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ERHARD »Deutschland zu regieren«

aus DER SPIEGEL 30/1963

Ludwig Erhard, leidenschaftlicher Verfechter des Kollegialprinzips, verließ am Freitag vergangener Woche die Bundeshauptstadt, um nach Adenauers Vorbild in der Obhut einer Doktorin - der Internistin Ingeborg Ansorge aus Bad Wiessee - am Tegernsee Kraft zu schöpfen und die Liste seines Kabinetts sowie sein Regierungsprogramm in einer Weise zu bedenken, die Adenauer einst den »Einsame Entschlüsse« - Vorwurf eintrug: allein.

CDU/CSU-Fraktionssekretär Rasner schickt sich in diese Adenauer-Imitation, mit der Erhard am Vorabend seines Amtsantritts manchen unerbetenen Ratgeber verblüfft: »Wir wünschen, daß Herr Erhard die Kabinettsbildung in voller Souveränität und voller Freiheit regelt.«

Erhard selbst: »Das wird einer der angestrengtesten Urlaube seit langem sein. Er ist für mich sehr ausgefüllt.«

Die Spitzen der Christlichen Unionspartei fühlen sich allerdings sicher, daß die Erhard-Kopie an das Adenauer -Original nicht heranreichen wird. Rasner: »Da ergeben sich ein paar Dinge automatisch. Chef der Fraktion ist Brentano; ohne den wird er (Erhard) ja wohl nicht verhandeln. Chef der Partei als Geschäftsführender Vorsitzender ist Herr Dufhues; mit dem wird er ja wohl verhandeln. Chef der CSU ist Franz -Josef Strauß; mit dem wird er ja wohl reden.«

Am Dienstag vorletzter Woche war im christdemokratischen Fraktionsvorstand dazu geraten worden, dem Kanzler-Präparanden mit Brentano, Dufhues und Strauß einen Kontrollrat beizuordnen. Ludwig Erhard fehlte in dieser Sitzung.

Um so leichter fällt es ihm nun, den drei Kontrolleuren auszuweichen und als verborgener Klausner mit sich allein Rat zu halten - einerseits »glücklich, daß ich dazu ausersehen bin ... Deutschland zu regieren«, andererseits noch nicht festgelegt, mit wem und wie er regieren will.

Noch nicht einmal über den Nachfolger in seinem eigenen Wirtschaftsressort ist Erhard sich bislang im klaren. Seinem Lieblingskandidaten für dieses Amt, dem Wirtschafts-Staatssekretär Ludger Westrick, der ihn ein Jahrzehnt lang um die Klippen seiner Sozialen Marktwirtschaft herumgelotst hat, fehlt in der CDU/CSU jegliche Resonanz.

Als Adenauer im Frühjahr 1959 versucht hatte, den nachdrängenden Kanzler-Anwärter Erhard in die Bundespräsidenten-Villa Hammerschmidt zu verbannen, hatte Adenauers Kabinettsprimus Schröder sich noch bemüht, dem Wirtschaftsminister den Wechsel ins Präsidentenamt mit dem Vorschlag zu erleichtern, Westrick werde sein - Erhards - Erbe im Wirtschaftsressort hüten. Heute findet sich außer Erhard niemand mehr bereit, dem Nichtparlamentarier Westrick das Ministeramt zu überlassen.

Westrick selber erkennt, wie gering seine Ministerchancen sind. Durch Rechtsgutachten hat er sich bestätigen lassen, daß er bis zum 70. Lebensjahr Staatssekretär bleiben darf - ohne freilich fest entschlossen zu sein, es zu bleiben.

Mehr Optimismus trägt der Exparlamentarier Fritz Hellwig zur Schau. Seine Amtszeit als hochdotierter Funktionär in der Luxemburger Montan -Behörde läuft am 14. September ab. Frühzeitig schon meldete sich Hellwig im Kanzleramt, um seinen Anspruch auf das Bonner Wirtschaftsressort zu bekunden. Aber sogar der für den Umzug in das Bundeshaus rüstende Adenauer fand für ihn keine Zeit.

Gleichwohl bewarb sich Hellwig bislang nicht um eine Wiederwahl in Luxemburg. Immer noch auf Erhards Ministersessel erpicht, fühlt er sich stark, weil der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ihn, den früheren Chef des Deutschen Industrieinstituts, an der Spitze des Wirtschaftsministeriums zu sehen wünscht.

Die Industrie möchte mit Hellwig den aussichtsreichsten Kandidaten, den Druckereibesitzer und Vorsitzenden des christlichen »Bundesarbeitskreises Mittelstand«, Kurt Schmücker, ausstechen.

Beide, Hellwig und Schmücker, sitzen im Bundesvorstand der CDU. Aber Schmücker, in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zweiter Mann nach Brentano, hat - anders als Hellwig - die Hinterbänkler hinter sich. Überdies gehörte Schmücker bei allen Konflikten zwischen Adenauer und dessen Nachfolger zur Sturmkompanie der Brigade Erhard und darf auf Dank und Anerkennung für solche Meriten rechnen.

Frei von Gefühlsregungen halten urbane Fraktionskollegen den Drucker Schmücker aus Löningen in Oldenburg allerdings für zu kleinkalibrig: Es fehle ihm an internationalen Erfahrungen, über die Hellwig und Westrick verfügten. Selbst die Reden für den Inlandsbedarf lasse er sich von einem Diplom -Volkswirt anfertigen.

Fraglich bleibt, wem Erhard sein Haus anvertrauen könnte, aus dem noch in diesem Herbst auch Westricks Staatssekretär-Kollege Professor Alfred Müller-Armack, Cheftheoretiker und Europa-Stratege, ausscheidet. Der Professor zieht sich auf seinen Kölner Lehrstuhl zurück und überwacht außerdem im Auftrage der Montan-Union den Verkauf der Ruhrkohle.

Nicht zuletzt der bevorstehende Abgang Müller-Armacks hat Erhards Brigadiers auf den Gedanken gebracht, ihr Kapitän müsse, wie einst Adenauer das Außenministerium, als Kanzler das Wirtschaftsministerium in Personalunion verwalten.

Indessen wiegen Schmückers - in Erhards Kampfzeit wohlerworbene - Anwartschaftsrechte auf das Wirtschaftsministerium so schwer, daß die Fraktion ihn mit dem Fraktionsvorsitz entschädigen müßte, falls sich Neukanzler Erhard nicht von seinem alten Amt lösen mag.

Doch spricht vorläufig nichts dafür, daß Fraktionsvorsitzender Heinrich von Brentano sich mit einem Europa-Ministerium in das Kabinett zurücklocken ließe.

Erhard lehnte jenes europäische Projekt schon 1957 ab, als die Idee erstmals umlief und der CDU-Außenpolitiker Kurt Georg Kiesinger, heute Ministerpräsident in Stuttgart, auf diesen Job reflektierte. Zusammen mit dem damaligen Außenminister von Brentano sorgte Erhard sich zu jener Zeit, ein Europa-Ministerium würde beide Ressorts, das Wirtschafts- und das Außenministerium, halbieren.

Heute stellt sich außer Erhard vor allem Außenamts-Nachfolger Schröder dagegen - mit Brentanos Argumenten aus dem Jahre 1957.

An der Einheitsfront von Wirtschafts - und Außenministerium scheitern auch die Absichten des Entwicklungsministers Walter Scheel (FDP), der seine Betreuungsstelle für farbige Völker zu einem kompakten Außenhandelsministerium entwickeln möchte.

Ein autonomes Außenhandels-Ressort würde sich die handelspolitische Abteilung des Außenamtes und die Außenwirtschaftsabteilung des Wirtschaftsministeriums einverleiben. Dabei käme zum Vorschein, daß diese beiden Abteilungen schon seit Jahr und Tag auf ein und demselben Aufgabengebiet nebeneinanderher Doppelarbeit leisten. Schon deshalb sträuben sich die beiden rivalisierenden Häuser gegen Scheels Plan.

Dazu kommt noch die Besorgnis, daß

- selbst wenn ein selbständiges Außenhandelsministerium zustande käme - die Altministerien ihre jeweils einschlägigen Abteilungen beibehalten würden, so daß sich am Ende auf ein und demselben Arbeitsfeld nun drei Instanzen drängten.

Doch darf Scheel der Existenz seines Ministeriums sicher sein, obwohl er persönlich neben seinem freidemokratischen Kabinettskollegen Wolfgang Mischnick auf der partei-internen Kompensationsliste für den Tag vorgemerkt ist, da FDP-Führer Erich Mende endlich ins Kabinett einrückt. Scheels Entwicklungs-Ressort, für die Amerikaner zumindest ein Augentrost, bleibt aus eben diesem außenpolitischen Grund für den neuen Kanzler Erhard unentbehrlich.

Mischnicks Vertriebenen-Ressort aber, im Gegensatz zu dem Gesamtdeutschen Bundesministerium des CDU-Barzel mit konkreten Verwaltungsaufgaben befaßt, droht der Untergang, da das gesamtdeutsche Portefeuille, ebenfalls der politischen Optik wegen, auf Erhards Kabinettsliste nicht fehlen darf.

Der gesamtdeutsche Firmenmantel soll mit regulärer Verwaltungsarbeit ausgestopft werden, und zwar dadurch, daß die Sachaufgaben des Vertriebenenministeriums mit den gesamtdeutschen Volksaufklärungs-Versuchen in einem Hause kombiniert werden.

Barzels Amtsvorgänger Ernst Lemmer macht sich Hoffnungen, als Chef dieses Behörden-Kombinats reaktiviert zu werden. Nachdem Kanzler Adenauer Lemmer im Dezember vorigen Jahres rüde weggeschickt und durch Barzel ersetzt hatte, schrieb Ludwig Erhard dem abgehalfterten Berliner Veteranen, er bedaure den schnöden Undank.

Weil Erhard nun bei Unterhaltungen aufs neue seinen Namen genannt hat, hofft Lemmer jetzt, nicht nur FDP -Mischnick, sondern auch CDU-Barzel werde ihm zuliebe den Platz räumen.

Lemmer: »Ich bin nur Objekt, in keiner Weise Handelnder.« Aber: »Ich will nicht wieder ein reines Propagandaministerium; der ganze Komplex der Kriegsfolgelasten muß hinzukommen.«

Diese Fusion des Gesamtdeutschen mit dem Vertriebenen-Ministerium, der FDP-Minister Mischnick auf jeden Fall zum Opfer fallen würde, stand im Bundestagswahlkampf 1961 - bis zum Bau der Berliner Mauer - auf dem Programm der Freien Demokraten. Mischnick heute: »Ich bin durchaus bereit, meinen Platz im Kabinett zu räumen und mich mehr um die Parteiarbeit zu kümmern.«

Tatsächlich halten die Freidemokraten den Vorsitz in ihrer Bundestagsfraktion für Mischnick frei, sobald Mende ihn abgibt, um im Bundeskabinett der Vize Erhards (Mende: »Der Mann mit dem Biomalz-Gesicht") zu werden. Die Vizekanzlerschaft allein, ohne handfeste Ressortbefugnisse, genügt Mendes liberalen Mit- und Gegenspielern aber noch nicht.

Schon auf dem FDP-Parteitag Anfang Juli in München verlangten die Delegierten, ihrem Anführer müßten außer den Repräsentationsübungen des Vizekanzlers auch noch ernsthafte Aufgaben übertragen werden. Daß die bloße Proklamation zum Vizekanzler keinen rechten Inhalt hat, wissen die FDP-Führer aus den Erfahrungen, die Erhard in sechs Jahren mit diesem Titel sammelte.

Bereits 1960 hatte Erhard dem Kanzler Adenauer die Dürftigkeit der Vizekanzler-Pflichten zum Vorwurf gemacht: Ob denn nicht Herr Wuermeling (damals Familienminister) ihm die lästige Unterschriftenroutine abnehmen könne. Adenauer replizierte: »Na gut, Herr Erhard, dann machen wir eben Herrn Wuermeling zum Vizekanzler.«

Der in München neugewählte Mende -Stellvertreter im Parteivorsitz, Nordrhein-Westfalens Innenminister Willi Weyer, gab den Wünschen des Parteitages für Mendes Regierungstätigkeit einen festen Umriß. Seinem Düsseldorfer CDU-Ministerpräsidenten Meyers steckte er am Freitag vorletzter Woche bei einem Empfang auf Schloß Brühl zu nächtlicher Stunde, Mende sollte nicht nur Vizekanzler, sondern zugleich auch Bundesinnenminister werden.

Weyers Kalkulation ist nicht schwer zu durchschauen. Durch die Arbeit im Innenressort an den Ministerschreibtisch gebunden, würde Mende kaum noch Zeit für die Parteiführung finden. Für Weyer, der sich dem Parteitag in München bereits als Parteimanager empfahl, wäre der Weg zur Partei -Spitze dann frei. Weyer ging auch mit seiner Gewißheit hausieren, dem Parteifreund Mende mit dessen Entlastung vom Parteivorsitz einen Dienst zu erweisen. Weyer zur Hamburger »Zeit": »Erich Mende fühlt sich in seiner Rolle, die er in den letzten Monaten und Jahren spielen mußte, nicht wohl.«

Auf der anderen Seite denkt Weyer nicht daran, gegen das für Mende begehrte Innenministerium eines der beiden Schlüsselministerien einzutauschen, in denen die FDP-Minister Bucher (Justiz) und Dahlgrün (Finanzen) residieren: »Wir haben Anspruch auf drei klassische Ressorts.« Denn: »Die CDU stellt immerhin den Bundeskanzler und hat das Außen-, Verteidigungs- und Wirtschaftsministerium.«

Bei dieser Rechnung hat Weyer die CSU übersehen, die im Dezember vergangenen Jahres - nicht zuletzt unter dem Druck der FDP - das Verteidigungsressort einbüßte. Nun soll sie, laut Weyers Plan, obendrein auch noch das Innenministerium preisgeben - zugunsten der FDP.

Den Bayern blieben im Bonner Kabinett dann nur noch die Bundespost (Stücklen), der Bundesschatz (Dollingel) und die Bundesratsangelegenheiten (Niederalt), während CSU-Höcherl sich mit Seebohms Verkehrsministerium bescheiden müßte. Weyer: »Herr Höcherl hat sich doch immer schon für Verkehrsfragen interessiert.«

Die Degradierung vom Innen zum Verkehrsminister würde einen Mann treffen, der sich in fast zwei Amtsjahren den Ruf bauernschlauer Geschicklichkeit verdient hat, und dies auf einem Posten, auf dem die Amtsvorgänger, darunter Gerhard Schröder, nicht zu reüssieren vermochten.

Außer dem Sprengstoff, mit dem der FDP-Griff nach Höcherls Stuhl den Kabinettshandel gefährdet, macht dem Kabinettsbildner Erhard auch noch das längst schon chronische »Problem Blank« zu schaffen. In sieben Kabinettsdienstjahren ist dem glücklosen Blank kein rechter Erfolg beschieden gewesen.

Obwohl nun Blanks offene Parteinahme für Adenauer und gegen Erhard beim Streit über den Kanzler-Wechsel es dem neuen Kanzler sehr erleichtert, das »Problem Blank« ohne jede Sentimentalität anzugehen, ist es gleichwohl nicht einfach zu lösen. Erhards fester Vorsatz, den instinktarmen Politiker abzuschütteln, droht daran zu scheitern, daß kaum einer es auf sich nehmen will, den heruntergekommenen Nachlaß in Blanks Arbeitsministerium bis zu den Neuwahlen 1965 zu hüten.

Die CDU-Sozialpfleger Katzer und Sabel winkten rasch ab, und Wohnungsbauminister Paul Lücke, dem Erhard unter den Linkschristen noch am ehesten traut, möchte seinen Ruhm, ein erfolgreicher Wohnungsbauminister zu sein, ungern gegen den Ruf eines erfolglosen Sozialministers eintauschen. Nur der Angestellte Josef Stingl, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Berlin, würde das Himmelfahrtskommando im Bonner Sozial- und Arbeitshaus nicht scheuen. Bleibt Ludwig Erhard mithin die Wahl zwischen dem unbefangenen Stingl und dem Mann ohne Fortune: Blank.

Auf einen dieser beiden angewiesen, will Erhard dennoch die schwierigste innerpolitische Aufgabe der Wahlperiode - das Sozialpaket - »in den Griff bekommen«. Bevor er in die Klausur an den Tegernsee fuhr, verhieß der Zukunftskanzler: »Ich werde unser Haus in Ordnung bringen. Bisher haben wir uns durchgewurstelt.«

Urlauber Erhard vor seiner Villa am Tegernsee: Einsame Zweifel

Minister-Aspirant Hellwig

Von der Industrie gefördert

Minister-Aspirant Westrick

Von Erhard gewünscht

Minister-Aspirant Schmücker

Von den Hinterbänklern gestützt

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