Verfassungsschutz und AfD-"Flügel" Schlag gegen rechts außen

"Flügel"-Vertreter Kalbitz (l.), Höcke: AfD unter Zugzwang
Foto: Stefan Boness/ IPON/ imago imagesEinigen AfD-Politikern schwante es schon zu Beginn der Woche. Bald würde das Bundesamt für Verfassungsschutz eine wegweisende Entscheidung fällen. Es könnte sein, raunten sie, dass der "Flügel" als rechtsextrem eingestuft werde.
So kam es.
An diesem Donnerstag trat Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang vor die Öffentlichkeit und erklärte das völkisch-nationalistische "Flügel"-Netzwerk der AfD zum Beobachtungsfall. Der "Flügel" sei eine "erwiesen extremistische Bestrebung", dessen Anführer Björn Höcke und Andreas Kalbitz - die AfD-Chefs aus Thüringen und Brandenburg - seien "Rechtsextremisten", so Haldenwang. Nach Schätzungen des Verfassungsschutzes hat der "Flügel" rund 7000 Anhänger.
Die ersten Reaktionen wirkten konfus. Zunächst wurde per E-Mail eine Pressekonferenz des AfD-Fraktionschefs Alexander Gauland mit Co-Parteichef Tino Chrupalla im Bundestag angekündigt - kurze Zeit später schriftlich wieder abgesagt.
"Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin gegen den Verfassungsschutz"
Hinter den Kulissen beriet die AfD über Stunden, wie die Bundespartei reagieren solle. Laut Teilnehmern ging es hin und her. Reagieren auf einer Pressekonferenz? Nur mit Presseerklärungen? Oder gar nicht?
Am Ende tat die Führung erst mal: nichts.
Es wurde so getan, als sei eigentlich gar nichts geschehen. Journalisten sollten bei Höcke und Kalbitz nachfragen - sie seien ja von Haldenwang genannt worden, teilte ein Sprecher der Partei dem SPIEGEL mit. Doch auch Höcke und Kalbitz schwiegen zunächst. Erst am Nachmittag meldete sich Roland Hartwig zu Wort, Leiter der Verfassungsschutz-Arbeitsgruppe der AfD. Die Befürchtung, das Amt könne sich unter Haldenwang politisch instrumentalisieren lassen, "hat sich damit vollumfänglich bestätigt". Man werde die vor geraumer Zeit eingereichten Klagen gegen die Beobachtung und die Nennung in den Verfassungsschutzberichten "ergänzen".
Mancher in der AfD mag in der Einstufung des "Flügel" als rechtsextrem sogar einen Nutzen sehen - im innerparteilichen Kampf. "Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin gegen den Verfassungsschutz, aber wer weiß - vielleicht hilft uns eine solche Maßnahme ja auch", sagte kürzlich ein Führungsmitglied der AfD zum SPIEGEL.
Höcke in der Mitte der AfD - ob das künftig auch noch gilt?
Höcke und der "Flügel" sind in der in den vergangenen Jahren weit nach rechts gerückten AfD umstritten. Ihre Ambitionen, mehr Macht zu erhalten, wird von den sogenannten gemäßigten Kräften - manche von ihnen im Tonfall oft ähnlich radikal wie "Flügel"-Vertreter - misstrauisch beäugt. Dass der "Flügel" wachsen konnte, hat nicht zuletzt der Ehrenvorsitzende Gauland zu verantworten. Er hielt über Jahre seine schützende Hand über Höcke und klärte Differenzen mit ihm lieber intern. Höcke, so Gauland noch vor Kurzem, stehe in der "Mitte" der AfD. Ob das auch künftig gilt?
In der AfD ist seit Längerem die Sorge groß, dass die gesamte Partei zum Beobachtungsfall und als rechtsextrem eingestuft wird. Seit dem Jahr 2018 leitet Hartwig - AfD-Bundestagsabgeordneter und früherer Chefsyndikus des Bayer-Konzerns - die interne Arbeitsgruppe, die genau das verhindern soll. Denn eine solche Einstufung hätte massive Folgen für einen Teil der Mitglieder: Beamte.
Anfang März verschickten die Parteichefs Meuthen und Chrupalla einen Rundbrief an die Basis. "Selbst wenn die politische Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes auf die Spitze getrieben und die AfD tatsächlich als Verdachtsfall beobachtet werden würde, wäre das allein kein Anlass für Beamte, die Partei zu verlassen", schrieben sie darin.
Verwiesen wurde auf ein Gutachten, das der frühere Staatsrechtler Dietrich Murswiek bereits im November 2018 für die AfD verfasst hatte. Es klingt wie ein Dokument zur Beruhigung: Eine Einstufung durch den Verfassungsschutz habe "noch" keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Staatsdiener. Erst wenn sich herausstelle, dass eine Partei tatsächlich verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolge "und dies durch Gerichtsurteil festgestellt worden ist, müssen Beamte die Partei verlassen, wenn sie Disziplinarmaßnahmen vermeiden wollen", lautet die Einschätzung des Professors.
Genau da liegt aber das Problem für die AfD.
Zum "Flügel" zählen auch Beamte - nicht zuletzt Höcke selbst, der früher als Gymnasiallehrer in Hessen tätig war. Schon als der "Flügel" als Verdachtsfall eingestuft war, drohte Beamten ein Disziplinarverfahren, wie Murswiek in seinem Gutachten für die AfD feststellte. Das sei "nicht nur zeitraubend, sondern auch psychisch belastend", so Murswiek.
Nervosität ist in der Partei seit Längerem spürbar. Manche erinnern an das Schicksal der Republikaner, die in den Neunzigerjahren zeitweise als gesamte Partei, später in Teilbereichen vom Verfassungsschutz beobachtet wurden. Damals verließen Staatsbedienstete die Gruppierung.
AfD sucht vor allem zu Soldaten und Polizisten Nähe - die könnte nun gefährdet sein
Sich zur AfD zu bekennen, ziehe bereits heute Hass, Häme und oft auch Gewalttaten nach sich, sagt der Berliner AfD-Fraktionschef Georg Pazderski, ein Kritiker Höckes, zum SPIEGEL. "Das gilt für alle gleichermaßen, nicht nur für Beamte. Ich kann verstehen, dass manche sich aus der Schusslinie zurückziehen müssen", so der frühere Oberst der Bundeswehr.
Erst im Dezember war mit Lars Herrmann ein Bundespolizist aus der Bundestagsfraktion und der Partei ausgetreten - er hatte im Zusammenhang mit der Beobachtung des "Flügel" als damaliger "Verdachtsfall" auch auf seinen Status als Beamter verwiesen. Dass die staatlichen Maßnahmen wirken, hatte im Dezember AfD-Fraktionspressesprecher Christian Lüth sogar in einer E-Mail eingeräumt: Man gehe im Fall Herrmann davon aus, "dass der Druck von Horst Seehofer auf Beamte - in seinem Fall Polizeibeamte - Wirkung gezeigt hat".
Wie viele Beamte es unter den rund 35.000 AfD-Mitgliedern gibt, ist unklar. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Von den 89 verbliebenen Bundestagsabgeordneten - fünf Abgeordnete traten seit dem Einzug im Herbst 2017 aus Fraktion und Partei aus - sollen rund ein Dutzend Staatsdiener sein. Vor allem zu Soldaten und Polizisten sucht die AfD Nähe. Die könnte nun gefährdet sein.
Unter Zugzwang geriet die AfD bereits im Frühjahr 2019 durch das 436 Seiten umfassende Gutachten des Bundesamtes, in dem Zitate und Äußerungen von Parteimitgliedern gesammelt und ausgewertet wurden, um den "Verdachtsfall" des "Flügel" und der "Jungen Alternative" zu begründen.
Der für den Verfassungsschutz zuständige AfD-Arbeitsgruppenleiter Hartwig schrieb daraufhin rund 40 Mitglieder und Funktionäre an, die im Bericht auftauchten, und bat um Antworten. Die überwiegende Zahl antwortete, die Betroffenen wurden animiert, ihre Stellungnahmen möglichst in den sozialen Netzen zu veröffentlichen - als Teil einer Gegenstrategie der Partei.
Als einer der Letzten meldete sich Höcke, er war besonders häufig im Gutachten erwähnt worden. Auf seiner Facebook-Seite veröffentlichte er Anfang März zwei umfängliche Zitate-Sammlungen mit seinen "Klarstellungen". Zitat für Zitat arbeitete Höcke ab, doch genützt hat ihm der Aufwand nichts.
Mehr noch: Der Schlag der wehrhaften Demokratie traf an diesem Donnerstag nicht nur seinen "Flügel", sondern auch den gesamten Thüringer AfD-Landesverband. Den nämlich stufte das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz zeitgleich als "Verdachtsfall" im Bereich des Rechtsextremismus ein.