20.000 Zuhörer in Köln Die One-Man-Show des Tayyip Erdogan

Der türkische Regierungschef spricht in der Kölnarena vor 20.000 Landsleuten - die erste Volksversammlung dieser Art in Deutschland. Bei seinem durchinszenierten Auftritt wärmt Erdogan die Herzen seiner Zuschauer - doch eine klare Ansage zur Integration in der Bundesrepublik bleibt aus.

Köln - Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan lässt seinem Publikum viel Zeit für den Applaus, bevor er in der überdimensionalen Halle zu seinen "geliebten Brüdern und Schwestern" spricht. Er lächelt viel, winkt selbstbewusst mit den Armen, schüttelt Hände. Rund 20.000 Türken feiern ihr Idol, während draußen vor den Toren der Kölnarena ein paar hundert Kurden gegen den Premier demonstrieren.

20.000 Menschen, die einem Politiker in Deutschland live zuhören - das hat es hierzulande zuletzt in der Wendezeit gegeben. John F. Kennedy zog bei seinem berühmten Auftritt auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses kurz nach dem Mauerbau 1961 fast eine halbe Million Berliner an, Helmut Kohl sprach im Winter 1989/90 immerhin noch vor Zehntausenden. Gerhard Schröder und Angela Merkel waren beim letzten Bundestagswahlkampf schon froh, wenn ein paar tausend Neugierige zu ihren Reden eilten. Und nun also plötzlich Erdogan, ein Türke mitten in Deutschland, im voll besetzten Saal vor 20.000 Menschen. Unzählige Türken warten draußen vergeblich auf Einlass.

Die kurdischen Demonstranten dort rufen "Mörder Erdogan!" und "Wir sind die PKK!". Sie schwenken Fahnen mit einem Bild von Abdullah Öcalan, dem Anführer der verbotenen Kurdenorganisation PKK. An den Eingängen der Veranstaltungshalle stehen staatstreue Türken mit rotweißen Fahnen und brüllen zurück: "Verdammt sei die PKK!" Dazwischen: deutsche Polizisten. Es bleibt bei verbalen Attacken.

Der Termin in Erdogans Kalender gehört nicht zu seinem offiziellen Staatsbesuch, sondern ist eine "privat organisierte Veranstaltung", wie ein Polizeisprecher sagt, also eigentlich keine Angelegenheit für die Polizei. Doch sie ist in Alarmbereitschaft, wegen der "aufgeheizten Stimmung" bezüglich des Zusammenlebens zwischen Türken und Deutschen.

Eine Woche ist es her, da brannte ein türkisches Haus in Ludwigshafen und nährte den Verdacht vieler Türken, die Deutschen wollten sie loswerden, ganz egal wie. Vor allem türkische Medien stellten den Anschlagsverdacht immer wieder in den Vordergrund: Überlebende aus dem Brandhaus wurden zitiert: "Wer uns das angetan hat, dem sollen die Hände brechen." Erst heute schreibt die türkische Zeitung "Hürriyet" wieder, dass es nun "drei neue Kinder-Zeugen für Brandstiftung" gebe. "Jetzt können sie das nicht länger vertuschen", heißt es in der Zeitung. Viele Türken denken so.

Die aufgeheizte Stimmung fällt zusammen mit der bisher größten türkischen Polit-Show in Deutschland: Ministerpräsident Erdogan "trifft sich mit türkischstämmigen Europäern", lautete die Ankündigung.

"Hoffentlich müssen wir solchen Schmerz nie wieder erleben"

Erdogan weiß um die angespannte Lage. Er beginnt seine Rede, die nicht ins Deutsche übersetzt wird, mit blumigen Floskeln: "Das türkische Volk ist ein Volk der Freundschaft und der Toleranz. Wo es hingeht, bringt es nur Liebe und Freude mit." Soll heißen: Macht uns keine Schande und haltet euch ruhig. Danach zählt Erdogan chronologisch alle Bemühungen seiner Regierung auf, die deutschen Ermittlungen nach der Brandkatastrophe in Ludwigshafen voranzutreiben.

Den Stachel aus der Angelegenheit zieht er jedoch nicht. "Hoffentlich müssen wir so einen Schmerz nie wieder erleben", schließt er das Kapitel.

Das zweite Thema, das der Premier anspricht, ist die Integration der Türken in Deutschland. "Ich verstehe, dass ihr empfindlich seid, wenn es um Assimilation geht", sagt Erdogan, "keiner darf das von euch verlangen." Assimilation, die Anpassung an die Deutschen, ist ein Schlagwort, mit dem türkische Einwanderer ihre Angst vor der "Heimatlosigkeit" verbinden. Erdogan wiederholt seine umstrittene Forderung gegenüber der Bundeskanzlerin vom Freitag nicht ? dort warb er für die Gründung türkischsprachiger Bildungseinrichtungen. Er sagt heute nur: "Es ist euer natürliches Recht, euren Kindern eure Muttersprache beizubringen."

Erdogan spielt in seiner langen Rede die Integrationskarte, wie es ihm passt. Er mobilisiert und beschwichtigt, ein Plädoyer zum Ankommen in der Bundesrepublik hält er nicht. Vieles bleibt vage, manchmal wird er pragmatisch: "Nutzt die Vorteile der Bildungseinrichtungen in Deutschland!" Immerhin sagt er: "Wenn ihr die Landessprache nicht sprecht, ist das ein Nachteil." Dennoch vermitteln seine Worte, in denen immer wieder "wir Türken" und "die Deutschen" vorkommen, eine klare Botschaft: Ihr lebt zwar in Deutschland. Aber ihr seid Türken und ich bin euer Ministerpräsident.

Durchinszeniertes Politspektakel

Es ist die erste Volksversammlung eines türkischen Regierungschefs in Deutschland. Seit Wochen wurde für das Spektakel geworben - im türkischen Fernsehen, in Zeitungen, auf Werbeplakaten. "Wir wollen unbedingt hören, was der Ministerpräsident uns zu sagen hat", sagt ein Familienvater aus einem Ort unweit von Köln. Schon den ganzen Vormittag kamen Reisebusse aus ganz Europa an, organisiert durch Moschee- und Kulturvereine.

Was manche Zuschauer bedauern: Wegen der Trauerfeier um die Brandopfer in Ludwigshafen wurde das musikalische Vorprogramm spontan abgesagt. Dennoch wirkt die Inszenierung wie das Popkonzert eines Superstars. Bunte Lichter flackern, dramatische Musik wird eingespielt, eine riesige Leinwand projiziert Fotos des Staatschefs auf die Bühne.

Die Veranstaltung ist eine minutiös durchinszenierte PR-Kampagne für den Politiker Erdogan. Organisiert wird die private Mega-Show von einem Verein namens "Union Europäisch Türkischer Demokraten" (UETD), deren Ziel die "Förderung des politischen, sozialen und kulturellen Engagements der Türken in Europa" sei, wie sie selbst erklären. Einige der Vereinsgründer sind alte Bekannte des türkischen Premiers, der dem Club bei Staatsbesuchen regelmäßige Besuche abstattet hat.

Tausende brüllen "Die Türkei ist stolz auf dich!"

Heute wird ihm das gedankt: Der Moderator kündigt den türkischen Ministerpräsidenten an wie Einheizer vor dem Boxkampf ihren Favoriten. Doch bevor der Star kommt, müssen alle aufstehen und die türkische Nationalhymne anstimmen. Viele singen mit, der anschließende Applaus ist ohrenbetäubend. Danach kommt die deutsche Hymne. "Hooopp sing doch mit", sagt ein Mann zu seinem Nachbarn und lacht, der murmelt noch "Doidschland", ein schiefes Summen ist im Saal zu hören ? dann braver Applaus.

Stundenlang warten die vorwiegend Türkischstämmigen gespannt, dann - "der Architekt der Türkei, auf den ihr alle gewartet habt, ist jetzt hier" ? ertönt donnernder Applaus, Gekreische, Tausende Zuschauer brüllen im Chor "Die Türkei ist stolz auf dich!".

Gegen 16.30 Uhr ist Erdogans One-Man-Show vorbei, die Zuschauer entlassen ihn mit tosendem Applaus. Die Menschen fahren nun durch die deutsche Nacht gen Heimat ? in ihre Reinigungen und Döner-Läden, ihre Friseursgeschäfte und Kioske, ihre Änderungsschneidereien und Ingenieursbüros. Sie fahren nach Hamburg, München und Berlin, nach Duisburg und Bremen, manche sogar nach Brüssel und Den Haag.

Zuhause werden sie ihren Verwandten berichten, wie der türkische Regierungschef heute ihre Herzen in der Kölnarena wärmte. Aber wie sie nächste Woche in Deutschland, Belgien oder Holland besser leben können ? das können sie nicht erzählen. Denn darüber hat Erdogan ihnen nichts gesagt.

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