20. Juli 1944 Schröders Brückenschlag
Berlin - Am Ende seiner Rede wendet sich der Kanzler an Freya von Moltke. Die heute 93-jährige Frau sitzt in der ersten Reihe im Bendlerblock, neben ihr der Bundespräsident, schräg hinter ihr der Generalinspekteur der Bundeswehr. Vor 60 Jahren sind hier, im Hof des damaligen Oberkommandos des Heeres, vier der Verschwörer des 20. Juli erschossen worden.
Sie kannte Claus Schenk Graf von Stauffenberg nicht, der an diesem Tag Hitler in seinem Hauptquartier in Ostpreußen durch eine Bombe aus der Welt schaffen wollte und am Abend desselben Tages von einem Erschießungskommando im Bendlerblock getötet wurde. Doch Stauffenbergs Tat veränderte ihr Leben. Ihr Mann Helmuth James Graf von Moltke gehörte zum Widerstand des Kreisauer Kreises, er wurde im Januar 1945 hingerichtet.
Gerhard Schröder blickt die Witwe an und zitiert dann aus einem Brief ihres Mannes. Er stammt aus dem Jahr 1942. Für Schröder ist es ein Vermächtnis. "Für uns ist Europa weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen und großen Plänen. Europa nach dem Krieg ist die Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden." Wenig später schreitet der Kanzler zurück an seinen Platz, setzt sich neben Freya von Moltke, das Musikkorps der Bundeswehr spielt das Lied "Ich hatt' einen Kameraden", dann folgt der Auftritt des Bundespräsidenten. Horst Köhler, begleitet vom Generalinspekteur, hängt wenig später einen Kranz an jene Stelle, die an die Erschießung der vier Offiziere erinnert.
Es ist eine durchaus zivile Feierlichkeit, trotz der Soldaten des Wachbataillons, die im Innenhof strammstehen. Viele Gäste sind in leichter Sommerkleidung gekommen. Die Republik feiert einen ihrer wichtigsten Gedenktage, und sie tut es in getragen-heiterer Stimmung.
Schröders Bekenntnis zur Befreiung
Schröder hat diesen 60. Jahrestag zur Chefsache erklärt. Es ist seine zweite große Rede in sechs Wochen, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Am 6. Juni, zum Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie, hat er eine, vor allem in Frankreich, viel beachtete Ansprache gehalten. Auszüge davon hängen in einem Schaukasten in der Französischen Botschaft in der Wilhelmstraße in Berlin, Ausgaben von "Le Monde" und "Libération", die schon vergilben.
Schröder, der erste Kanzler, der an den Feierlichkeiten zum 6. Juni teilnahm, hatte sich in der Normandie, in Gegenwart des französischen Staatspräsidenten, zur Befreiungstat der Alliierten bekannt. Das brachte ihm anschließend in manchem konservativen Feuilleton in Deutschland Kritik ein. Noch immer ist der Streit, ob das Ende des Krieges 1945 nun für Deutschland eine Niederlage oder eine Befreiung war, nicht ganz verklungen - auch wenn selbst der eher konservative TV-Historiker Guido Knopp jüngst seine Sendereihe programmatisch "Die Befreiung" nannte.
Schröder, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg in Rumänien fiel, ist ein Kind der Bundesrepublik. Für den Kanzler, der in den turbulenten Siebzigern politisch sozialisiert wurde, bedeutet das Ende der Nazi-Zeit Befreiung. Er sagt es auch hier wieder, im Bendlerblock in Berlin: "Uns ist bewusst, dass die Niederwerfung der nationalsozialistischen Diktatur eine Befreiung auch für Deutschland bedeutete."
Schröders Rede ist wohl durchkomponiert. Der Kanzler behauptet vor allem eines nicht - dass die Niederlage von vielen Deutschen als Befreiung empfunden wurde, vor allem auch in jenem Milieu, das die Republik am 20. Juli ehrt. Auch im Offizierskorps sei die Erkenntnis der Befreiung, so Schröder, bis zum Ende des Krieges eine Minderheitsmeinung gewesen. Und Schröder stellt schließlich jene Frage, die auch heute viele in diesem Lande umtreibt: "Wie konnte die Diktatur sich noch so lange auf eine breite Massenbasis stützen?"
Schröders Verweis auf Polen
Für den Kanzler ist der Aufritt auch Anlass, an die EU-Osterweiterung zu erinnern. Am 1. August wird er in Polen zum Warschauer Aufstand sprechen. Schröder zieht einen Bogen vom Bendlerblock nach Warschau: Europa habe guten Grund, den 20. Juli und den 1. August 1944 als "flammende Zeichen" auf dem Weg zu einer wahren europäischen Wertegemeinschaft in Ehren zu halten.
Vor 60 Jahren versuchte die polnische Heimatarmee, ihre Hauptstadt von den Deutschen zu befreien. Unter den Augen der Roten Armee, die auf direkten Befehl Stalins untätig am anderen Weichselufer verharrte, wurde der Aufstand brutal niedergeworfen und Warschau dem Erdboden gleichgemacht.
Wie fragil die deutsch-polnischen Beziehungen ob der historischen Last noch immer sind, zeigte sich in Berlin bereits am Abend vor der Kanzler-Rede. Da gedachte der Bund der Vertriebenen in Berlin des Ereignisses - in Polen schlugen daraufhin die Wellen der Empörung hoch.
Im Bendlerblock spricht Schröder nun von den Aufständischen, die ihrem Anspruch auf ein selbstbestimmtes, freies Polen Nachdruck verleihen wollten. Und er sagt dann einen Satz, der in Russland wohl noch heute bei manchem Veteranen der Sowjetarmee Ärger auslösen dürfte: "Auch gegenüber neuer Fremdbestimmung, die sie bereits fürchten mussten."
Schröders Ansprache dient, wie alle Feierlichkeiten zum 20. Juli, auch als Inanspruchnahme eigener Politik. So zitiert er aus dem Entwurf der Regierungserklärung von Ludwig Beck und Carl Friedrich Goerdeler, zwei führenden Männern des Widerstands. Ihr Satz, dass allen Menschen der "Weg zu den Gütern dieser Welt" offen stehen solle, ist für ihn der Anknüpfungspunkt für die heutige Mission der Bundeswehr. In dieser Tradition stünden die Soldaten, die "auf dem Balkan oder in Afghanistan den Frieden sichern und beim Wiederaufbau helfen".
Rot-grüne Akzente
Angela Merkel, die CDU-Vorsitzende, und der Vizefraktionschef Friedrich Merz, sitzen ebenfalls unter den geladenen Gästen. Wie hätten sie, wenn sie an der Regierung wären, den 60. Jahrestag begangen? Wo Akzente gesetzt? Schon gleich zu Beginn seiner Rede verweist Schröder auf den Widerstand von 1933, auf Sozialdemokraten, bürgerliche Intellektuelle, Kommunisten, bekennende Christen und einzelne Deutsche, die einfach nur "anständig" hätten bleiben wollen. Er erwähnt den Einzeltäter Georg Elser, der 1939 Hitler durch ein Bombenattentat beseitigen wollte, den Domprobst Bernhard Lichtenberg, die Mitglieder der Weißen Rose. Und er betont, dass es keinen gemeinsamen, koordinierten und von breiten Schichten getragenen Widerstand in Deutschland gegeben habe, noch weniger auf europäischer Ebene.
Schröder gehört zur Generation, die es sich oft und lange Zeit nicht leicht gemacht hat mit dem Widerstand der Militärs - so wie die Konservativen sich jahrzehntelang schwer taten, den Widerstand der Arbeiterbewegung und vor allem der Kommunisten überhaupt wahrzunehmen. Erst 1985, vierzig Jahre nach Kriegsende, erwähnte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, ein Christdemokrat, im Bundestag ihren Widerstand. Das war damals, im Zeitalter der Blockkonfrontation, eine Sensation. Heute gehört es zum Repertoire der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur.
Fast 20 Jahre nach der Weizsäcker-Rede kann auch über die Ideenwelt der Akteure aus dem konservativen Widerstand gesprochen werden, ohne ihren Mut und ihre Tat sogleich zu denunzieren. So, wie es lange Zeit nicht nur in der DDR, sondern auch in der westdeutschen Linken üblich war.
Schröder erwähnt Nationalsozialisten, die sich angesichts von Massakern zum Widerstand entschlossen, aber er spricht auch die Begeisterung vieler Bürgerlicher und Offiziere für Hitlers gewaltsame Politik an. Hitlers Krieg sei zeitweise auch ihr Krieg gewesen. Doch Schröder weiß, auch die Tat des 20. Juli führt nicht so gradlinig zur Bundesrepublik, wie es in manchen Schulfibeln dargestellt wird. "Vor allem die Gedanken der konservativen Gegner der Diktatur", so Schröder, seien oft weit entfernt von dem gewesen, was später Gestalt im Grundgesetz der Bundesrepublik angenommen habe.