Abstimmung im Bundestag Was die Wahlrechtsreform bedeutet

Mit den Stimmen der Ampelkoalition hat der Bundestag das Wahlrecht geändert. Was das für künftige Wahlen heißt – und für welche Parteien es jetzt schwieriger werden könnte, im Parlament zu bleiben: der Überblick.
Bundestag debattiert Wahlrechtsreform

Bundestag debattiert Wahlrechtsreform

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Michael Kappeler / dpa

Zuletzt wurde der Bundestag immer größer. Das soll sich mit der Wahlrechtsreform jetzt ändern. Die Ampelkoalition bekam diese am Freitag mit einer Mehrheit von 399 Stimmen durch das Parlament. 261 Abgeordnete votierten dagegen, 23 enthielten sich. Die wichtigsten Fakten im Überblick.

Warum war eine Wahlrechtsreform notwendig?

Der Bundestag ist zu groß – das ist seit Jahren Konsens unter den Fraktionen. Mit 736 Abgeordneten hatte das Parlament nach der vergangenen Wahl seine bisherige Rekordzahl erreicht und liegt 138 Mandate über seiner vorgesehenen Normgröße.

Die wachsende Zahl an Abgeordneten hing vor allem mit Überhang- und Ausgleichsmandaten zusammen. Überhangmandate entstehen bislang dadurch, dass eine Partei mehr Wahlkreise direkt gewinnt, als ihr nach Zweitstimmen an Abgeordneten zustehen würden. Damit die Sitzverteilung dennoch dem Zweitstimmenergebnis entspricht, bekommen die anderen Parteien nach der alten Regelung Ausgleichsmandate. So wurde der Bundestag aber mit der Zeit deutlich größer. Allein schon logistisch ist das ein Problem. Würde der Bundestag noch größer, könnte ihm schlicht der Platz für Sitzungen fehlen.

Welche Reformversuche hatte es zuvor gegeben?

Die damalige Große Koalition hatte in der vergangenen Legislaturperiode bereits einen Reformversuch angestoßen. Ein Kompromiss, den alle Parteien mittragen wollten, war trotz mehrerer Anläufe nicht zustande gekommen. Schließlich hatten CDU/CSU und SPD im Alleingang eine Änderung beschlossen, die auch Experten für unzureichend hielten.

Der Reform von 2020 nach werden Überhangmandate einer Partei teilweise mit Listenmandaten verrechnet, bis zu drei Überhangmandate werden nicht mehr ausgeglichen. Gegen ein weiteres Wachstum des Parlaments half das nichts. Die damaligen Oppositionsfraktionen FDP, Linke und Grüne hielten dies für einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit sowie die Chancengleichheit der Parteien und zogen nach Karlsruhe. Ein Eilantrag scheiterte im August 2021, sodass zur Bundestagswahl im September das neue Wahlrecht galt. Das Bundesverfassungsgericht will am 18. April darüber verhandeln, ob die Änderung verfassungsgemäß war.

Was sind die zentralen Punkte der aktuellen Reform?

Das neue, mit den Stimmen der Ampelkoalition beschlossene Wahlrecht, lässt sich in drei grundlegende Aspekte aufteilen.

  • Direkt gewählte Kandidaten ziehen nur noch in den Bundestag ein, wenn ihre Mandate auch durch das Zweitstimmenergebnis ihrer Partei gedeckt sind. Sollte eine Partei zu viele Direktmandate gewinnen, bekommen die Kandidaten mit den niedrigsten Stimmanteilen keinen Sitz im Parlament. Das heißt: In manchen Wahlkreisen könnte es dann keine direkt gewählten Abgeordneten geben.

  • Die sogenannte Grundmandatsklausel wird abgeschafft. Die Regelung hatte vorgesehen, dass Parteien auch dann in den Bundestag einziehen, wenn sie nicht die Fünfprozenthürde erreichen, dafür aber drei Direktmandate erzielen. Bei der vergangenen Wahl schaffte es die Linke nur aufgrund dieser Klausel ins Parlament. Das ist bei folgenden Wahlen nun nicht mehr möglich.

  • Die Regelgröße des Bundestags wird durch die Reform angehoben. Bisher war festgelegt, dass der Bundestag im Normalfall 598 Abgeordnete umfasst – eine Größe, über die das Parlament ohnehin schon lange hinausgewachsen ist. Zukünftig wird diese Grenze auf 630 Mandate angehoben, soll dafür dann aber auch eingehalten werden. Mit dem etwas größeren Umfang soll nach dem Willen der Koalition sichergestellt sein, dass möglichst wenig Wahlkreise ohne direkt gewählte Vertreter bleiben.

Warum gab es so viel Streit über die Grundmandatsklausel?

Der Wegfall der Grundmandatsklausel könnte vor allem für die Linke der Todesstoß sein. Sie sicherte der Partei etwa nach der jüngsten Bundestagswahl 2021 trotz Scheiterns an der Fünfprozenthürde den Bundestagseinzug durch drei Direktmandate – insgesamt ist die Partei dadurch mit 39 Abgeordneten im Parlament vertreten. Auch die Linken-Vorgängerin PDS profitierte nach der Bundestagswahl 1994 von der Grundmandatsregelung.

Je nach Wahlergebnis könnte die Klausel aber auch für die CSU zu einem Problem werden: Da diese nur in Bayern antritt, ist sie fortan darauf angewiesen, dort genug Zweitstimmen zu holen, um bundesweit die Fünfprozenthürde zu überspringen.

Warum ist die Reform kein Projekt, das über die Koalition hinausging?

Lange hatte es vonseiten der Ampel geheißen, man wolle bei diesem Gesetz die Union als größte Oppositionsfraktion einbinden. Immerhin greift eine Änderung des Wahlrechts in den Wirkungskreis aller Parteien ein. Doch die Gespräche zwischen beiden Seiten erwiesen sich als schwierig.

Die Union lehnte den ersten Entwurf der Ampel ab. CDU und CSU legten im Januar dann einen Gegenvorschlag vor, bei dem wiederum die Regierungsfraktionen abwinkten. Sie sahen in dem Unionsentwurf vor allem eine Bevorteilung der CSU. »Die Union will Probleme auf Kosten der anderen Parteien lösen«, sagte damals der Grünenabgeordnete Till Steffen, der den Wahlrechtsvorschlag der Ampel mit erarbeitet hat. Dass man es schafft, eine Reform im Einvernehmen mit der Union zu gestalten, glaubte man in den Regierungsparteien zuletzt immer weniger.

Wie reagierte die Opposition auf die Verabschiedung im Bundestag?

Viele Oppositionspolitiker waren überrascht vom Tempo, das die Ampel zuletzt an den Tag gelegt hatte. Die Fraktionen ersetzten wenige Tage vor der geplanten Abstimmung ihren ersten Entwurf durch eine neue Variante. Ursprünglich wollte die Ampel das Parlament sogar wieder auf die im Bundeswahlgesetz genannte Sollgröße von 598 Abgeordneten reduzieren. Nachdem die Union diesen Vorschlag von SPD, Grünen und FDP abgelehnt hatte, präsentierte die Ampel dann einen geänderten Entwurf, der neben der höheren Zahl von 630 Mandaten auch die Streichung der Grundmandatsklausel beinhaltet.

Linke und Union verkündeten in der abschließenden Debatte in seltener Einigkeit: So mit den anderen Fraktionen umzuspringen, sei arrogant und inakzeptabel. Schließlich müsse man sich bei so einem wichtigen Vorhaben in Ruhe eine Meinung bilden können. Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble hatte dem SPIEGEL vor der Verabschiedung gesagt, die Reform sei »auf Täuschung und Enttäuschung des Wählers ausgelegt«.

CDU-Chef Friedrich Merz appellierte in letzter Minute, die Verabschiedung der Reform um zwei Wochen zu verschieben. »Einer solchen Beschädigung des Vertrauens in unsere Demokratie werden wir zu keinem Zeitpunkt zustimmen«, sagte er. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linkenfraktion, Jan Korte, nannte die Reform »hingerotzt«.

Wie geht es jetzt weiter?

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt kündigte im Anschluss an die Abstimmung an, der Freistaat Bayern werde das Bundesverfassungsgericht anrufen. Auch die Linke strebt dies an.

Die Unionfraktion will zudem eine abstrakte Normenkontrolle anstrengen, bei der das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit der neuen gesetzlichen Regelungen mit dem Grundgesetz prüft. Für einen entsprechenden Antrag wäre ein Viertel der Mitglieder des Bundestags nötig.

Unionsfraktionschef Merz hat neben dem Gang nach Karlsruhe noch einen zweiten möglichen Weg skizziert, die Reform der Ampel zu kippen. Er sagt, seine Partei sei zwar generell für eine Verkleinerung des Bundestags, sie werde aber, wenn sie das nächste Mal an einer Regierung beteiligt sei, »darauf dringen, dass das geändert wird«.

sol/dpa/AFP
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