berge. Vor einem Felsspalt blieb Paul Auer stehen. »Dort drüben ist es, aber zusammengebunden können wir da kaum 'rüberspringen. Ihr müßt's mich schon losbinden.« Die Carabinieri banden ihn los und zogen ihm zur Sicherheit auch die Schuhe aus, um eine Flucht zu verhindern. Paul sprang - und meldete sich drei Tage später bei der Polizei im österreichischen Lienz. Barfuß hatte er sich nachts 40 Kilometer weit durch die Berge gequält.

Carabinieri und Questurini wachen eifersüchtig darüber, daß die Konkurrenz nicht zuviel aufdeckt. Als Carabinieri in Bozen ein Sprengstoffpaket gefunden hatten, rückten noch am selben Tag Quästur-Beamte mit Suchspiegeln im »Café Mohren« in der Bozener Museumstraße an und zauberten aus einem Toilettenschacht ein Dynamitpaket hervor. Ein Journalist stand dabei, als die Questurini auf der Wache frohlockten: Jetzt steht es eins zu eins.«

Lehnten Verdächtige ein Geständnis ab, so wurden sie häufig nach mittelalterlicher Manier gefoltert - mit der berüchtigten Cassetta. Der Häftling wird mit zurückgebogenem Kopf auf ein Holzgerüst gebunden. Über sein Gesicht stülpen die Folterknechte eine Gasmaske, durch deren Mundstück sie Salzwasser rinnen lassen, bis der Leib des Häftlings zu einem Ballon angeschwollen ist. Dann quetschen sie den Bauch zusammen, bis das Wasser wieder herauskommt, und fangen von vorn an. Die Glut ihrer Zigaretten drücken sie am nackten Körper des Häftlings aus.

Zehn italienische Polizisten wurden 1963 wegen solcher Foltermethoden angeklagt. Acht sprach ein Mailänder Gericht frei, die beiden anderen fielen unter eine inzwischen erlassene Amnestie.

Südtiroler kamen nicht so glimpflich davon. In zwei Mailänder Terroristen -Prozessen, 1963/64 und 1966, wurden 148 Personen angeklagt - und rund 50 erhielten vier bis 30 Jahre Gefängnis.

Doch die meisten Angeklagten waren flüchtig. Nur verstohlen wagen sie sich heute bei Nacht in ihre Heimat, wo jeder Carabiniere ihren Steckbrief kennt

Die ursprüngliche »Bumser«-Organisation BAS ist zersprengt, heute sprengen, morden und schießen fanatische Einzelgänger, die jede Annäherung zwischen Südtirolern und Italienern verhindern wollen, verwirrte Jugendliche, von rechtsradikalen Ideen infiziert, die ihnen nicht nur aus Deutschlands NPD oder Österreichs FPÖ, sondern auch von Italiens Neofaschisten zufließen.

Wie »Schmeißfliegen auf einer eitrigen Wunde« (so Dr. Jenny zum SPIEGEL) tummeln sie sich in Südtirol, um eine eigene Ideenwelt durchzusetzen, die mit den Interessen Südtirols nichts mehr gemein hat. Südtirol, so scheint es, ist zum Schuttabladeplatz für Ideologien geworden, die anderswo nicht mehr gedeihen.

»Die Bimserei«, so versichert aber Rechtsanwalt Dr. Gartner, Parteiausschußmitglied der SVP, der in Mailand die »Bumser« vor Gericht verteidigte, »hat das Südtirol-Problem immerhin vor die Uno und uns dahin gebracht, wo wir heute stehen.«

Sie stehen heute da, wo sie vor zwanzig Jahren auch standen, angewiesen auf den guten Willen der Italiener, die jede Konzession nicht als Pflicht aus dem Pariser Abkommen von 1946 ansehen, sondern als freiwilliges innerstaatliches Geschenk.

Sie stehen da als Nachbarn und Schutzbefohlene Österreichs, dessen nur noch schwarze Regierung »müde geworden ist« (so der Südtiroler Assessor für Landwirtschaft, Dr. Peter Brugger) und das Südtirol-Problem ohne Rücksicht auf Verluste möglichst schnell aus der Welt schaffen möchte.

Sie stehen da als ethnische, aber schon lange nicht mehr als politische Einheit.

Denn zusammen mit den Österreichern sind auch ihre Führer müde geworden. Fünf Jahre lang haben sie jede Vereinbarung zwischen Österreich und Italien abgelehnt, immer war es ihnen

so das Südtiroler Motto - »zu wenig, zu spät«.

Nun aber, nach Geheimverhandlungen zwischen den Außenministern Toncic -Sorinj und Fanfani, wollen die Italiener 115 Zugeständnisse machen - und die Südtiroler sollen so viel Entgegenkommen damit bezahlen, daß sie freiwillig auf eine internationale Verankerung des »Pakets« verzichten. SVP-Chef Dr. Silvius Magnago glaubt, dies sei Italiens letztes Angebot. Deshalb machte er das Paket zu seinem Paket, reiste nach Rom, um noch 14 Punkte zu »klären«, über ihre Ausdehnung zu feilschen, und drohte gegenüber Freunden sogar mit seinem Rücktritt, wenn die Südtiroler wieder ablehnten.

Landeshauptmann Magnago, der im Zweiten Weltkrieg als Gebirgsjägerleutnant der Deutschen Wehrmacht ein Bein verlor und den sie heute hinter der Hand den »Reserveherrgott für Südtirol« nennen, beschwört seine Landsleute, ihm zu folgen.

Der Pfarrer beschwört sie sonntags von der Kanzel, das Paket anzunehmen, denn von Magnago weiß er sich gut behandelt: Der Regionalhaushalt vergibt in Artikel 27 elf Millionen Lire für »Instandsetzung, Ausrüstung und Einrichtung von Bibliotheken, Ausstellungssälen, Museen und anderer Räume, die für kulturelle Tätigkeit bestimmt sind«. 5,4 Millionen Lire, 15 von 28 Positionen verzeichnen kirchliche Organisationen als Empfänger.

Und auch der Bischof Gargitter in Brixen beschwört seine Landsleute, das Paket anzunehmen.

Doch die Tiroler sind ein »herzhaftes Volk«, sie wollen sich nicht wieder wie schon mehrfach seit 46 Jahren mit Versprechungen abspeisen lassen, die Italien nach eigenem Ermessen

auslegen kann. Sie verlangen eine Garantie, daß Rom diese Versprechen einhält - und sie verlangen, daß ihre politischen Führer diese juristische Garantie durchsetzen.

»Die Südtiroler haben es wahrlich schwer«, sinnierte Österreichs Bruno Kreisky, »schwer mit den Italienern, aber auch nicht leicht mit ihren eigenen Führern.«

Denn vor zwei Jahren haben diese ein Abkommen abgelehnt, in das eine solche juristische Garantie eingebaut war. Sie haben es abgelehnt, weil es nicht 115 Zugeständnisse bot, sondern ein paar weniger, vor allem aber, weil die Vereinbarung von zwei Sozialisten ausgearbeitet war, den Außenministern Kreisky und Saragat. Sollte man den Roten den Triumph gönnen, Südtirol befriedet zu haben? Dann lieber etwas weniger, aber christlich muß es sein.

Nun müssen sich die herzhaften Tiroler nicht mehr nur mit den Italienern raufen, die Ihren Reserveherrgott von seiner »Klärungs-Mission« mit leeren Händen nach Bozen zurückschickten, nun raufen sie sich untereinander. Denn sie sind ein kleines Volk, und jeder sachliche Gegensatz wird persönlich genommen.

So persönlich, daß sie den Parlamentarier Hans Dietl, einen gewiß frommen Katholiken mit zwölf Kindern, der anders als der Bischof und Magnago juristische Garantien von Italien fordert, in ihrer Presse anprangerten, weil er sich im zweiten Mailänder Prozeß von jenem Dottore Fortuna verteidigen ließ, der im katholischen Italien ketzerische Ehescheidungsgesetze verficht.

So persönlich, daß sie den Dr. Egmont Jenny, einen von Tirolern und Italienern gleichermaßen geschätzten Facharzt für Urologie, aus der SVP ausschlossen, weil er rosa Ideen ins schwarze Land tragen wollte. Der Bischof von Brixen verbreitete einen Hirtenbrief gegen Jennys Bewegung, »ohne daß ich expressis verbis genannt worden wäre« (Jenny). Der Arzt, 42, gründete eine neue Partei und fordert ebenfalls juristische Garantien.

Die Südtiroler nehmen ihre Gegensätze aber auch so persönlich, daß sie drohen, sich nicht mehr um das traditionelle Edelweiß zu scharen, sondern die SVP zu sprengen, wenn der Dr. Magnago jetzt ein Abkommen durchpeitschen will, das ihnen nur Versprechungen bietet, aber keine Garantien.

Denn sie sind, fürwahr, mißtrauisch, die herzhaften Tiroler.

Italienische Polizisten in Südtirol: Zwischen Brenner und Salurn ...

... ein Abgrund von Angst: Südtiroler Demonstranten*

Mussolini-Siegestor in Bozen*

Auf dem Ehrenplatz der Kaiserjäger ...

Tiroler Mahn-Plakat bei Innsbruck

... ein Denkmal des Faschismus

Italiener-Wohnblocks in Bozen: Besondere Maßnahmen ...

... zum Schutz des Volkscharakters?: Südtiroler Bauern

Gesprengter Hofer auf dem Berg Isel

»Jetzt steht es...

Gesprengter Mussolini in Waidbruck

... eins zu eins«

Carabinieri-Patrouille im Posseiertal

»Unter Vorbehalt«

Kriegsopfer-Demonstration in Bozen*: Auf Gletscher wird geschossen

Mailänder Südtirol-Prozeß (1963): »Die deutschen Tiroler sind ein herzhaftes Volk« Simplicissimus

»Eine Schachtel Zündhölzer, bitte«

* Am Rednerpult Dr. Sllvius Magnago, Südtiroler Landeshauptmann und Partelobmann der SVP.

* Inschrift: »Hier ist die Grenze des Vaterlandes! Setzet die Zeichen! Von hier aus haben wir die übrige Welt kultiviert durch Sprache, Gesetz und Kunst.«

* Ehemalige Angehörige der deutschen Wehrmacht fordern höhere Renten vom italienischen Staat.

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