Werden die Deutschen wieder eine Gefahr für Europa? Auf diese Frage gibt es in Deutschland zwei schnelle, typische Antworten. Die eine ist schmetternd: Nach über 40 Jahren gelungener Demokratie ist schon Zweifel eine Frechheit.
Die andere kommt selbstquälerisch daher. Die ganze deutsche Geschichte, jedenfalls die seit 1866 und der Reichsgründung von 1871, wird als Vorgeschichte des Jahres 1933 mißdeutet, als unausweichlicher Marsch in die faschistische Brutalität. Beide Antworten greifen zu kurz.
Gleichwohl sind die Sorgen der Nachbarn, selbst wenn sie unberechtigt wären, ein Faktum, das selbst wieder Politik in Gang setzt. Und aus unserer machtgeographisch gefährlichvertrackten Mittellage kommen wir nicht heraus.
Die deutsche Vereinigung ist die zweite im Laufe von 120 Jahren. Was kann Europa aus der ersten für die zweite lernen?
Die Abkoppelung der nationalen Einheits- und Machtideale von den liberalen Freiheitsidealen vollzog sich ja nicht sprunghaft, sondern in einem 40jährigen Prozeß. Der Rechtsnationalismus setzte sich bei den bürgerlichen, bäuerlichen Massen, die zuerst einmal unpolitisch oder regional und dynastisch loyal gewesen waren, nicht von heute auf morgen durch. Der Historiker Thomas Nipperdey hat diese Bewegung eines »langsam sich nach rechts verschiebenden Nationalismus« geschildert.
Was wir heute »Wilhelminismus« nennen, ein modern-cäsaristisches Imperial-Kaisertum, setzte sich erst nach 1890 durch. Erst dann wurden die 700 Bismarcktürme und -säulen auf die Bergrücken des protestantischen Deutschland gestellt. Erst dann begann der große Einfluß der Alldeutschen, der Fichte-Bünde, des Flotten- und Ostmarkenvereins.
Wann, so müßte man zum Beispiel im Interesse der CDU/CSU, der großen liberal-konservativen Union des heutigen Deutschland, fragen, reichte der Liberalismus der National-Liberalen nicht mehr aus, Wähler und soziale Gruppen zu integrieren? Wann gewann die nationale Programmatik die integrative Funktion? Wann spürten das die Schäubles und Stoibers von damals und warfen das Ruder herum? Wann - und wie? - entwickelte sich aus dem »Mitte-Auftrag«, den die Deutschen bekommen zu haben glaubten, die aggressive Verdrängungspolitik zwischen Deutschen und Polen? Das geteilte Land wiedervereinigt, der Nationalstaat halb und halb rehabilitiert, die europäische Idee am Boden, die Amerikaner von der notdürftigen Reparatur ihrer Infrastruktur in Anspruch genommen, die Russen in der großen Krise - da liegt es nahe, daß die Sinnvermittler auf das Nationale zurückkommen.
Nationalismus ist, wie der Tscheche Miroslav Hroch gezeigt hat, in den Entstehungsphasen immer ein Produkt kleinbürgerlicher Intellektueller. Werden sie die in der alten Westrepublik nie ganz durchgesetzten, aufklärerischen Leitideen (Verfassungspatriotismus, zivile Gesellschaft) durch eine nationale Kulturidee ersetzen?
Dieser Versuch ist, natürlich, seit 1989 im Gange. Man kann auch jetzt, wie es Nipperdey bei seiner Analyse des Nationalismus für die Zeit der ersten deutschen Vereinigung gezeigt hat, speziell seit 1890, drei Haupttypen unterscheiden: durchschnittlicher Normal-Patriotismus, Normal-Nationalismus, Radikal-Nationalismus.
Der »Normal-Patriotismus« setzt auf Wir-Gefühle, Zusammengehörigkeitsstrukturen: »Die Nation ist Heimat, man liebt sie, man bangt um sie.« Wenn der Chefredakteur der liberalen Zeit eine Patriotismus-Serie beginnt, ist er diesem Denkmuster genauso verpflichtet wie der ostdeutsche Sozialdemokrat Wolfgang Thierse, der davor warnt, das Stadium des Nationalstaates zu »überspringen«, und Helmut Kohl, der ein Zwischenglied zwischen seinem pfälzischen Föderalismus und seiner europäischen Vision sucht, um den rechten Teil seiner Klientel ruhigzustellen.
Der Normal-Patriotismus verwischt Partikular-Geschichten (wie zum Beispiel die bayerische), ist in der Gefahr, in einen gemäßigten (Berliner) Zentralismus zu verfallen, und schwelgt gelegentlich ein wenig zu opulent in Schwarz-Rot-Gold, zum Beispiel bei geschichtspolitischen Projekten (Geschichts-Museen). Gefährlich aber oder auch nur vermeidbar ist eine solche Haltung nicht.
Den »Normal-Nationalismus« des wilhelminischen Reiches muß man heute als »Normalisierungs-Nationalismus« kennzeichnen: Die These unserer Zeitgenossen ist ja, daß Deutschland die »Normalität« des Nationalen verloren habe und zurückgewinnen müsse. In der ersten Vereinigung gehörten zum Normal-Nationalismus nationale Feste, Rituale, Mythen und Symbole, ein gesteigerter Anspruch der Unterwerfung gegenüber Minderheiten (vor allem den Polen) und das Anti-Parteien-Pathos »das Vaterland über die Partei«.
Wir stehen noch nicht im Jahr 1890, die Wiedervereinigung wurde erst vor dreieinhalb Jahren vollzogen. Aber erste Elemente dieser geistigen Strömungen sind erkennbar, so im theatralischen Machtpathos des bedeutendsten deutschen Zeithistorikers, Arnulf Baring, in der vorsichtigen, aber höchst wirksamen Rehabilitierung Carl Schmitts durch den langjährigen Chef des mächtigsten deutschen Feuilletons, Joachim Fest, aber auch in den Ideen jüngerer Leute, so der »Deutschland zuerst«-Rhetorik Brigitte Seebacher-Brandts oder der deutschen Mitte-Ideologie der Truppe um den Feuilletonchef der Welt, Rainer Zitelmann.
Der »Radikal-Nationalismus«, nach der ersten Vereinigung stark ab 1894, abenteuerlich und dominierend ab 1909, ist im Deutschland von heute noch ein dünnes Rinnsal. Massenorganisationen wie den Alldeutschen Verband oder die imperialistischen Vereine, zum Beispiel den Flottenverein, gibt es nicht; ob sich einzelne Vertriebenenverbände zu Kernen solcher Machtgruppen entwickeln, ist offen.
Die Kulturkritiker, die damals das Bildungsbürgertum aufrührten, sind zwar längst wirksam: zum Beispiel Botho Strauß, Hans Jürgen Syberberg, Karl Heinz Bohrer. Aber sie sind weder so verstiegen noch so erfolgreich wie Paul de Lagarde oder Julius Langbehn; eine völkische Bewegung von Rassegläubigen (Houston Stewart Chamberlain) ist nach dem Massenmord Hitlers an den Juden nicht denkbar. Aber es gibt wieder eine intellektuell ernst zu nehmende und vielfältige Rechte, so zum Beispiel einen »tragischen« Nationalkonservativismus (Armin Mohler, Ernst Nolte); einen harten, wenn auch nur auf Minderheiten wirkenden Nationalimperialismus (Hans-Dietrich Sander); einen völkischen Nationalismus (zum Beispiel Robert Hepp) und sogar einen grün schillernden Volksnationalismus, zum Beispiel bei dem nach Dänemark ausgewichenen Henning Eichberg oder dem lange Zeit höchst prominenten Friedensforscher (und Grünen-Bundestagsabgeordneten) Alfred Mechtersheimer.
Ob diese Tendenzen - die inzwischen ein erfolgreiches, wenngleich elitäres Publikationssystem aufgebaut haben - eine Episode bleiben oder ob sie einmal zuerst die Zuträger der Macht und später die Mächtigen beeinflussen, ist offen. Es hängt von den Gegenkräften ab, dem liberalen Konservativismus und der Linken.
Angesichts dieser Lage ist es alarmierend, daß die CDU/ CSU heute erkennbar in der Situation der National-Liberalen um 1879 ist; der wirtschaftsliberale und christlich-soziale Impuls hält die Wählerschaft der Union nicht mehr zusammen, man muß national zulegen. Es wäre abwegig, den badischen Föderalisten Schäuble oder den bayerischen Föderalisten Stoiber als »Nationalisten« abzukanzeln; sie sind die beamteten Strategen, denen die Aufgabe zufällt, ihre Parteien zusammenzuhalten.
Sie meinen zu spüren, daß das nur noch mit nationalkonservativem Geraune (Schäuble) oder antieuropäischem Populismus (Stoiber) ginge. Ob das Ziel, ihre Partei bei den gewohnten Ergebnissen zu halten, allerdings das Spiel mit dem Feuer rechtfertigt, darf man bezweifeln. Der demokratische Mechanismus erlaubt es nicht, die Stimmungen des eigenen Volkes links liegen zu lassen, weshalb es von entscheidender Bedeutung ist, welchen Stimmungen man Nahrung gibt. Die Lektion der deutschen Geschichte lautet, daß man ins Verhängnis stolpern kann, wenn man den Zeitpunkt verpaßt, zu dem man diesen Regelkreis sprengen muß. Schäuble und Stoiber stehen am Bruchpunkt.
Und die Linke? Ihr fehlt der Kontrapunkt und Gegenhalt im Kommunismus. Die Konjunktur des Marktradikalismus - freundlicher ausgedrückt: ein neuer Schwung wirtschaftsliberaler Ideen - beunruhigt sie; die Politik der »dritten Wege« ist ohne Resonanz, und manche von ihnen haben sich aus schwer erklärlichen Gründen eine Art Kontaktschuld für den zusammengebrochenen Kommunismus aufreden lassen, wurden nervös und defensiv. Also entsteht gelegentlich der Eindruck peinlichen Schweigens, obwohl die meisten weiter reden.
Die letzten 50 Jahre waren in Deutschland vielleicht keine Epoche großer, wirkungsmächtiger Kunst, vergleichbar dem Abschnitt zwischen 1780 und 1830 oder dem frühen 20. Jahrhundert. Aber was es gab und was ein größeres, natürlich bürgerliches Publikum erreichte, stand eher in der aufklärerischen als der romantischen Tradition. Daran hat sich durch den Epochenbruch von 1989 bisher nichts geändert.
Die wirklich einflußreichen Großintellektuellen (Habermas, Graß, Kluge, auch Enzensberger) waren und sind nationalkritisch. Die Mehrzahl der Texte, die »die Nation« (wer immer das auch sei) kennt, kommen aus einer sozialrealistischen Schule (Brecht, Böll, Graß, Andersch und natürlich auch Walser, den man wegen ein paar normal-patriotischer Essays nicht plötzlich zur Rechten schlagen kann). Es gibt sogar eine Art national-kritischer Antisystemkunst mit einiger untergründiger Resonanz (vor allem Thomas Bernhard, aber auch Rolf Dieter Brinkmann und Hubert Fichte) und ein paar - wenn auch versprengte - Linke in der Populär-Kultur: Johannes Mario Simmel, Hans W. Geissendörfer, Marius Müller-Westernhagen.
Die Lage mag sich ändern: Unter dem Druck der Internationalisierung und Privatisierung des Mediensystems schreitet die Konzentration von Pressekonzernen, Filmhandel und privaten Fernsehstationen voran, und die Mogule (Leo Kirch, Berlusconi, Murdoch) sind natürlich konservativ. Ob sie ihre Programme allerdings der Nationalisierung öffnen oder nicht doch der gewinnträchtigen, grenzüberschreitenden, postnationalen amerikanischen Popularkultur verpflichtet bleiben, muß man abwarten. Hier liegt eine Chance für die Linke, wenn sie sie denn kapiert.
Es wird darauf ankommen, ob die durchaus europäisch orientierte Mehrheit der SPD den Mut faßt, eine Art »liberale Revolution« anzuzetteln, das heißt, ob sie den Kampf im Volk aufnimmt und eine neue europäische Bewegung aufbaut - oder ob sie beim Parlamenteln bleibt, beim verbalen Widerspruch gegen den neuen National-Konservativismus.
Eine Resolution ist eine Resolution ist eine Resolution. Eine bilinguale Schule, eine europäische Studentenverbindung, ein funktionierender Ausländerbeirat dagegen sind Biotope, Machtzentren, Handlungskerne. Die deutsche Sozialdemokratie ist heute stark genug, um dafür zu sorgen, daß die Radikalisierung und Dynamisierung des Nationalismus, wie sie nach der ersten Vereinigung stattfand, aufgehalten oder wenigstens kanalisiert wird. Dann muß sie aber dem in Massenparteien weit verbreiteten Harmoniestreben widerstehen und scheinheilige Friedensangebote (wir alle haben das Nationale unterbewertet) in den Wind schlagen.
Mit dem Nationalismus ist es wie mit manchen Drogen: Wer die erste Dosis intus hat, braucht bald eine stärkere. Wer in die Drift gerät, segelt hinab.
Nicht alle Parallelen zwischen der ersten und zweiten Vereinigung sind fragwürdig. Allerdings: Eine gewisse Skepsis gegenüber dem eigenen Charakter ist sympathisch, eine übertriebene Angst vor der Wiederholung der Geschichte neurotisch.
Die Mörder betreten die Bahnhofsgaststätte nicht immer durch die gleiche Tür. Die Nationalisierung Deutschlands, wie sie sich zwischen 1890 und 1914 vollzogen hat, ist diesmal zu verhindern. Umgekehrt gilt allerdings: Es gibt keine Garantie, daß sie verhindert wird - und Deutschland ist der weiche Bauch Europas. Wenn sich hier Koliken entwickeln, windet sich der ganze Kontinent. Y _(Glotz, 55, ist Publizist und ) _(SPD-Bundestagsabgeordneter. )
»Der radikale Nationalismus ist - noch - ein dünnes Rinnsal«
Glotz, 55, ist Publizist und SPD-Bundestagsabgeordneter.