Hamburger AfD-Fraktionschef über seine Partei "Das war Nazi-Sprech"

Jörn Kruse
Foto: Christian Charisius/ dpa
Jörn Kruse, Jahrgang 1948, ist Fraktionsvorsitzender der AfD in der Hamburgischen Bürgerschaft. Der Wirtschaftswissenschaftler trat unter dem Eurokritiker Bernd Lucke der AfD bei. Als dieser die AfD im Sommer 2015 verließ, legte Kruse im selben Jahr den Hamburger AfD-Landesvorsitz nieder. In seinem früheren politischen Leben war Kruse von 1968 bis 1993 Mitglied der SPD.
SPIEGEL ONLINE: Herr Kruse, Sie haben kürzlich einen Brief an die beiden AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland und Jörg Meuthen geschrieben. Was stört Sie an Ihrer Partei?
Kruse: Ich habe mich schon oft über meine Partei geärgert, vor allem die im Osten. Aber mit der Demonstration in Chemnitz wurde für mich eine rote Linie überschritten. Die Zusammenarbeit von drei ostdeutschen Landesvorsitzenden - Herrn Höcke, Herrn Kalbitz und Herrn Urban - mit Vertretern von Pegida im Vorfeld sowie das Mitlaufen von Vertretern aus dem rechtsextremen Milieu ist für mich nicht tolerierbar. Die AfD steht seit Chemnitz am Scheideweg.
SPIEGEL ONLINE: Aber aus der AfD selbst kommen seit Langem Äußerungen, die weit rechts zu verorten sind. Warum sind Sie überhaupt noch in der AfD?
Kruse: Ich bin unter Bernd Lucke als Kritiker der Euro-Rettungsschirme zur AfD gekommen, ich habe meine Parteiämter nach dem Essener Parteitag 2015 aufgegeben, als Lucke austrat und die Richtung unter der damaligen Vorsitzenden Frauke Petry schon nach rechts ging. Ich habe damals ernsthaft überlegt, alles hinzuschmeißen. Aber ich habe mich anders entschieden, bin in der Hamburger AfD geblieben. Der Landesverband in Hamburg ist deutlich anders, seriöser, bürgerlicher als etwa die AfD in Sachsen oder Thüringen.
SPIEGEL ONLINE: Das sagen Sie.
Kruse: Wäre der Hamburger Landesverband so rechts wie in Sachsen oder Thüringen, wäre ich längst weg.
SPIEGEL ONLINE: Aber die AfD, auch Ihr Verband, attackiert die Flüchtlingspolitik, pflegt oft einen pauschalisierenden islamfeindlichen Diskurs.
Kruse: Frau Merkel, die CDU, die SPD, die Grünen und die Linken haben uns seit 2015 die Wähler in Scharen zugetrieben. Viele waren Proteststimmen. Die AfD wäre auch ohne eigene Betonung dieser Themen groß geworden, weil die Wähler uns aus Protest gewählt haben - aus Unzufriedenheit über die Politik der Bundesregierung während der Flüchtlingskrise 2015 und der damaligen Opposition im Bundestag, die noch unkritischer war als die Regierung selbst.

AfD-Politiker Kalbitz, Urban und Höcke in Chemnitz
Foto: Jens Meyer/ APSPIEGEL ONLINE: Der Thüringer Landes- und Fraktionschef Höcke und andere Anhänger des rechten "Flügel" in der Partei gewinnen doch immer mehr an Einfluss.
Kruse: Das ist Ihr Eindruck, dem ich leider schwerlich widersprechen kann. Was sicherlich feststellbar ist, ist, dass bestimmte Personen in der AfD lauter sind als normale bürgerliche Mitglieder. Sodass es durchaus sein kann, dass eigentlich im Westen mehr konservative Mitglieder da sind, diese aber nicht durchdringen. Das ist zumindest meine Hoffnung.
SPIEGEL ONLINE: Aber Herr Gauland, ein Westdeutscher, hält schützend seine Hand über den Thüringer Landeschef Höcke, der ebenfalls ein Westdeutscher ist. Auch der brandenburgische Landeschef Kalbitz, ebenfalls ein Westdeutscher, sitzt jetzt im Bundesvorstand.
Kruse: Ja, aber sie sind seit Langem im Osten tätig. Ich habe Herrn Gauland wiederholt darauf angesprochen, dass mit Vertretern wie Höcke und anderen die AfD immer weiter nach rechts rutscht und eines Tages nicht mehr wählbar sein wird. Angesichts unserer deutschen Vergangenheit wird eine Partei, wie sie Herrn Höcke und Herrn Kalbitz vorschweben mag, keine Chance in diesem Land haben. Zumindest keine, mit der sie irgendwann auch einmal in eine Regierung eintritt.

Damaliger AfD-Chef Lucke und Kruse im Februar 2015
Foto: Malte Christians/ dpaSPIEGEL ONLINE: Sind Herr Höcke und Herr Kalbitz für Sie Rechtsextreme?
Kruse: Ich sage es bewusst vorsichtig - mir wurde kürzlich in einer ZDF-Sendung eine Rede von Kalbitz auf dem Kyffhäuser-Treffen vorgespielt, zudem habe ich eine Passage aus dem neuen Buch von Herrn Höcke gelesen. Beides war Nazi-Sprech. Das macht zwar die Personen selbst noch nicht zu Nazis. Aber in dem Buch von Höcke gibt es Passagen, die völkisches Denken zeigen, antidemokratisch und für mich völlig indiskutabel sind. Mit so jemanden möchte ich eigentlich nicht in der Partei sein, aber ich will Höcke und seinen Anhängern auch nicht so einfach das Feld überlassen.
SPIEGEL ONLINE: In den ostdeutschen Ländern liegt die AfD in Umfragen fast überall bei über 20 Prozent, ist also erfolgreich. Wird sie bald koalitionsfähig?
Kruse: Ich sehe nicht, dass irgendjemand unsere Nähe sucht, schon gar nicht nach Chemnitz. Wer in der CDU mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt würde, wäre ein politischer Selbstmörder und würde die CDU zerreißen. Außerdem hätte die AfD im Osten - so zumindest mein Eindruck - gar nicht genügend Personal, um die Ministerplätze und Ministeriumsposten mit fähigen Leuten zu besetzen.