Sicherheitslage in Afghanistan Böll-Stiftung zieht Direktorin aus Kabul ab

Afghanischer Soldat östlich von Kabul: Instabile Lage, düstere Prognosen
Foto: Rahmat Gul/ APBerlin/Kabul - Die Heinrich-Böll-Stiftung zieht wegen der prekären Sicherheitslage in Afghanistan ihre deutsche Direktorin Marion Regina Müller aus der Hauptstadt Kabul ab. Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE will die Stiftung ab Anfang 2013 ihre Arbeit am Hindukusch nur noch aus Berlin koordinieren. Die "ohnehin instabile Sicherheitslage" habe sich "seit der Bekanntgabe des Abzugs der internationalen Truppen bis 2014" weiter verschärft, deswegen sei die "Gefahr für die deutsche Büroleitung nicht mehr kalkulierbar", heißt es in einer kürzlich versandten E-Mail des zuständigen Vorstandsmitglieds der Stiftung. Die Organisation steht den Grünen nahe und hat Büros in vielen Ländern.
Die aktuelle Lagebeschreibung liest sich düster. Demnach könne man aus Sicht der Stiftung "keine Garantie mehr für die Sicherheit der deutschen Büroleiterin übernehmen". Schon seit längerem sei die Bewegungsfreiheit des internationalen Personals "extrem eingeschränkt", selbst für die afghanischen Mitarbeiter seien Projekte in den Provinzen Afghanistans "nicht mehr zugänglich".
Zwar betont die Stiftung, dass man sich nicht komplett aus Afghanistan zurückziehe. Vielmehr werde die Direktorin Marion Regina Müller ab 2013 die Arbeit von Berlin aus koordinieren und auch weiterhin regelmäßig nach Afghanistan reisen. Dort arbeitet eine Handvoll Afghanen für die Stiftung, sie sollen weiterbeschäftigt werden.
Gleichwohl illustriert der Abzug der deutschen Direktorin aus Afghanistan, wie unsicher das Umfeld in Kabul mittlerweile ist. Die Böll-Stiftung fördert am Hindukusch seit Jahren vor allem Bildungsprojekte für die Zivilbevölkerung in entlegenen Regionen und unterstützt Programme zur Förderung von Frauenrechten. Dieses Engagement will die Organisation fortsetzen, es gebe in der Zivilgesellschaft "eine große Nachfrage, die wir mit großer Sorgfalt aufgreifen". Daneben will die Stiftung in den kommenden Jahren "das deutsche und internationale Engagement nach dem Truppenabzug beobachten und kritisch begleiten".
Ende der zivilen Aufbauarbeit
Bisher hatte die Böll-Stiftung mitten in Kabul ein Büro unterhalten, das von afghanischen Sicherheitsleuten geschützt wurde, aber im Gegensatz zu anderen Einrichtungen noch immer einen offenen Charakter hatte. In ihrer Begründung für den Abzug der Direktorin schreibt die Stiftung, man müsse aktuell "einen nicht unbeträchtlichen Teil" des Programmbudgets für Sicherheitsmaßnahmen ausgeben. Wegen der Erosion der Lage aber dürfe man nun nicht mehr "unterschätzen, dass die Anwesenheit internationalen Personals unter Umständen auch das Risiko für die afghanischen Mitarbeiter/innen erhöhen kann", heißt es in der E-Mail.
Die Veränderung bei der deutschen Stiftung unterstreicht Befürchtungen von afghanischen Menschenrechtlern, die nach dem Abzug der internationalen Truppen bis Ende 2014 auch das Ende der zivilen Aufbauarbeit der internationalen Staatengemeinschaft prophezeien. Zwar versprechen die Nato-Staaten, dass man den Afghanen auch nach dem Rückzug der Soldaten helfen werde. Bei einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage aber würden viele zivile Organisationen wie die Böll-Stiftung schlicht keine andere Wahl haben, als sich zurückzuziehen. Schon jetzt arbeiten sie in Afghanistan aus Büros hinter hohen Mauern und trauen sich nur selten aus ihren geschützten Gebäuden hinaus.
Die Nato will ihre Soldaten bis Ende 2014 schrittweise aus Afghanistan abziehen, am Dienstag wollen die Verteidigungsminister der Allianz diesen Rückzug bei einem Treffen in Brüssel weiter konkretisieren. Bis dahin konzentriert sich die Allianz voll auf die Ausbildung der afghanischen Armee, die dann die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernehmen soll. Auch wenn man mittlerweile rund 300.000 Rekruten rudimentär geschult und ausgerüstet hat, gibt es an der Leistungs- und Durchhaltefähigkeit der Afghan National Arm (ANA) massive Zweifel. In den letzten Monaten machte sie eher durch spektakuläre Angriffe von Rekruten gegen die ausländischen Partner Schlagzeilen als mit erfolgreichen Operationen.
Auch wenn es keiner der verantwortlichen Politiker derzeit ausspricht, werden auch nach dem angepeilten Abzug rund 35.000 ausländische Soldaten am Hindukusch präsent sein. Sie sollen den Aufbau der afghanischen Armee weiter begleiten und die Jagd nach Kommandeuren der Taliban fortsetzen. Der Bundesnachrichtendienst (BND) analysierte kürzlich, dass abseits von US-GIs noch rund 10.000 weitere Soldaten nach 2014 gebraucht würden. Würde sich Deutschland wie bisher im Konzert der Nato-Staaten engagieren, müsste Berlin für die Post-2014-Phase ein Kontingent von 1500 bis 2000 Mann stellen. Auch das sagt in Berlin niemand öffentlich, da es die Abzugsperspektive der Bundesregierung als Wahlkampfversprechen entlarven würde.
"Reale Gefahr, dass Regime kollabiert"
Am Montag veröffentlichte eine der angesehensten Analystengruppen eine Studie über die Zukunft Afghanistans, die nicht weniger pessimistisch ausfällt. Laut dem Bericht der International Crisis Group drohe der afghanischen Regierung nach dem Abzug der internationalen Truppen ein Scheitern. Dies gelte besonders, wenn die Präsidentschaftswahlen, die für 2014 angesetzt sind, wie der letzte Urnengang erneut unter Fälschungsverdacht stünden. "Es besteht eine reale Gefahr, dass das Regime in Kabul beim Rückzug der Nato kollabiert", so die Studie der Afghanistan-Expertin Candace Rondeaux. Die Organisation forderte von der Staatengemeinschaft ein schnelles Handeln, denn "das Fenster für Gegenmaßnahmen schließt sich sehr schnell".
Neben Zweifeln an der Effizienz der Sicherheitskräfte nimmt die Studie den amtierenden Präsidenten Hamid Karzai scharf ins Visier. Dieser scheine "mehr daran interessiert, seine eigene Macht mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten, als die Glaubwürdigkeit des politischen Systems und die langfristige Stabilität des Landes zu sichern". Es bestehe die Gefahr, dass der Staatschef den Ausnahmezustand erkläre - was zu einem Bürgerkrieg führen könne. Mit der Kritik an Karzai steht die Crisis Group nicht allein. Auch in dem geheimen BND-Bericht, den der Dienst kürzlich der Bundesregierung vorlegte, wurden dem Paschtunen vorgehalten, dass die von ihm immer wieder versprochenen Reformen reine "Absichtserklärungen" bleiben würden.